Franz Werfel (1890 – 1945) kennt man als Autor des Epos Die vierzig Tage des Musa Dagh (1933), mit dem er sich als Ankläger des Völkermords an den Armeniern für alle Zeiten ein literarisches Denkmal geschaffen hat.
Abiturienten schwitzen über der Novelle Eine blaßblaue Frauenschrift (1940), die den Antisemitismus in Österreich vor dem Anschluß dokumentiert. In der Erzählung Der Tod des Kleinbürgers (1927) sowie zahlreichen anderen Prosastücken widmet er sich dem Elend der in Not geratenen kleinen Leute. Werfels Eintreten für Geächtete und Randgruppen aller Art, sein lebenslanger Pazifismus und Antimilitarismus, sein Niederknien vor der Frau als Hüterin einer höheren Wahrheit, schließlich die Novelle Nicht der Mörder, der Ermordete ist schuldig (1920), welche in vollendeter Schuldumkehr eine ganze Vätergeneration bezichtigt, Stütze niederer Autorität und patriarchalischer Weltordnung und damit verantwortlich für Krieg, Haß und Niedertracht zu sein – in seinen verstreuten Schriften findet sich gar ein »Fragment gegen das Männergeschlecht« – all das macht ihn zur perfekten Projektionsfläche für linke Ideale. War Werfel ein früher Vertreter für Wokeness, avant la lettre?
Nicht verwunderlich, daß diese Art der Interpretation gängige Praxis ist, sieht man doch in Werfel, dem in Prag geborenen böhmischen Juden, dessen Bücher von den Nazis als »Gefährdung öffentlicher Sicherheit und Ordnung« eingestuft und verbrannt wurden, schon qua seiner Herkunft einen Anwalt für die Bedrängten und die Ausgestoßenen. Zu Recht. Und doch widersetzt er sich dem Versuch, in ein vorgestanztes Schema gepreßt zu werden, denn da ist noch eine andere Seite an ihm, die geradezu konträr zu der einen steht: der mystische, der verborgene, der unzeitgemäße Werfel.
Es gilt, hinter dem Schleier aus schulbuchmäßiger Konvention und Mythenbildung einen Dichter zu entdecken, der wie kein anderer seiner Zeit die Gegensätze und die Widersprüche der Moderne und ihrer zentrifugalen Kräfte in sich vereinigt und schmerzhafte Ambivalenzen auszuloten versteht. Beherrschendes Thema seiner Werke: Untergang des Alten – Entfremdungserfahrungen angesichts der Macht des frivol auftretenden Neuen.
Bereits in seinem ersten großen Werk, Verdi. Roman einer Oper (1924), läßt er die Exponenten des anbrechenden Epochenwechsels gegeneinander antreten, indem er den unzeitgemäßen italienischen Maestro der schönen Melodie dem fortschrittlichen Wagner mit seiner atomisierenden Zukunftsmusik gegenüberstellt. Unter dem Vorzeichen des Schwellenübertritts betrachtet Werfel auch den überall in Europa aufkeimenden Nationalismus: nicht als atavistischen Rückfall in überwunden geglaubte Triebregungen, sondern als Ausdruck eines progressistischen Modernisierungsschubs, der in krasser Opposition zum Alten und Angestammten steht. Dieser erschien ihm in seiner Fratzenhaftigkeit wie ein armseliges »Religionssurrogat«. Nationale Identität hingegen war für ihn ein überaus schützenswertes Kulturgut.
Werfel stellte seiner Zeit die gleiche Diagnose aus, die wir mit unserer Welt in Verbindung bringen: eine Periode der Umwälzungen, der Sinn- und Wertauflösung und das damit verbundene Untergangsgefühl. Vor allem sei es der Verlust der Transzendenz, der dazu beitrage, die verhaßte »Realgesinnung« zu erzeugen, die ihrerseits darauf ausgerichtet sei, »das individuelle Bewußtsein zu vernichten, um es durch ein leicht lenkbares Kollektivbewußtsein zu ersetzen«.
Überaus nuancenreich können wir am Personal seiner Dramen und Romane die intellektuellen Zuspitzungen und absurden Verwerfungen mitverfolgen, die exakt die Spiegelung seiner eigenen inneren Vorgänge und Entwicklungen waren. Die geistige und politische Verfaßtheit der Zwischenkriegszeit findet sich am lebendigsten in Werfels autobiographisch gefärbtem Roman Barbara oder die Frömmigkeit (1929) verkörpert.
