Das Eigenrecht der Geschichte

PDF der Druckfassung aus Sezession 97/ August 2020

Erik Lehnert

Erik Lehnert ist promovierter Philosoph.

Für wen es noch eines Bewei­ses bedurf­te, daß die Black-Lives-Mat­ter-Bewe­gung das Poten­ti­al hat, die Ver­gan­gen­heits­be­wäl­ti­gung auf neue patho­lo­gi­sche Höhe­punk­te zu füh­ren, war mit einer Ber­li­ner Pos­se gut bedient. Dort war die Moh­ren­stra­ße in der Mit­te Ber­lins lin­ken Akti­vis­ten schon lan­ge ein Dorn im Auge, weil die Benen­nung ihrer Auf­fas­sung nach ras­sis­tisch sei (was sie nicht ist). Schwel­te die Debat­te bis dahin gemüt­lich in den Feuil­le­tons, kam durch BLM auf ein­mal Bewe­gung in die Sache: Die Rufe nach Umbe­nen­nung wur­den wie­der lau­ter. Die Ber­li­ner Ver­kehrs­be­trie­be presch­ten vor: Wenn schon nicht den Stra­ßen­na­men, so könn­te man wenigs­tens die gleich­na­mi­ge U‑Bahn-Sta­ti­on umbe­nen­nen, aller­dings nicht in Geor­ge-Floyd-Stra­ße, son­dern in Glin­ka­stra­ße. Glin­ka, ein rus­si­scher Kom­po­nist, der lan­ge in Ber­lin leb­te und dort starb, bot sich an, weil unweit der Moh­ren­stra­ße die Glin­ka­stra­ße verläuft.
Aller­dings: Nur weil Glin­ka kein Deut­scher war, hat er noch lan­ge kei­ne rei­ne Wes­te. Die Tugend­wäch­ter gru­ben bald aus, daß sei­ne Oper Iwan Sus­sa­nin natio­na­lis­tisch, sein Hel­den­epos Fürst Cholm­skij anti­se­mi­tisch sei. Damit hat­te sich die Anbie­de­rei der BVG, die sich schon seit Jah­ren in einer Wer­be­kam­pa­gne als beson­ders hip und mul­ti­kul­tu­rell ver­kauft, als Rohr­kre­pie­rer erwie­sen. Oben­drein wur­de sie dann noch von der zustän­di­gen Sena­to­rin zurück­ge­pfif­fen, aller­dings erst nach­dem die Ent­hül­lun­gen über Glin­ka in der Pres­se die Run­de gemacht hat­ten. So bleibt uns die Moh­ren­stra­ße noch eine Zeit­lang erhal­ten, und dem Umbe­nen­nungs­fu­ror gehen die Opfer nicht aus.
Auch wenn die­ser vor­aus­ei­len­de Gehor­sam von Fir­men und Insti­tu­tio­nen gegen­über ver­meint­lich fort­schritt­li­chen For­de­run­gen aus der Zivil­ge­sell­schaft mitt­ler­wei­le All­tag ist, kann ein Blick auf die Grün­de im Hin­blick auf die gegen­wär­ti­gen Bedin­gun­gen der Ver­gan­gen­heits­be­wäl­ti­gung auf­schluß­reich sein. Der Frei­bur­ger His­to­ri­ker Wolf­gang Rein­hard (Jg. 1937) hat Ende Juni der FAZ ein erhel­len­des Inter­view zu die­sen Fra­gen gege­ben, das in einer Zeit wie der uns­ri­gen als eine muti­ge Wort­mel­dung gel­ten muß. Die­sen Mut braucht es mitt­ler­wei­le nicht nur gegen­über dem Main­stream, son­dern zuneh­mend auch den­je­ni­gen gegen­über, die sich als Alter­na­ti­ve dazu emp­fin­den und in den letz­ten Jah­ren zu oft als Ver­lie­rer aus der Are­na der Geschichts­po­li­tik gehen muß­ten. Rein­hards Äuße­run­gen zur aktu­el­len Debat­te, die von den Inter­view­ern kaum pro­ble­ma­ti­siert wer­den, las­sen sich auf acht The­sen zurück­füh­ren. Die meis­ten die­ser The­sen dürf­ten unse­ren Lesern bekannt vor­kom­men, da sie in den Debat­ten der letz­ten drei­ßig Jah­re bereits mehr­fach eine Rol­le gespielt haben.
The­se 1: »Man kann alles ver­glei­chen.« – Die­se The­se müß­te eigent­lich schon einem Grund­schü­ler als Bin­sen­weis­heit vor­kom­men, da dort ver­mut­lich jeder irgend­wann ein­mal gelernt hat, daß Ver­glei­chen bedeu­tet, Gemein­sam­kei­ten und Unter­schie­de fest­zu­stel­len. So wenig sinn­voll es ist, einen Regen­wurm mit einer Büro­klam­mer zu ver­glei­chen, so sinn­voll kann es sein, wie Rein­hard zeigt, die gesell­schafts­po­li­ti­schen Bedin­gun­gen in Isra­el mit denen im Süd­afri­ka der Apart­heid zu ver­glei­chen. Die ein­fa­che Defi­ni­ti­on des Ver­gleichs ist aller­dings einem Kon­zept gewi­chen, das dar­un­ter ent­we­der Gleich­ma­chen oder Auf­rech­nen ver­steht. Das Ver­gleichs­ver­bot lei­tet sich in Deutsch­land aus der Ein­zig­ar­tig­keit des Holo­caust ab. Egon Flaig hat vor vie­len Jah­ren dar­auf hin­ge­wie­sen, daß alles ein­zig­ar­tig sei. Um das zu illus­trie­ren, ver­stieg er sich damals dazu, den Rotz in sei­nem Taschen­tuch für eben­so ein­zig­ar­tig zu erklä­ren wie den Holo­caust. Daß Ver­glei­che pie­tät­los sein kön­nen, steht außer Fra­ge, aber Pie­tät hat dort nichts zu suchen, wo logi­sche Struk­tu­ren am ver­meint­li­chen Dog­ma ver­an­schau­licht wer­den sollen.

