Gegen die »Realgesinnung« – der Schriftsteller Franz Werfel

von Eva Rex

PDF der Druckfassung aus Sezession 105/ Dezember 2021

Franz Wer­fel (1890 – 1945) kennt man als Autor des Epos Die vier­zig Tage des Musa Dagh (1933), mit dem er sich als Anklä­ger des Völ­ker­mords an den Arme­ni­ern für alle Zei­ten ein lite­ra­ri­sches Denk­mal geschaf­fen hat.

Abi­turienten schwit­zen über der Novel­le Eine blaß­blaue Frau­en­schrift (1940), die den Anti­se­mi­tis­mus in Öster­reich vor dem Anschluß doku­men­tiert. In der Erzäh­lung Der Tod des Klein­bür­gers (1927) sowie zahl­rei­chen ande­ren Pro­sa­stü­cken wid­met er sich dem Elend der in Not gera­te­nen klei­nen Leu­te. Wer­fels Ein­tre­ten für Geäch­te­te und Rand­grup­pen aller Art, sein lebens­lan­ger Pazi­fis­mus und Anti­mi­li­ta­ris­mus, sein Nie­der­knien vor der Frau als Hüte­rin einer höhe­ren Wahr­heit, schließ­lich die Novel­le Nicht der Mör­der, der Ermor­de­te ist schul­dig (1920), wel­che in voll­ende­ter Schuld­um­kehr eine gan­ze Väter­ge­nera­ti­on bezich­tigt, Stüt­ze nie­de­rer Auto­ri­tät und patri­ar­cha­li­scher Welt­ord­nung und damit ver­ant­wort­lich für Krieg, Haß und Nie­der­tracht zu sein – in sei­nen ver­streu­ten Schrif­ten fin­det sich gar ein »Frag­ment gegen das Män­ner­ge­schlecht« – all das macht ihn zur per­fek­ten Pro­jek­ti­ons­flä­che für lin­ke Idea­le. War Wer­fel ein frü­her Ver­tre­ter für Woke­ness, avant la lettre?

Nicht ver­wun­der­lich, daß die­se Art der Inter­pre­ta­ti­on gän­gi­ge Pra­xis ist, sieht man doch in Wer­fel, dem in Prag gebo­re­nen böh­mi­schen Juden, des­sen Bücher von den Nazis als »Gefähr­dung öffent­li­cher Sicher­heit und Ord­nung« ein­ge­stuft und ver­brannt wur­den, schon qua sei­ner Her­kunft einen Anwalt für die Bedräng­ten und die Aus­ge­sto­ße­nen. Zu Recht. Und doch wider­setzt er sich dem Ver­such, in ein vor­ge­stanz­tes Sche­ma gepreßt zu wer­den, denn da ist noch eine ande­re Sei­te an ihm, die gera­de­zu kon­trär zu der einen steht: der mys­ti­sche, der ver­bor­ge­ne, der unzeit­ge­mä­ße Werfel.

Es gilt, hin­ter dem Schlei­er aus schul­buch­mä­ßi­ger Kon­ven­ti­on und Mythen­bil­dung einen Dich­ter zu ent­de­cken, der wie kein ande­rer sei­ner Zeit die Gegen­sät­ze und die Wider­sprü­che der Moder­ne und ihrer zen­tri­fu­ga­len Kräf­te in sich ver­ei­nigt und schmerz­haf­te Ambi­va­len­zen aus­zu­lo­ten ver­steht. Beherr­schen­des The­ma sei­ner Wer­ke: Unter­gang des Alten – Ent­frem­dungs­er­fah­run­gen ange­sichts der Macht des fri­vol auf­tre­ten­den Neuen.