Im Intellektuellenzirkel der Wiener Boheme des »Café Central« werden alle maßgeblichen Ideen vorgedacht und durchgekaut, deren Früchte uns heute so schwer im Magen liegen. Zu Wort kommen anarchistische Psychoanalytiker, dekadente Apokalyptiker, Sonderlinge jeglicher Couleur, Salonkommunisten und Verteidiger der sexuellen Revolution – Geburtshelfer jener damals subversiven Konzepte, die in unserer Zeit wie selbstverständlich die akademischen und publizistischen Diskurse bestimmen.
Werfel war ein Meister in der Darstellung ideologischer Konflikte. Konsequent schien er dem Vorsatz gefolgt zu sein, Unvereinbares zusammenzubringen. In einer unablässig kreisenden Suchbewegung entwarf er Denkmuster, die er in reiferen Jahren aufs Heftigste bekämpfte. Unüberhörbar seine Kritik der Rationalität unter gleichzeitiger Hervorkehrung der Paradoxie jeglicher Glaubensgewißheit. Nichts verachtete er so sehr wie den modernen Nihilismus in Gestalt des »radikalen Realismus«, der, sowohl im bolschewistischen Rußland wie im demokratischen Amerika, die »Sehnsucht nach einem menschlichen Fertigprodukt« hervorbringe.
Diesem Übel abzuhelfen, hatte er zwei Mittel zur Hand: das »Seher- und Sagertum« der Kunst und der »Innerlichkeit« als Antwort auf »Realgesinnung und Materialismus mit all seinen Unterabteilungen«. Im Christentum fand er die gelungene Symbiose von transzendentaler Strenge und sinnlich-zugewandter Konkretheit. Aufgewachsen im Haus assimilierter Eltern, die ihm eine fromme Katholikin zur Amme gaben, war seine Kindheit geprägt von unverstellter, ursprünglicher Religiosität.
Auch davon erzählt sein Barbara-Roman. Und von der Aufspaltung des dichterischen Ich in ein Gegensatzpaar: Der christliche Protagonist Ferdinand R. liefert sich heißblütige Wortgefechte mit seinem engsten Freund Alfred Engländer. Dieser, ein rebellischer Sohn aus jüdischer Textilfabrikantenfamilie, ist »jesusgläubig«, ohne sich taufen zu lassen, und predigt die endgültige Aussöhnung zwischen Judentum und Christentum. Er sei, betont Engländer, »dem Fleische nach ein Jude, dem Geiste nach ein Christ wie Paulus, der Apostel, den ich verstehe wie mich selbst«.
Ein gängiges Mittel zur Sanierung der Welt und der bestehenden Verhältnisse verwarf Werfel allerdings komplett – die Politik, von der er sich, nach jugendlichen Verirrungen enttäuscht, abwandte. Er hatte während der Wiener Novemberrevolution von 1918 mit den Roten Garden sympathisiert und teilweise am Umsturzversuch mitgewirkt – eine Episode, die ihn aufgrund ihrer Fragwürdigkeit zeit seines Lebens nachhängen sollte. Nein, gerade die Politik und insbesondere staatliche Anmaßung seien es, die auf direktem Wege in den Sumpf des Nihilismus führten.
Ein Schrei nach »Lebenssicherung« durchdringe, so Werfel, die Zentren des modernen Daseins. Das Leben wolle sich gegen das »Nichts sichern, das in ihm selbst wühle«. Dem Risiko des »Ewigen Nichts« solle durch die »Prämie zeitlicher Sicherstellung« begegnet werden. Immer mehr nehme die Idee des Staates das Wesen der »Versicherungsgesellschaften« an. »Die Welt der Reichen ist eine Sanatoriumswelt geworden. Allenthalben wimmelt es von Mystikern der Hygiene, von Yogis der Kosmetik, von Propheten der Verjüngung und von Fakiren des Stoffwechsels«.
Dem Heilsversprechen durch politische Maßnahmen sowie einer gerechten Gesellschaftsordnung erteilte er schon früh eine deutliche Absage, wie er überhaupt jegliche Form des »liberalen Optimismus« verwarf. Die Erwartung, der Staat könne und müsse es richten, machte in seinen Augen aus Menschen »Gläubige der humanistischen Religion«, die sich der »Aktivität« und dem »positivistischen Tumult« verschrieben hätten:
Die scheußlichste Entheiligung des Ichs seit Beginn vielleicht der Weltgeschichte ist die moderne Form der Leibeigenschaft: Der Mensch ist nicht mehr Eigentümer seiner selbst, sondern das Eigentum eines inappellablen Staates, welcher Arbeitgeber und Arbeitswegnehmer, Ernährer oder Hungervogt, Beichtvater, Erzieher, Verderber, Gewissensspitzel, Richter, Staatsanwalt, Verteidiger, Geschworener und Henker in einer Person ist.