The­se 2: »Ich wür­de die deut­sche Erin­ne­rungs­kul­tur als Erin­ne­rungs­zwang defi­nie­ren.« – Spä­tes­tens seit Josch­ka Fischer die Erin­ne­rung an den Holo­caust als den Boden und die Basis bezeich­ne­te, auf der das wie­der­ver­ei­nig­te Deutsch­land beru­he, ist der Zwang zur Erin­ne­rung zur Staats­rä­son erho­ben wor­den. Damit ist ein zwang­haf­tes Leben­dig­hal­ten der Erin­ne­rung gemeint, der die Han­deln­den in der Gegen­wart unter­wor­fen blei­ben. Die­ser Zwang wird damit begrün­det, daß so etwas nie wie­der pas­sie­ren dür­fe, wovor nur die ste­ti­ge Erin­ne­rung schüt­ze. Über die patho­lo­gi­schen Fol­gen die­ser Fixie­rung kann man unter­schied­li­cher Auf­fas­sung sein; aller­dings wird durch das Ver­ges­sens­ver­bot der nach­fol­gen­den Gene­ra­ti­on die Mög­lich­keit genom­men, unvor­ein­ge­nom­men die Pro­ble­me der Gegen­wart anzu­ge­hen. Sie steht unter Gene­ral­ver­dacht und muß sich, mitt­ler­wei­le immer offen­si­ver und öffent­li­cher, dem Zwang unter­wer­fen. Das Erin­nern ist in jedem Land ein wich­ti­ger Aspekt der Geschichts­po­li­tik, aller­dings steht er in ande­ren Län­dern nicht unter Zwang und rich­tet sich nicht gegen die eige­ne Nation.

 

The­se 3: Weil Kol­lek­ti­ve sich nicht ent­schul­di­gen kön­nen, »ist der Ent­schul­di­gungs­zwang ein fau­ler Zau­ber.« – Die Pflicht zur Ent­schul­di­gung beschränkt sich nicht nur auf Deutsch­land, son­dern hat sich laut Her­mann Lüb­be welt­weit als poli­ti­sches Buß­ri­tu­al eta­bliert. Es hat sich mitt­ler­wei­le sogar außer­halb des christ­li­chen Kul­tur­krei­ses, wo tra­di­tio­nell der Scham vor der Schuld der Vor­zug gege­ben wird, durch­set­zen kön­nen und ist ein fes­ter Bestand­teil inter­na­tio­na­ler Bezie­hun­gen gewor­den. Der Erfolg die­ses Instru­ments läßt sich nicht allein aus dem deut­schen Bei­spiel ablei­ten, son­dern liegt im Vor­gang selbst. Durch die Ent­schul­di­gung schafft sich der Ent­schul­di­gen­de einen mora­li­schen Vor­teil, der dar­über hin­weg­se­hen läßt, daß aus die­ser Ent­schul­di­gung kon­kret nichts fol­gen kann, weil Schuld eine indi­vi­du­el­le und kei­ne poli­ti­sche Kate­go­rie ist. Selbst wo Schuld ist, ändert die Ent­schul­di­gung nicht nur nichts an den Fol­gen, son­dern ver­deckt die in der mensch­li­chen Natur lie­gen­den Ursa­chen. Hin­zu kommt, daß mit dem Ent­schul­dungs­ri­tu­al ein Fort­schritt gegen­über der Ver­gan­gen­heit sug­ge­riert wird, auf die sich der Schuld­vor­wurf bezieht. Max Weber hat am Ende des Ers­ten Welt­krie­ges dar­auf hin­ge­wie­sen, daß Schuld im Poli­ti­schen ver­hin­de­re, daß der Krieg mit dem Frie­den auch wirk­lich been­det sei.

