Wenn ich als Angehöriger der Grenztruppen der DDR im letzten Kapitel des Kalten Krieges über die Elbe nach Westen sah, dachte ich: Das dort drüben ist nicht nur das größere und mächtigere, sondern vor allem das alte, das geschichtlich so reiche Deutschland, staufischer, ja karolingischer Boden. Nicht ein besseres, nicht ein anderes Land, sondern das so vielgestaltige, jedoch nur gemeinsam aufzufassende Reich, einig im Verschiedenen.
Divers, wie man heute wohl sagen würde, vielfarbig in seinen Territorien, dabei aber eines. Das heilige Deutschland, ja. Ich meinte, das bei den Blicken über die Elbe tief nachfühlen zu können, schon weil ich mich deutscher Kultur und Sprache wahrlich identitär nicht nur verbunden fühlte, sondern ohne dieses Erbe für mich selbst nicht zu denken war. Das alles war und ist mir viel wichtiger als jede gerade zeitweise herrschende Staatsform hüben wie drüben.
Die Regierungsformen und Staatsauffassungen kamen und gingen; es blieben die Sprache und die in sich vielfältige, dabei aber deutschidentitäre Kultur, Literatur, Philosophie, Wissenschaft. Es blieb die große Schicksalsgemeinschaft, die in der Mitte Europas ihre Heimat hatte und dort ihre Katastrophen durchlitt und ihre Chancen wahrnahm. Man muß kein Romantiker sein, um Deutschland zu lieben; man darf es durchaus als Realist.
Obgleich bewaffnet an dieser seltsam unheimlichen inneren Grenze stehend, war mir selbstverständlich, daß ich innerlich mit meinem Denken und Fühlen zum ganzen Deutschland gehörte. Gar keine Frage. Eher hatte ich die Wahrnehmung, die da drüben würden es vielleicht anders sehen und uns hier als eine ausgeschlossene Ab- oder Unterart empfinden, schon weil sie sich demokratischer und freier wähnten und offenbar reicher waren als wir.
Nur vier Jahre nach meiner Entlassung aus den Grenztruppen gab es keine Grenze mehr. 1990 schwamm ich im späten Frühjahr durch die Elbe, also durch das einstige Schußfeld. Das habe ich öfter wiederholt. Wenn man aus dem Buhnenfeld heraus war, etwa im Winkel von dreißig Grad kräftig gegen den Strom dieses Schicksalsflusses ankraulen, dann kam man scheinbar gerade hinüber.
Viele von uns erwarteten, in Deutschland anzukommen, als uns die Geschichte – Uns Verlierer? – eingeholt hatte; allerdings stellten sich im Laufe der Jahre Zweifel ein, so daß es nicht verwunderte, würde Deutschland heute nur noch als apostrophierter Begriff gestattet sein oder etwa in der Weise als bloßer Wohnort verstanden, wie sich das deutsche Volk neuerdings auf die Bevölkerung reduzieren soll.
Die Abschaffung der D‑Markt, dieses starken Symbols, und die Einführung des Euro erschien vielen meiner ostdeutschen Landsleute ganz zu Recht als unheilvolles Menetekel, einerlei, wie oft ihnen vorgerechnet wurde, wir wären genau damit alle die Gewinner.
Ja, wir wissen um die Hintergründe, insbesondere um die von Frankreich gestellten Bedingungen, wir wissen, wie über die EZB-Politik der Süden von uns ausgehalten wird; aber allein der Verlust der alten Geldschein-Motive offenbarte den Sieg des Allgemeinen über das Besondere, des Quantitativen über das Qualitative.
Die offizielle Bundesrepublik, von der Bonner in die Berliner Variante gewandelt und sich moderner, „weltoffener“ und durch und durch geschichtsgeläutert gebend, wollte erst weniger, dann aber gar nicht mehr anknüpfen an das, was die Nation historisch, kulturell oder mindestens noch wirtschaftlich und politisch ausgemacht hatte. Sie ekelte sich vor dem einstigen Vaterland.