Nur einem Grundprinzip galt seine uneingeschränkte Anerkennung: der Offenbarung des »Christusimpulses«. Das Mysterium des Christentums zu durchdringen und literarisch zu verbreiten war fortan seine dringlichste Aufgabe. Kein anderer Dichter hat ein vergleichbares christliches Sendungsbewußtsein an den Tag gelegt wie der jesusgläubige Werfel – zum großen Unmut seiner jüdischen Freunde Max Brod und Franz Kafka.
In der Heiligen Schrift des Alten und Neuen Testaments fand er die ihn bedrängenden Gegensätze benannt, aber auch vereinigt: »Das Gotteswort ist ein unerschöpfbarer Abgrund, in dem sowohl die biologische als auch die theologische Kausationslehre ineinander Platz haben, es ist der mathematische Ort der versöhnten Widersprüche. Beweis? Hierfür gibt es nur den relativen, aber großartigen Beweis der Geschichte. Denn unter uns leben nur zwei sozusagen ewige und unverwandelte Gestalten, die katholische Kirche und das Judentum.«
Dem Denken im dualistischen Spannungsverhältnis blieb Werfel konstant verhaftet, weil er wußte, daß jegliche Wahrheit bereits die Gegenwahrheit in sich trägt. Das Gegensatzpaar Judentum und Christentum ist Kernelement all seiner späteren Romane und theoretischen Abhandlungen, stets verweist er auf die Aufeinander-Bezogenheit dieser beiden Konfessionen. Antagonistisch auch sein Verständnis von Geist und Intellekt. Daß er letzterem lebensfremde Abstraktion zuordnet, ist nicht weiter überraschend. Doch auch dem Geist wohne eine bedenkliche Polarität inne: unabdingbar als schöpferisches Prinzip, ist er dennoch ursächlich für seinen eigenen Untergang:
In einem langfristigen Prozeß hatte sich der Geist von seiner metaphysisch-religiösen Wurzel abgelöst. Er beherrschte zwar dem Scheine nach die Gesellschaft noch immer, zog sich aber selbst in tödlichen Zweifel. […] Der Geist starb an Geistesvergiftung. Ein zynischer Sumpf blieb übrig […].
Von hier aus ist es nicht weit, Selbstanklage zu erheben: das Geständnis der eigenen Schuld, die im eigenen Schaffen begründet liegt. So schreckte Werfel Jahre später nicht davor zurück, die expressionistischen Ideale seiner Jugend als Fehler zu brandmarken. Es habe einst, so verkündete er als gereifter Büßer, »keinen verzehrenderen, frecheren, höhnischeren, teufelsbesesseneren Hochmut« gegeben als jenen der »avantgardistischen Künstler und radikalen Intellektuellen«, zu denen er sich selbst zählen müsse. »Unter dem amüsiert empörten Gelächter einiger Philister waren wir die unansehnlichen Vorheizer der Hölle, in der nun die Menschheit brät.«
Es handelt sich um ein Motiv, das in Der veruntreute Himmel (1939) wiederauftauchen wird. Dort wird er der Magd Teta Linek eine bittere Selbsterkenntnis zuteil werden lassen: »Sie aber stellte die feinste und verzwickteste aller moralischen Fragen: inwiefern ist ein Mensch in die Schuld eines anderen mitverwickelt?«
Gegensätze und Widersprüche sowie deren Versöhnung begleiteten Franz Werfel ein ganzes Leben. Schon die Beziehung zu seiner Geliebten und späteren Ehefrau Alma Mahler-Gropius war ein Widerspruch: Sie, die stockkonservative Katholikin, überzeugte Monarchistin und Antisemitin, fühlte sich mächtig angezogen von dem (wie sie selbst kolportierte) »fetten, o‑beinigen Juden« mit seinen »wulstigen Lippen« und »schwimmenden Schlitzaugen«, obwohl ihr sein sozialistisches »Getue« und »Gerede« von Menschenliebe und Aufopferungswillen ganz und gar nicht zusagte. Sie war die Ältere, Dominante und gleichzeitig Bewunderte. Er, der Jüngere, wurde durch sie zum Bewunderten und zum Gefeierten. Ihr hatte er es zu verdanken, daß er von der Lyrik wegkam, die ihn weit über Prag und Wien hinaus Renommee eingebracht hatte, und sich der Prosa zuwandte. Alma, die Muse, machte ihn zum Romancier – und zum gestandenen Mann. Als Preis dafür schied er 1929 aus der jüdischen Religionsgemeinschaft aus, was Almas Bedingung für die Heirat gewesen war.