 

The­se 4: »Ich wür­de schon sagen, dass es so etwas wie Ras­se gibt.« – Obwohl Rein­hard die­se Aus­sa­ge ein­schränkt, indem er das nicht im pri­mi­ti­ven Sin­ne der »Nazis« ver­stan­den wis­sen möch­te, son­dern dar­auf abhebt, daß es Popu­la­tio­nen gibt, die phä­no­ty­pi­sche Merk­ma­le über Gene­ra­tio­nen hin­weg gemein­sam haben, könn­te er spä­tes­tens jetzt vom Ver­fas­sungs­schutz als Ver­dachts­fall unter Beob­ach­tung gestellt wer­den: Man ver­steht dort näm­lich die Gleich­heit aller Men­schen wört­lich. Dabei ist die Ein­sicht, daß es Unter­schie­de zwi­schen den Men­schen gebe, banal, weil es offen­sicht­lich ist. Die­se Unter­schie­de sind immer bemerkt wor­den, sobald ver­schie­de­ne »Eth­ni­en« mit­ein­an­der in Kon­takt kamen. Das Para­do­xon, daß es einer­seits kei­ner­lei Ras­sen mehr geben soll und ande­rer­seits aber ganz viel struk­tu­rel­len Ras­sis­mus gibt, läßt sich im Hin­blick auf die sozio­lo­gi­schen Bedin­gun­gen der west­li­chen Zivi­li­sa­tio­nen leicht erhel­len. »Ras­sis­mus« ist eine Chif­fre für alles gewor­den, was der völ­li­gen Auf­lö­sung aller Din­ge entgegensteht.

 

The­se 5: »Jeder hält sei­ne eige­ne Grup­pe für bes­ser als die der ande­ren. Das muss sogar so sein, sonst könn­ten wir gar nicht leben.« – Es ist nicht egal, wer ich bin und zu wem ich gehö­re, son­dern ich defi­nie­re mich über mei­ne Grup­pe, weil sie mich schützt und mir Iden­ti­tät ver­leiht. Die Not­wen­dig­keit, die eige­ne Grup­pe höher zu schät­zen als ande­re, ergibt sich aus der schlich­ten Tat­sa­che, daß sie mei­ne ist. Der zuneh­men­den Infra­ge­stel­lung die­ser Selbst­ver­ständ­lich­keit ist vor mehr als fünf­zig Jah­ren Arnold Geh­len mit sei­nem Buch Moral und Hyper­mo­ral ent­ge­gen­ge­tre­ten, indem er dort den Zusam­men­hang zwi­schen Huma­ni­ta­ris­mus (»Wohl­stands­den­ken und Femi­nis­mus«) und Nie­der­gang kul­tu­rel­ler Ver­bind­lich­kei­ten auf­zeig­te. Die Indi­vi­du­en sind auf Pri­vat­in­ter­es­sen zurück­ge­wor­fen, was sie zur leich­ten Beu­te weni­ger indi­vi­du­ell ori­en­tier­ter Grup­pen wer­den läßt.

 

The­se 6: »Jeder will Opfer sein, aber die ande­ren sol­len es nicht sein dür­fen.« – Hier­bei sind zwei Aspek­te wich­tig. Zum einen der Bedeu­tungs­wan­del des Wor­tes Opfer, von einem Opfer, das man bringt, hin zu einem Opfer, das man ist. Zum ande­ren die Wert­schät­zung die­ses pas­si­ven Opfer­sta­tus’, die in der welt­wei­ten »Sor­ge um die Opfer« (René Girard) grün­det. Die­se Sor­ge hat ande­ren Abso­lut­hei­ten der Ver­gan­gen­heit wie Nati­on, Klas­se oder Ratio­na­li­tät Platz machen müs­sen. Bei der Kon­kur­renz um den Sta­tus als Opfer ste­hen ins­be­son­de­re die Juden im Fokus, die inner­halb der Opfer­hier­ar­chie den ers­ten Platz für sich bean­spru­chen. Der deut­schis­rae­li­sche His­to­ri­ker Dan Diner äußer­te schon vor vie­len Jah­ren die Ver­mu­tung, daß die »zuneh­mend selbst­be­wußt sich arti­ku­lie­ren­den Erin­ne­run­gen der kolo­nia­len Opfer der über­see­ischen euro­päi­schen Expan­si­on« gleich­be­rech­tigt neben die für den Wes­ten »gel­ten­den Erin­ne­run­gen an den Zwei­ten Welt­krieg mit dem Holo­caust als Gedächt­nis­kern« tre­ten würden.