Geltung hatten noch das Hambacher Fest, die Paulskirche, vielleicht Teile der Weimarer Verfassung, also die mürben liberalen Ansätze dessen, was man im neuen Berlin dann ausgeformt wähnte; fast alles andere, sogar umfangreiche Bereiche des Geistesgeschichte, darunter selbst Kant, galten als kontaminiert und hatten daher nachrepariert, ummontiert und anders deklariert zu werden.
Es kam den Bestimmern der Leitlinien erst dezent nachdenklich, dann aber bis ins Fanatische gesteigert darauf an, rundweg mit allem zu brechen, was noch als national aufzufassen wäre. Deutschland sollte in etwas Größerem, vermeintlich Besserem verdünnt aufgehen, in „Europa“ mindestens, aber gleichfalls in einer Weltgemeinschaft und Weltbürgerschaft. Deutschland sollte nur eines gefälligst gar nicht mehr sein: Deutschland.
Was immer die DDR, dieses seltsame an den Ostblock verlorene Kind des Kalten Krieges, nun genau gewesen sein mochte – antinational war sie gerade nicht. Auf ihre Weise wollte sie sogar als die deutsche Nation gelten.
Es hieß nach der Wende ferner, wir Ostler hätten uns jetzt auf eine Leistungsgesellschaft einzustellen, die die Verantwortung für das eigene Glück konsequenterweise der eigenen Kraft übertrüge und so unsere Leistungsbereitschaft voll herausfordere. Risiko und Herausforderung, zu bewältigen in Selbstverantwortung, als Bedingungen der neuen Freiheit. Akzeptabel! Gut so!
Aber nach dramatischen Brüchen, angefangen mit dem Auftreten der Lokatoren und der uns enteignenden Treuhand, fanden wir uns später doch in einer Art Versorgungssozialismus wieder, wie ihn die DDR, selbsterklärt sozialistisch, aus systemimmanenten Mängeln und ihrer weltwirtschaftlich bedingter Blockadesituation nie realisiert bekam und vermutlich so überhaupt nicht realisieren wollte.
Leistungsgesellschaft? Die Berliner Republik versorgte in einer Discount-Variante all die Freigesetzten, Ungebrauchten, Unwilligen und Unbefähigten, bot aber im öffentlichen Dienst, der Selbstversorgungsanstalt des Staates, veritablen Luxus, indem sie dafür öffentliche Mittel in verantwortungslosem Übermaß einsetzte. Allein für den Haushalt des demokratischen Betriebes werden in Berlin und den Landeshauptstädten immense Gelder investiert, auf Kosten der von dort aus Verwalteten.
Schien es in den Neunziger- und Nullerjahren zwar sozialstaatlich, aber als Basis dafür noch einigermaßen wirtschaftsliberal zu laufen, bewerkstelligte eine – Wodurch eigentlich genau verursachte? – Gegensteuerung das Durchsetzen von utopistischen Gerechtigkeitsvorstellungen, die im Sinne einer totalitären Inklusion Forderungen nach Leistung und Anstrengung weitestgehend aufhoben und die schweren Begriffe Wert und Würde so trivial auffaßten, daß jedem ganz ohne eigene Bringeschuld Anrechte auf Lebenskomfort zugestanden wurden.
Es war, als hätte die negative Diskussion um Hartz-IV, die dem pragmatischen Sozialdemokraten Schröder zu dankende Vereinfachung und Beschleunigung, der Verwandlung in eine Gesellschaft Vorschub geleistet, in der alle wieder ein Anrecht auf alles haben.
Insbesondere die Schule, die früher Tugenden wie Fleiß und Selbstüberwindung geradezu als konstitutiv verstand, sollte neuerdings auf alle echten Leistungsanforderungen, straffe Benotung und auf die klassische Dreigliederung verzichten, weil das als diskriminierend zu gelten begann. Leistungsdifferenzierung galt als unwürdige Selektion. Vielmehr sollte jedem alles per se zustehen, denn jeder hatte von vornherein als Talent zu gelten, das allein die Schule, nicht mehr er selbst zu entfalten hatte. Abschlüsse waren also juristisch zu garantieren, als daß sie noch angestrengt erarbeitet werden sollten.