Als im Zuge der Willkommens-Seligkeit des Jahres 2015 ein Zitat aus seinem letzten Roman, Stern der Ungeborenen (posthum veröffentlicht 1946), in den sozialen Medien die Runde machte, rieb man sich verwundert die Augen. Wie war es nur möglich, daß ein Dichter siebzig Jahre im voraus den deutschen Zerknirschungskult derart detailgetreu vorhersagen konnte? Dort finden sich die Zeilen:
Zwischen Weltkrieg Zwei und Drei drängten sich die Deutschen an die Spitze der Humanität und Allgüte. Der Gebrauch des Wortes »Humanitätsduselei« kostete achtundvierzig Stunden Arrest oder eine entsprechend hohe Geldsumme. Die meisten der Deutschen nahmen auch, was sie unter Humanität und Güte verstanden, äußerst ernst. Sie hatten doch seit Jahrhunderten danach gelechzt, beliebt zu sein. Humanität und Güte erschienen ihnen jetzt der beste Weg zu diesem Ziel. Sie fanden ihn sogar weit bequemer als Heroismus und Rassenlehre.
Der Blick ins geläuterte Gemüt der zukünftigen Deutschen ist allerdings nur ein Nebengleis in diesem Science-fiction-artigen »Reiseroman«, der im Jahr 101 943 angesiedelt ist. Es lohnt, schon allein wegen des minutiös ausgearbeiteten Gesellschaftsentwurfs, sich in ihn hineinzuvertiefen. Wohin wird sich die Menschheit – vielleicht schon in hundert und nicht erst hunderttausend Jahren – entwickelt haben? Werfel schlägt dieses Szenario vor: Auf einem abgeflachten, von grauem Rasen überzogenen und zumeist unterirdisch bewohnten Erdball herrschen ideal anmutende Lebensbedingungen. Die »Astromentalen« – so nennen sich die spiritistisch begabten Bewohner – leben voll versorgt ohne Arbeit, ohne Geld und Ökonomie, sie werden ohne Krankheiten zweihundert Jahre alt und bewahren sich bis zum Ende ihr jugendliches Aussehen. Frei von Schmerz, Mühsal, Alter und Not genießen sie ihr paradiesisches Dasein, müssen jedoch ohne Musik und Kunst auskommen, was eine »Verarmung des Lebens an Buntheit und Fülle« zur Folge hat sowie »die erstaunliche Verringerung seiner Varietäten«. Alles geht seinen geordneten, wohldurchdachten Gang, auch stirbt man nicht unvorhergesehen, sondern begibt sich, wenn es soweit ist, aus freien Stücken in den »Wintergarten«, wo menschliche Leiber, von »retrogenetischem Humus« umgeben, in ihren embryonalen Zustand zurückverwandelt werden, um schließlich, eingepflanzt auf einem riesigen Acker, als Margeriten zu enden. Euthanasie in vollendeter Form, die genauso unschuldig daherkommt wie jene »Animatoren«, die sie praktizieren. Überhaupt sind Gewalt und Grausamkeit den Astromentalen wesensfremd, sind sie doch derart verfeinert, sensibilisiert und achtsam, daß für ihre Ernährung nicht einmal Vegetarismus in Frage kommt, es bleibt alles unangetastet, was Form hat:
Ihr Grauen schien sich nicht nur auf Fleisch zu beschränken, sondern ebenso auf Pflanzennahrung zu erstrecken, auf den Genuß jeder kreatürlichen, jeder geschaffenen Form und darüber hinaus sogar auf das Verzehren künstlich hergestellter Formen.
In dieser perfekt harmonisierten Welt gibt es keinen Zwang, keine Unterdrückung, keine Propaganda, keine Manipulation, scheint es – bis der Held F. W. bei seinem Besuch des Wintergartens feststellt, daß die vorgebliche Freiwilligkeit erschlichen wird durch Unterschlagung der Wahrheit. Fakten zu Risiken der Behandlung und deren unerwünschten Ergebnissen werden geflissentlich verheimlicht.
»Wo bleibt dann die ganze hehre Freiwilligkeit, Gevatter?«
»Auch unsere Denker, Erfinder und Gesetzgeber mußten mit Menschen
rechnen, und welcher Mensch würde im letzten Augenblick nicht zurückschrecken vor dem, was unsere höchste Errungenschaft ist?«
In seinen Worten klang beinahe eine drohende Schwingung mit. Ich erkannte sofort, daß die Idee des Wintergartens den Platz des religiösen Fanatismus einnahm, des einzigen, den sie kannten.