 

The­se 7: »Heut­zu­ta­ge besteht die Bedeu­tung von Geschich­te in der Geschich­te von Bedeu­tung.« – Geschich­te hat sich vom kon­kre­ten Gesche­hen abge­löst und erschöpft sich in der Bedeu­tung des Gesche­hens für die jewei­li­ge Gegen­wart. Der Nach­voll­zug des Gesche­hens und das Ver­ste­hen der Zusam­men­hän­ge tritt hin­ter die ver­gan­gen­heits­po­li­ti­sche Bewirt­schaf­tung der Geschich­te zurück. Wer sich an Fak­ten hält, wird sich den Vor­wurf gefal­len las­sen müs­sen, daß er der Bewer­tung die­ser Fak­ten im Hin­blick auf die Gegen­wart nicht gerecht gewor­den ist. Die Bedeu­tung der Din­ge ist wich­ti­ger als die Din­ge selbst, was sei­ne Par­al­le­le in dem Kult um die Kom­pe­tenz fin­det, die man ohne Detail­wis­sen haben kann. Die Kom­pe­tenz der His­to­ri­ker besteht dann dar­in, die Geschich­te an den aktu­el­len Vor­ga­ben zu mes­sen. Rein­hard plä­diert dage­gen für ein »zurück zu den Quellen«.

 

The­se 8: »Es könn­te sein, dass die Erin­ne­rungs­kul­tur umschlägt und man nicht mehr erin­ne­rungs­kul­ti­viert wer­den will.« – Rein­hard macht die­se Aus­sa­ge an der Rol­le der AfD fest, deren ver­meint­li­cher Erfolg mit geschichts­po­li­ti­schen Tabu­brü­chen mög­li­cher­wei­se aus einer Über­kom­pen­sa­ti­on der Opfer­rol­le folgt. Die Fra­ge nach der Über­kom­pen­sa­ti­on ist nicht neu. Es ist nahe­lie­gend, daß es irgend­wann ein­mal reicht, daß die Absur­di­tä­ten nicht mehr akzep­tiert wer­den und man sich nach einer Nor­ma­li­sie­rung sehnt. Gibt es Indi­zi­en dafür? Bis auf eini­ge Aus­rut­scher, wie zum Bei­spiel das Inter­view Rein­hards, gibt es dafür kei­ne Anhalts­punk­te. Es ist im Hin­blick auf die Debat­ten der Ver­gan­gen­heit nicht unwich­tig fest­zu­stel­len, daß sie sich in einem immer rigi­de­ren Kli­ma abspie­len. Die Debat­ten dre­hen sich im Krei­se, aller­dings in Form einer Spi­ra­le, die sich stru­del­ar­tig ver­engt und immer schnel­ler dreht.

 

In der Sum­me han­delt es sich bei den Aus­sa­gen von Rein­hard also um The­sen, die lan­ge als völ­lig nor­mal ange­se­hen und erst in den letz­ten Jahr­zehn­ten abge­räumt wur­den. Streng­ge­nom­men ist Rein­hard heu­te ein Fall für den Ver­fas­sungs­schutz, jeden­falls in sei­ner gegen­wär­ti­gen Form. Wer dem Ver­gleich das Wort redet, Ras­sen als Rea­li­tät ansieht und Isra­el nicht an sei­nem Sta­tus als mora­li­sche Kon­se­quenz des­Zwei­ten Welt­kriegs, son­dern an sei­ner gesell­schaft­li­chen Rea­li­tät mißt, ver­stößt gegen vie­les, was der Ver­fas­sungs­schutz gegen Kri­tik immu­ni­siert hat. Daß der Skan­dal in die­sem Fall aus­ge­blie­ben ist, dürf­te zum einen mit einem Lern­ef­fekt der Öffent­lich­keit zusam­men­hän­gen: Wenn man bestimm­te Äuße­run­gen skan­da­li­siert, lädt man sie mit Bedeu­tung auf; zum ande­ren wur­de kein Poli­ti­ker, son­dern ein Wis­sen­schaft­ler inter­viewt, und denen wird selbst im gegen­wär­ti­gen Deutsch­land eine grö­ße­re Frei­heit zuge­stan­den als ande­ren Betei­lig­ten am öffent­li­chen Diskurs.