Bereits in sei­nem ers­ten gro­ßen Werk, Ver­di. Roman einer Oper (1924), läßt er die Expo­nen­ten des anbre­chen­den Epo­chen­wech­sels gegen­ein­an­der antre­ten, indem er den unzeit­ge­mä­ßen ita­lie­ni­schen Maes­tro der schö­nen Melo­die dem fort­schritt­li­chen Wag­ner mit sei­ner ato­mi­sie­ren­den Zukunfts­mu­sik gegen­über­stellt. Unter dem Vor­zei­chen des Schwel­len­über­tritts betrach­tet Wer­fel auch den über­all in Euro­pa auf­kei­men­den Natio­na­lis­mus: nicht als ata­vis­ti­schen Rück­fall in über­wun­den geglaub­te Trieb­re­gun­gen, son­dern als Aus­druck eines pro­gres­sis­ti­schen Moder­ni­sie­rungs­schubs, der in kras­ser Oppo­si­ti­on zum Alten und Ange­stamm­ten steht. Die­ser erschien ihm in sei­ner Frat­zen­haf­tig­keit wie ein arm­se­li­ges »Reli­gi­ons­sur­ro­gat«. Natio­na­le Iden­ti­tät hin­ge­gen war für ihn ein über­aus schüt­zens­wer­tes Kulturgut.

Wer­fel stell­te sei­ner Zeit die glei­che Dia­gno­se aus, die wir mit unse­rer Welt in Ver­bin­dung brin­gen: eine Peri­ode der Umwäl­zun­gen, der Sinn- und Wert­auf­lö­sung und das damit ver­bun­de­ne Unter­gangs­ge­fühl. Vor allem sei es der Ver­lust der Tran­szen­denz, der dazu bei­tra­ge, die ver­haß­te »Real­ge­sin­nung« zu erzeu­gen, die ihrer­seits dar­auf aus­ge­rich­tet sei, »das indi­vi­du­el­le Bewußt­sein zu ver­nich­ten, um es durch ein leicht lenk­ba­res Kol­lek­tiv­be­wußt­sein zu ersetzen«.

Über­aus nuan­cen­reich kön­nen wir am Per­so­nal sei­ner Dra­men und Roma­ne die intel­lek­tu­el­len Zuspit­zun­gen und absur­den Ver­wer­fun­gen mit­ver­fol­gen, die exakt die Spie­ge­lung sei­ner eige­nen inne­ren Vor­gän­ge und Ent­wick­lun­gen waren. Die geis­ti­ge und poli­ti­sche Ver­faßt­heit der Zwischen­kriegszeit fin­det sich am leben­digs­ten in Wer­fels auto­bio­gra­phisch gefärb­tem Roman Bar­ba­ra oder die Fröm­mig­keit (1929) verkörpert.

Im Intel­lek­tu­el­len­zir­kel der Wie­ner Bohe­me des »Café Cen­tral« wer­den alle maß­geb­li­chen Ideen vor­ge­dacht und durch­ge­kaut, deren Früch­te uns heu­te so schwer im Magen lie­gen. Zu Wort kom­men anar­chis­ti­sche Psy­cho­ana­ly­ti­ker, deka­den­te Apo­ka­lyp­ti­ker, Son­der­lin­ge jeg­li­cher Cou­leur, Salon­kom­mu­nis­ten und Ver­tei­di­ger der sexu­el­len Revo­lu­ti­on – Geburts­hel­fer jener damals sub­ver­si­ven Kon­zep­te, die in unse­rer Zeit wie selbst­ver­ständ­lich die aka­de­mi­schen und publi­zis­ti­schen Dis­kur­se bestimmen.