Hier offenbart sich ein weiteres Mal die visionäre Kraft des Sehers Werfel. An die Durchsetzung einer neuartigen Impfung möchte man denken, aber auch an die Agenda 2030. Was diese unserer Gesellschaft als Zielvorgabe autoritär aufzwingt, ist im astromentalen Idealstaat bereits gänzlich erfüllt: Die Welt der fernen Zukunft ist nachhaltig und gerecht. Emissions- und geräuschlose Technologien sorgen für Mobilität, das Energieproblem ist für alle Zeiten gelöst. Soziale Ungleichheiten sind abgeschafft, denn alle bekommen das jeweils Notwendige zugeteilt und Besitzlosigkeit (!) gilt als erstrebenswertes Gut. Überdies sind Maßnahmen zur Bevölkerungsreduktion getroffen worden.
Aller Sorgen und Mühsal enthoben, haben die Menschen Zeit, sich mit geistigen Fragen zu befassen. Auch in der astromentalen Welt haben sich die zwei Hauptkonfessionen erhalten: das Christentum und das Judentum. Freilich sind es keine gelebten Religionen, die dem Leser vor Augen kommen, sondern ein intellektuelles Debattenspektakel, das als Unterhaltungsprogramm an den Himmel projiziert wird. Anders als Huxley oder Orwell zeichnet Werfel in seiner Zukunftsvision keine düstere Dystopie, nicht wenige der höchsten Errungenschaften jener fernen Welt schätzt er als durchaus wertvoll ein. Um so dringlicher ist es ihm, darauf hinzuweisen, wie irreführend die Versuchung ist, sich ganz in den Dienst des Fortschrittsdenkens zu stellen.
Stern der Ungeborenen ist eine Zusammenfassung all dessen, was Werfel jemals in seinem Leben gedacht hat – es ist die philosophische, poetische und parodistische Bestandsaufnahme seiner Seelentätigkeit. Dem Buch war kein großer Erfolg beschieden, sicherlich aufgrund seiner überwältigenden Komplexität und ausufernden Assoziationsfülle. Wer davor nicht zurückschreckt, findet in diesem Roman einen Schatz an stets überraschenden Pointen, die direkt an uns Heutige adressiert zu sein scheinen:
»Und Sie haben sich doch nur aus Feigheit vor dem Ende am Humus vorbeigewunden. Nur aus memmenhafter Feigheit, die sich lieber irgendwo unter der Erde ausstinkt, als das Ende mannhaft zu wählen und bis zum letzten Herzschlag zu bestimmen.«
»Das ist wahr, Animator, in jedem Wort. Ich lebe zu gern, selbst wenn mein Leben dubios ist wie jetzt. Ich habe keine Lust, meinen Tod freiwillig zu wählen und zu beherrschen, wenn diese Beherrschung auch ein unermeßlicher Fortschritt sein mag, wie viele glauben … Es ist ganz hübsch, als Marguerite zu enden, weiß und reinlich. Der Weg dahin aber ist mir zu riskant, wenn ich an die Kataboliten denke. Der Tod steht hinter mir! Ich habe keine Angst vor ihm, ich am wenigsten, da ich ihn bereits kennengelernt habe. Ich will aber nicht, daß er vor mir stehe …«
»Feigheit und zu wenig moralischer Reinlichkeitssinn, nichts anderes.«
Franz Werfel war ein sprudelnder Quell an Einfallsreichtum, vielseitig in jeglichem Sinne, ein echter Allrounder. Am Ende fuhr er eine bombastische Ernte ein: Rund 700 Gedichte ließ er nach kurzem Leben zurück, zehn Romane, zahlreiche Erzählungen, dreizehn Dramen, mehrere Opernlibretti, ungezählt seine Essays und theoretischen Schriften. »Denn die Welt kann nur leben im Namen des Wunders« war das lebenslange Credo dieses gänzlich uneitlen Menschen. Es ging etwas Warmes und Liebes von ihm aus, erinnerten sich Freunde, »Güte« habe er besessen und die »Fähigkeit zur Freundschaft«. Der Dichter mit dem leidenschaftlichsten Herzen – er erliegt 1945 ausgerechnet einem Herzleiden.
Daß er sich kurz vor seinem Tod hat taufen lassen, bleibt allerdings Gerücht.