Das Ver­hält­nis zur Geschich­te war für den Men­schen immer eines, das durch die Gegen­wart geprägt ist. Die Nei­gung, gegen­wär­ti­ge Bedürf­nis­se auf Kos­ten der Geschich­te aus­zu­le­ben, ist so alt wie die Geschichts­schrei­bung selbst. Schon im Alter­tum hat es so etwas wie eine mora­li­sche Geschichts­schrei­bung gege­ben, die durch Über­zeich­nung oder Idea­li­sie­rung von his­to­ri­schen Gege­ben­hei­ten bei den Zeit­ge­nos­sen eine erwünsch­te Reak­ti­on her­vor­ru­fen woll­te. Ein Ver­such, die­se Kon­stel­la­ti­on zu über­win­den, war die rela­ti­vis­ti­sche Geschichts­schrei­bung, die vor­gibt, kei­nen eige­nen Stand­ort und kei­ne eige­nen Inter­es­sen zu haben, son­dern alles in Rela­ti­on zuein­an­der zu stel­len. Wenn die­se Art der Geschichts­schrei­bung frü­her Natio­na­lis­ten ein Dorn im Auge war, so ist sie es heu­te den Uni­ver­sa­lis­ten, die einer uni­ver­sa­len Gleich­heits­ideo­lo­gie anhängen.

Offen­sicht­lich ist die Gegen­wart nicht mehr in der Lage, der Geschich­te ein Eigen­recht zuzu­ge­ste­hen. Die gegen­wär­ti­ge Bil­der­stür­me­rei hat jeg­li­che Dif­fe­ren­zie­rung hin­ter sich gelas­sen und offen­bart damit die tota­li­tä­re Agen­da, die hin­ter einer Bewe­gung wie Black Lives Mat­ter steht. Die Tat­sa­che, daß ande­re Zei­ten ande­re Tugen­den und Wer­te in den Mit­tel­punkt stell­ten, ist für sie eine uner­träg­li­che Dis­kri­mi­nie­rung ihrer Bedürf­nis­se. Egal zu wel­chen Zei­ten Denk­mä­ler abge­räumt wur­den, weil sie fal­schen Per­so­nen oder fal­schen Prin­zi­pi­en gewid­met waren, eines hat die­se Bil­der­stür­me­rei immer aus­ge­zeich­net: eine geschichts­lo­se Ver­göt­te­rung der Gegen­wart, die sich meist in häß­li­chen Sze­nen nihi­lis­ti­scher Gewalt nie­der­schlug. Wie Rein­hard sagt: »Geschich­te ist immer schmutzig«.

Nietz­sche hat­te ver­sucht die­ses Pro­blem dadurch zu lösen, daß er der His­to­rie drei Auf­ga­ben zuschrieb: das Her­aus­stel­len des Bei­spiel­haf­ten, das Bewah­ren der Tra­di­ti­on und das kri­ti­sche Hin­ter­fra­gen der Ver­gan­gen­heit. So sehr er den Wert der ein­zel­nen Aspek­te beton­te, sah er doch zugleich, daß die Über­be­to­nung eines ein­zel­nen Teils zu gefähr­li­chen Ver­schie­bun­gen füh­ren müs­se. Auch ihm war klar, daß Geschich­te kei­ne exak­te Wis­sen­schaft sein kön­ne, denn sie ste­he im Diens­te des Lebens, einer his­to­ri­schen Macht. »Die Fra­ge aber, bis zu wel­chem Gra­de das Leben den Dienst der His­to­rie über­haupt brau­che, ist eine der höchs­ten Fra­gen und Sor­gen in betreff der Gesund­heit eines Men­schen, eines Vol­kes, einer Kul­tur. Denn bei einem gewis­sen Über­maß der­sel­ben zer­brö­ckelt und ent­ar­tet das Leben, und zuletzt auch wie­der, durch die­se Ent­ar­tung, selbst die His­to­rie.« Das ist nun ein Satz, der mit den gegen­wär­ti­gen Ver­wer­fun­gen als bewie­sen gel­ten dürfte.

Erik Lehnert

Erik Lehnert ist promovierter Philosoph.

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