Wer­fel war ein Meis­ter in der Dar­stel­lung ideo­lo­gi­scher Kon­flik­te. Kon­se­quent schien er dem Vor­satz gefolgt zu sein, Unver­ein­ba­res zusam­men­zu­brin­gen. In einer unab­läs­sig krei­sen­den Such­be­we­gung ent­warf er Denk­mus­ter, die er in rei­fe­ren Jah­ren aufs Hef­tigs­te bekämpf­te. Unüber­hör­bar sei­ne Kri­tik der Ratio­na­li­tät unter gleich­zei­ti­ger Her­vor­keh­rung der Para­do­xie jeg­li­cher Glau­bens­ge­wiß­heit. Nichts ver­ach­te­te er so sehr wie den moder­nen Nihi­lis­mus in Gestalt des »radi­ka­len Rea­lis­mus«, der, sowohl im bol­sche­wis­ti­schen Ruß­land wie im demo­kra­ti­schen Ame­ri­ka, die »Sehn­sucht nach einem mensch­li­chen Fer­tig­pro­dukt« hervorbringe.

Die­sem Übel abzu­hel­fen, hat­te er zwei Mit­tel zur Hand: das »Seher- und Sager­tum« der Kunst und der »Inner­lich­keit« als Ant­wort auf »Real­ge­sin­nung und Mate­ria­lis­mus mit all sei­nen Unter­ab­tei­lun­gen«. Im Chris­ten­tum fand er die gelun­ge­ne Sym­bio­se von tran­szen­den­ta­ler Stren­ge und sinn­lich-zuge­wand­ter Kon­kret­heit. Auf­ge­wach­sen im Haus assi­mi­lier­ter Eltern, die ihm eine from­me Katho­li­kin zur Amme gaben, war sei­ne Kind­heit geprägt von unver­stell­ter, ursprüng­li­cher Religiosität.

Auch davon erzählt sein Bar­ba­ra-Roman. Und von der Auf­spal­tung des dich­te­ri­schen Ich in ein Gegen­satz­paar: Der christ­li­che Prot­ago­nist Fer­di­nand R. lie­fert sich heiß­blü­ti­ge Wort­ge­fech­te mit sei­nem engs­ten Freund Alfred ­Eng­län­der. Die­ser, ein rebel­li­scher Sohn aus jüdi­scher Tex­til­fa­bri­kan­ten­fa­mi­lie, ist »jesus­gläubig«, ohne sich tau­fen zu las­sen, und pre­digt die end­gül­ti­ge Aus­söh­nung zwi­schen Juden­tum und Chris­ten­tum. Er sei, betont Eng­län­der, »dem Flei­sche nach ein Jude, dem Geis­te nach ein Christ wie Pau­lus, der Apos­tel, den ich ver­ste­he wie mich selbst«.

Ein gän­gi­ges Mit­tel zur Sanie­rung der Welt und der bestehen­den Ver­hält­nis­se ver­warf Wer­fel aller­dings kom­plett – die Poli­tik, von der er sich, nach jugend­li­chen Ver­ir­run­gen ent­täuscht, abwand­te. Er hat­te wäh­rend der Wie­ner Novem­ber­re­vo­lu­ti­on von 1918 mit den Roten Gar­den sym­pa­thi­siert und teil­wei­se am Umsturz­ver­such mit­ge­wirkt – eine Epi­so­de, die ihn auf­grund ihrer Frag­wür­dig­keit zeit sei­nes Lebens nach­hän­gen soll­te. Nein, gera­de die Poli­tik und ins­be­son­de­re staat­li­che Anma­ßung sei­en es, die auf direk­tem Wege in den Sumpf des Nihi­lis­mus führten.

Ein Schrei nach »Lebens­si­che­rung« durch­drin­ge, so Wer­fel, die Zen­tren des moder­nen Daseins. Das Leben wol­le sich gegen das »Nichts sichern, das in ihm selbst wüh­le«. Dem Risi­ko des »Ewi­gen Nichts« sol­le durch die »Prä­mie zeit­li­cher Sicher­stel­lung« begeg­net wer­den. Immer mehr neh­me die Idee des Staa­tes das Wesen der »Ver­si­che­rungs­ge­sell­schaf­ten« an. »Die Welt der Rei­chen ist eine Sana­to­ri­ums­welt gewor­den. Allent­hal­ben wim­melt es von Mys­ti­kern der Hygie­ne, von Yogis der Kos­me­tik, von Pro­phe­ten der Ver­jün­gung und von Faki­ren des Stoffwechsels«.