Wer dennoch versagte, wer wenig wollte oder konnte, wurde über die Steuerlast der immer geringeren Zahl an Leistungsträgern alimentiert und ging nach dem Scheitern von amtlich bezahlten Maßnahmekarrieren in einem neuen Proletariat auf, das sich von den permanent sendenden und empfangenden digitalen Medien unterhalten ließ, die völlig irrig als „sozial“ bezeichnet werden. Nichts treibt die Vereinzelung und Entfremdung derzeit so voran wie Digitalisierung. Sie mag rein technisch verbinden, also Sachlichem und Abstrakten dienlich sein; ansonsten trennt sie.
Während wir Alt-Ostler medial mit zwei Ost- und drei West-TV-Programmen aufgewachsen waren und gern Konterbande von Suhrkamp oder Luchterhand erhalten hätten, verloren sich die uns nachwachsenden Generationen – unter ihnen viele Intellektuelle und sowieso die „Gymnasiasten“ – erst an die Quasselei der Privatsender und später an die digital generierten Welten der Netzes. Lifestyle wurde wichtiger, Ernährung, Outfit; es reichte aus, ein Schwätzer zu sein, um als „authentisch“ zu gelten.
Hörte man, daß irgendwas „wahnsinnig spannend“ sei, wußte man, daß man es besser ignorierte.
Mag sein, es wäre uns ebenso gegangen. Mag sein, wir hätten uns gleichfalls fasziniert in den Bann des Virtuellen ziehen lassen, wäre unser Leben nicht so analog tatsachenregiert gewesen. Ebensowenig wie die Abdrift in die Billigunterhaltung hätten wir uns die Adipositas physischer Unbeweglichkeit erlauben können. Jetzt jedoch schien Fitneß nur noch ästhetisch veranlaßt. Etwa zeitgleich mit dem abgeschafften Wehrgedanken und dem Umdenken vom Analogen ins Digitale verödete die gesellschaftliche Vitalität.
Unser Trugschluß: Wir hatten 1989 nicht geahnt, daß wir von einem ideell erschöpften Land übernommen wurden. Offenbar aber sind wir immer noch weniger erschöpft als die Steinmeier-Merkel-Nation. Deswegen regt sich vor allem in Sachsen und Thüringen und sowieso eher im Osten diese seltsame Renitenz gegen die Neu-Ideologisierung des alten Vaterlandes.
Maiordomus
Lieber Herr Bosselmann, auch wenn "authentisch" ein oft missbrauchtes Schlagwort ist, berührt dieser Text noch stärker als jeweils zum Beispiel Ihre bildungspolitischen Ausführungen, mit denen ich aus bildungshistorischer Perspektive so gut wie fast immer übereinstimme. Auch wenn ich Ihre biografischen Details nicht im Einzelnen kenne, frage ich mich im Ernst, wie jemand wie Sie in dem Deutschland, dessen kulturelle Tiefenstrukturen man doch kennen sollte, die Sie selber als geschichtsbewusste Existenzform praktizieren, letztlich ein Aussenseiter werden konnte, und wohl nicht nur wegen spezieller Beziehungen mit dem in herkömmlich ernst genommenen Internet-Quellen fast stets als "rechtsextrem" abgekanzelten Kubitschek, einem der wenigen in Deutschland, mit dem man über Jochen Klepper bis Hans Fallada doch noch qualifiziert diskutieren könnte usw. Ich bedaure, freilich ohne Ihre Praxis im Schulzimmer näher zu kennen, zutiefst, dass Sie nicht eine bedeutende Rolle in dem Ihnen doch grundlegend liegenden pädagogischen Sektor spielen können. Sie hätten wirklich Wertvolles zu bieten, was hier aber nur sehr randständig zum Ausdruck kommt.