Dem Heils­ver­spre­chen durch poli­ti­sche Maß­nah­men sowie einer gerech­ten Gesell­schafts­ord­nung erteil­te er schon früh eine deut­li­che Absa­ge, wie er über­haupt jeg­li­che Form des »libe­ra­len Opti­mis­mus« ver­warf. Die Erwar­tung, der Staat kön­ne und müs­se es rich­ten, mach­te in sei­nen Augen aus Men­schen »Gläu­bi­ge der huma­nis­ti­schen Reli­gi­on«, die sich der »Akti­vi­tät« und dem »posi­ti­vis­ti­schen Tumult« ver­schrie­ben hätten:

 

Die scheuß­lichs­te Ent­hei­li­gung des Ichs seit Beginn viel­leicht der Welt­ge­schich­te ist die moder­ne Form der Leib­ei­gen­schaft: Der Mensch ist nicht mehr Eigen­tü­mer sei­ner selbst, son­dern das Eigen­tum eines ­inap­pell­ablen Staa­tes, wel­cher Arbeit­ge­ber und Arbeits­weg­neh­mer, Ernäh­rer oder Hunger­vogt, Beicht­va­ter, Erzie­her, Ver­der­ber, Gewis­sens­spit­zel, Rich­ter, Staats­an­walt, Ver­tei­di­ger, Geschwo­re­ner und Hen­ker in einer Per­son ist.

 

Nur einem Grund­prin­zip galt sei­ne unein­ge­schränk­te Aner­ken­nung: der Offen­ba­rung des »Chris­tus­im­pul­ses«. Das Mys­te­ri­um des Chris­ten­tums zu durch­drin­gen und lite­ra­risch zu ver­brei­ten war fort­an sei­ne dring­lichs­te Auf­ga­be. Kein ande­rer Dich­ter hat ein ver­gleich­ba­res christ­li­ches Sen­dungs­be­wußt­sein an den Tag gelegt wie der jesus­gläu­bi­ge Wer­fel – zum gro­ßen Unmut sei­ner jüdi­schen Freun­de Max Brod und Franz Kafka.

In der Hei­li­gen Schrift des Alten und Neu­en Tes­ta­ments fand er die ihn bedrän­gen­den Gegen­sät­ze benannt, aber auch ver­ei­nigt: »Das Got­tes­wort ist ein uner­schöpf­ba­rer Abgrund, in dem sowohl die bio­lo­gi­sche als auch die theo­lo­gi­sche Kau­sa­ti­ons­leh­re inein­an­der Platz haben, es ist der mathe­ma­ti­sche Ort der ver­söhn­ten Wider­sprü­che. Beweis? Hier­für gibt es nur den rela­ti­ven, aber groß­ar­ti­gen Beweis der Geschich­te. Denn unter uns leben nur zwei sozu­sa­gen ewi­ge und unver­wan­del­te Gestal­ten, die katho­li­sche Kir­che und das Judentum.«

Dem Den­ken im dua­lis­ti­schen Span­nungs­ver­hält­nis blieb Wer­fel kon­stant ver­haf­tet, weil er wuß­te, daß jeg­li­che Wahr­heit bereits die Gegen­wahr­heit in sich trägt. Das Gegen­satz­paar Juden­tum und Chris­ten­tum ist Kern­ele­ment all sei­ner spä­te­ren Roma­ne und theo­re­ti­schen Abhand­lun­gen, stets ver­weist er auf die Auf­ein­an­der-Bezo­gen­heit die­ser bei­den Kon­fes­sio­nen. Ant­ago­nis­tisch auch sein Ver­ständ­nis von Geist und Intel­lekt. Daß er letz­te­rem lebens­frem­de Abs­trak­ti­on zuord­net, ist nicht wei­ter über­ra­schend. Doch auch dem Geist woh­ne eine bedenk­li­che Pola­ri­tät inne: unab­ding­bar als schöp­fe­ri­sches Prin­zip, ist er den­noch ursäch­lich für sei­nen eige­nen Untergang:

 

In einem lang­fris­ti­gen Pro­zeß hat­te sich der Geist von sei­ner meta­phy­sisch-reli­giö­sen Wur­zel abge­löst. Er beherrsch­te zwar dem Schei­ne nach die Gesell­schaft noch immer, zog sich aber selbst in töd­li­chen Zwei­fel. […] Der Geist starb an Geis­tes­ver­gif­tung. Ein zyni­scher Sumpf blieb übrig […].

 

Von hier aus ist es nicht weit, Selbst­an­kla­ge zu erhe­ben: das Geständ­nis der eige­nen Schuld, die im eige­nen Schaf­fen begrün­det liegt. So schreck­te Wer­fel Jah­re spä­ter nicht davor zurück, die expres­sio­nis­ti­schen Idea­le sei­ner Jugend als Feh­ler zu brand­mar­ken. Es habe einst, so ver­kün­de­te er als gereif­ter Büßer, »kei­nen ver­zeh­ren­de­ren, fre­che­ren, höh­ni­sche­ren, teu­fels­be­ses­se­ne­ren Hoch­mut« gege­ben als jenen der »avant­gar­dis­ti­schen Künst­ler und radi­ka­len Intel­lek­tu­el­len«, zu denen er sich selbst zäh­len müs­se. »Unter dem amü­siert empör­ten Geläch­ter eini­ger Phi­lis­ter waren wir die unan­sehn­li­chen Vor­hei­zer der Höl­le, in der nun die Mensch­heit brät.«

Es han­delt sich um ein Motiv, das in Der ver­un­treu­te Him­mel (1939) wie­der­auf­tau­chen wird. Dort wird er der Magd Teta Linek eine bit­te­re Selbst­er­kennt­nis zuteil wer­den las­sen: »Sie aber stell­te die feins­te und ver­zwick­tes­te aller mora­li­schen Fra­gen: inwie­fern ist ein Mensch in die Schuld eines ande­ren mitverwickelt?«

Gegen­sät­ze und Wider­sprü­che sowie deren Ver­söh­nung beglei­te­ten Franz Wer­fel ein gan­zes Leben. Schon die Bezie­hung zu sei­ner Gelieb­ten und spä­te­ren Ehe­frau Alma Mahler-Gro­pi­us war ein Wider­spruch: Sie, die stock­kon­ser­va­ti­ve Katho­li­kin, über­zeug­te Mon­ar­chis­tin und Anti­se­mi­tin, fühl­te sich mäch­tig ange­zo­gen von dem (wie sie selbst kol­por­tier­te) ­»fet­ten, o‑beinigen Juden« mit sei­nen »wuls­ti­gen Lip­pen« und »schwim­men­den Schlitz­au­gen«, obwohl ihr sein sozia­lis­ti­sches »Getue« und »Gere­de« von Men­schen­lie­be und Auf­op­fe­rungs­wil­len ganz und gar nicht zusag­te. Sie war die Älte­re, Domi­nan­te und gleich­zei­tig Bewun­der­te. Er, der Jün­ge­re, wur­de durch sie zum Bewun­der­ten und zum Gefei­er­ten. Ihr hat­te er es zu ver­dan­ken, daß er von der Lyrik weg­kam, die ihn weit über Prag und Wien hin­aus Renom­mee ein­ge­bracht hat­te, und sich der Pro­sa zuwand­te. Alma, die Muse, mach­te ihn zum Roman­cier – und zum gestan­de­nen Mann. Als Preis dafür schied er 1929 aus der jüdi­schen Reli­gi­ons­ge­mein­schaft aus, was Almas Bedin­gung für die Hei­rat gewe­sen war.

Als im Zuge der Will­kom­mens-Selig­keit des Jah­res 2015 ein Zitat aus sei­nem letz­ten Roman, Stern der Unge­bo­re­nen (post­hum ver­öf­fent­licht 1946), in den sozia­len Medi­en die Run­de mach­te, rieb man sich ver­wun­dert die Augen. Wie war es nur mög­lich, daß ein Dich­ter sieb­zig Jah­re im vor­aus den deut­schen Zer­knir­schungs­kult der­art detail­ge­treu vor­her­sa­gen konn­te? Dort fin­den sich die Zeilen:

 

Zwi­schen Welt­krieg Zwei und Drei dräng­ten sich die Deut­schen an die Spit­ze der Huma­ni­tät und All­gü­te. Der Gebrauch des Wor­tes »Huma­ni­täts­du­se­lei« kos­te­te acht­und­vier­zig Stun­den Arrest oder eine ent­spre­chend hohe Geld­sum­me. Die meis­ten der Deut­schen nah­men auch, was sie unter Huma­ni­tät und Güte ver­stan­den, äußerst ernst. Sie hat­ten doch seit Jahr­hun­der­ten danach gelechzt, beliebt zu sein. Huma­ni­tät und Güte erschie­nen ihnen jetzt der bes­te Weg zu die­sem Ziel. Sie fan­den ihn sogar weit beque­mer als Hero­is­mus und Rassenlehre.

 

Der Blick ins geläu­ter­te Gemüt der zukünf­ti­gen Deut­schen ist aller­dings nur ein Neben­gleis in die­sem Sci­ence-fic­tion-arti­gen »Rei­se­ro­man«, der im Jahr 101 943 ange­sie­delt ist. Es lohnt, schon allein wegen des minu­ti­ös aus­ge­ar­bei­te­ten Gesell­schafts­ent­wurfs, sich in ihn hin­ein­zu­ver­tie­fen. Wohin wird sich die Mensch­heit – viel­leicht schon in hun­dert und nicht erst hun­dert­tau­send Jah­ren – ent­wi­ckelt haben? Wer­fel schlägt die­ses Sze­na­rio vor: Auf einem abge­flach­ten, von grau­em Rasen über­zo­ge­nen und zumeist unter­ir­disch bewohn­ten Erd­ball herr­schen ide­al anmu­ten­de Lebens­be­din­gun­gen. Die »Astrom­en­ta­len« – so nen­nen sich die spi­ri­tis­tisch begab­ten Bewoh­ner – leben voll ver­sorgt ohne Arbeit, ohne Geld und Öko­no­mie, sie wer­den ohne Krank­hei­ten zwei­hun­dert Jah­re alt und bewah­ren sich bis zum Ende ihr jugend­li­ches Aus­se­hen. Frei von Schmerz, Müh­sal, Alter und Not genie­ßen sie ihr para­die­si­sches Dasein, müs­sen jedoch ohne Musik und Kunst aus­kom­men, was eine »Ver­ar­mung des Lebens an Bunt­heit und Fül­le« zur Fol­ge hat sowie »die erstaun­li­che Ver­rin­ge­rung sei­ner Varie­tä­ten«. Alles geht sei­nen geord­ne­ten, wohl­durch­dach­ten Gang, auch stirbt man nicht unvor­her­ge­se­hen, son­dern begibt sich, wenn es soweit ist, aus frei­en Stü­cken in den »Win­ter­gar­ten«, wo mensch­li­che Lei­ber, von »retro­ge­ne­ti­schem Humus« umge­ben, in ihren embryo­na­len Zustand zurück­ver­wan­delt wer­den, um schließ­lich, ein­ge­pflanzt auf einem rie­si­gen Acker, als Mar­ge­ri­ten zu enden. Eutha­na­sie in voll­ende­ter Form, die genau­so unschul­dig daher­kommt wie jene »Ani­ma­to­ren«, die sie prak­ti­zie­ren. Über­haupt sind Gewalt und Grau­sam­keit den Astrom­en­ta­len wesens­fremd, sind sie doch der­art ver­fei­nert, sen­si­bi­li­siert und acht­sam, daß für ihre Ernäh­rung nicht ein­mal Vege­ta­ris­mus in Fra­ge kommt, es bleibt alles unan­ge­tas­tet, was Form hat:

 

Ihr Grau­en schien sich nicht nur auf Fleisch zu beschrän­ken, son­dern eben­so auf Pflan­zen­nah­rung zu erstre­cken, auf den Genuß jeder krea­tür­li­chen, jeder geschaf­fe­nen Form und dar­über hin­aus sogar auf das Ver­zeh­ren künst­lich her­ge­stell­ter Formen.

 

In die­ser per­fekt har­mo­ni­sier­ten Welt gibt es kei­nen Zwang, kei­ne Unter­drü­ckung, kei­ne Pro­pa­gan­da, kei­ne Mani­pu­la­ti­on, scheint es – bis der Held F. W. bei sei­nem Besuch des Win­ter­gar­tens fest­stellt, daß die vor­geb­li­che Frei­wil­lig­keit erschli­chen wird durch Unter­schla­gung der Wahr­heit. Fak­ten zu Risi­ken der Behand­lung und deren uner­wünsch­ten Ergeb­nis­sen wer­den geflis­sent­lich verheimlicht.

 

»Wo bleibt dann die gan­ze heh­re Frei­wil­lig­keit, Gevatter?«

»Auch unse­re Den­ker, Erfin­der und Gesetz­ge­ber muß­ten mit Menschen
rech­nen, und wel­cher Mensch wür­de im letz­ten Augen­blick nicht zurück­schre­cken vor dem, was unse­re höchs­te Errun­gen­schaft ist?«

In sei­nen Wor­ten klang bei­na­he eine dro­hen­de Schwin­gung mit. Ich erkann­te sofort, daß die Idee des Win­ter­gar­tens den Platz des reli­giö­sen Fana­tis­mus ein­nahm, des ein­zi­gen, den sie kannten.

 

Hier offen­bart sich ein wei­te­res Mal die visio­nä­re Kraft des Sehers Wer­fel. An die Durch­set­zung einer neu­ar­ti­gen Imp­fung möch­te man den­ken, aber auch an die Agen­da 2030. Was die­se unse­rer Gesell­schaft als Ziel­vor­ga­be auto­ri­tär auf­zwingt, ist im astrom­en­ta­len Ide­al­staat bereits gänz­lich erfüllt: Die Welt der fer­nen Zukunft ist nach­hal­tig und gerecht. Emis­si­ons- und geräusch­lo­se Tech­no­lo­gien sor­gen für Mobi­li­tät, das Ener­gie­pro­blem ist für alle Zei­ten gelöst. Sozia­le Ungleich­hei­ten sind abge­schafft, denn alle bekom­men das jeweils Not­wen­di­ge zuge­teilt und Besitz­lo­sig­keit (!) gilt als erstre­bens­wer­tes Gut. Über­dies sind Maß­nah­men zur Bevöl­ke­rungs­re­duk­ti­on getrof­fen worden.

Aller Sor­gen und Müh­sal ent­ho­ben, haben die Men­schen Zeit, sich mit geis­ti­gen Fra­gen zu befas­sen. Auch in der astrom­en­ta­len Welt haben sich die zwei Haupt­kon­fes­sio­nen erhal­ten: das Chris­ten­tum und das Juden­tum. Frei­lich sind es kei­ne geleb­ten Reli­gio­nen, die dem Leser vor Augen kom­men, son­dern ein intel­lek­tu­el­les Debat­ten­spek­ta­kel, das als Unter­hal­tungs­pro­gramm an den Him­mel pro­ji­ziert wird. Anders als Hux­ley oder Orwell zeich­net Wer­fel in sei­ner Zukunfts­vi­si­on kei­ne düs­te­re Dys­to­pie, nicht weni­ge der höchs­ten Errun­gen­schaf­ten jener fer­nen Welt schätzt er als durch­aus wert­voll ein. Um so dring­li­cher ist es ihm, dar­auf hin­zu­wei­sen, wie irre­füh­rend die Ver­su­chung ist, sich ganz in den Dienst des Fortschritts­denkens zu stellen.

Stern der Unge­bo­re­nen ist eine Zusam­men­fas­sung all des­sen, was Wer­fel jemals in sei­nem Leben gedacht hat – es ist die phi­lo­so­phi­sche, poe­ti­sche und par­odis­ti­sche Bestands­auf­nah­me sei­ner See­len­tä­tig­keit. Dem Buch war kein gro­ßer Erfolg beschie­den, sicher­lich auf­grund sei­ner über­wäl­ti­gen­den Kom­ple­xi­tät und aus­ufern­den Asso­zia­ti­ons­fül­le. Wer davor nicht zurück­schreckt, fin­det in die­sem Roman einen Schatz an stets über­ra­schen­den Poin­ten, die direkt an uns Heu­ti­ge adres­siert zu sein scheinen:

 

»Und Sie haben sich doch nur aus Feig­heit vor dem Ende am Humus vor­bei­ge­wun­den. Nur aus mem­men­haf­ter Feig­heit, die sich lie­ber irgend­wo unter der Erde aus­stinkt, als das Ende mann­haft zu wäh­len und bis zum letz­ten Herz­schlag zu bestimmen.«

»Das ist wahr, Ani­ma­tor, in jedem Wort. Ich lebe zu gern, selbst wenn mein Leben dubi­os ist wie jetzt. Ich habe kei­ne Lust, mei­nen Tod frei­wil­lig zu wäh­len und zu beherr­schen, wenn die­se Beherr­schung auch ein uner­meß­li­cher Fort­schritt sein mag, wie vie­le glau­ben … Es ist ganz hübsch, als Mar­gue­ri­te zu enden, weiß und rein­lich. Der Weg dahin aber ist mir zu ris­kant, wenn ich an die Kat­aboli­ten den­ke. Der Tod steht hin­ter mir! Ich habe kei­ne Angst vor ihm, ich am wenigs­ten, da ich ihn bereits ken­nen­ge­lernt habe. Ich will aber nicht, daß er vor mir stehe …«

»Feig­heit und zu wenig mora­li­scher Rein­lich­keits­sinn, nichts anderes.«

 

Franz Wer­fel war ein spru­deln­der Quell an Ein­falls­reich­tum, viel­sei­tig in jeg­li­chem Sin­ne, ein ech­ter All­roun­der. Am Ende fuhr er eine bom­bas­ti­sche Ern­te ein: Rund 700 Gedich­te ließ er nach kur­zem Leben zurück, zehn Roma­ne, zahl­rei­che Erzäh­lun­gen, drei­zehn Dra­men, meh­re­re Opern­li­bret­ti, unge­zählt sei­ne Essays und theo­re­ti­schen Schrif­ten. »Denn die Welt kann nur leben im Namen des Wun­ders« war das lebens­lan­ge Cre­do die­ses gänz­lich uneit­len Men­schen. Es ging etwas War­mes und Lie­bes von ihm aus, erin­ner­ten sich Freun­de, »Güte« habe er beses­sen und die »Fähig­keit zur Freund­schaft«. Der Dich­ter mit dem lei­den­schaft­lichs­ten Her­zen – er erliegt 1945 aus­ge­rech­net einem Herzleiden.

Daß er sich kurz vor sei­nem Tod hat tau­fen las­sen, bleibt aller­dings Gerücht.

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