Carolin Amlinger ist Literaturwissenschaftlerin an der Universität Basel und hat, wie so viele Nachwuchsakademiker, das Ohr am Puls der Zeit – wo das nicht in eine Beschäftigung mit irgendwelchen Genderfragen mündet, da läuft es heute meist auf die Analyse irgendeines Aspekts von »Populismus« hinaus.
Amlinger betreibt diese im Rahmen des ausufernden germanistischen Projekts »Halb-Wahrheiten. Wahrheit, Fiktion und Konspiration im ›postfaktischen‹ Zeitalter«. Unübersehbar ist dabei der Medienfokus, verständlicherweise: Hat doch der politmediale Konsens die westlichen Gesellschaften mehr als vier Jahrzehnte lang vor allen potentiell gefährlichen Formen des Populismus abgeschirmt und abweichende (oder, mit einem aktuellen Modewort: »heterodoxe«) Ansichten entweder gar nicht erst abgebildet oder als minderbemittelt-unverantwortlich-unmoralisch-unsozial und insgesamt unberührbar kontextualisiert. Wie auch populistisch sein, wenn Aug’ und Ohr des Populus schlicht nicht erreichbar sind?
Eine vor diesem Hintergrund unerläßliche ehrliche Selbst- und Medienkritik von rechts, die den Namen verdient und sich der seit Mitte der 1960er geleisteten undogmatisch-linken Vorarbeit bedient, läßt externe Beobachter im ersten Moment perplex zurück, wie Amlinger in ihrer diesbezüglichen Bestandsaufnahme für Ausgabe 2 / 2020 der soziologischen Vierteljahreszeitschrift Leviathan bezeugt: Wie konnte es nur so weit kommen, daß Theoretiker der »Französischen Schule« wie Baudrillard, Deleuze und Debord für rechte Kritik »mißbraucht« werden, wo sie selbst doch einzig nach mehr Emanzipation, mehr Freiheit gestrebt hätten?
Vielleicht liegt dieser Annahme ein grundfalscher Freiheitsbegriff zugrunde, den die (Massen-)Medien nicht nur immer weiter reproduzieren, sondern auch selbst geschaffen haben. Es könnte aufschlußreich sein, hinter den Schleier der uns umgebenden Mediengesellschaft, wie sie neben unserem Konsumverhalten sogar unsere Wahrnehmung und unser Bewußtsein selbst formt, zu blicken.
Ganz ähnliche Interessen hat der mehrfach preisgekrönte britische Dokumentarfilmer und Produzent Adam Curtis – »einer, der die Mythen erforscht«, wie es die Zeit Anfang 2017 umrissen hat. Von den ihn besprechenden Mainstreampublikationen egal welcher Sprache scheinen die wenigsten über das nötige Reflexionsvermögen zu verfügen, sich selbst in den von Curtis attackierten »Mythen« der Kulturindustrie mitgemeint zu sehen.
Hierzulande kommt das ohnehin nicht oft vor: Trotz einer mittlerweile vier Jahrzehnte umfassenden Laufbahn ist der 1955 in Dartford / Kent geborene Filmemacher im deutschsprachigen Raum eher ein Geheimtip.
Immerhin machte er bei der Ruhrtriennale 2013 durch seinen gemeinsamen Beitrag mit einer legendären britischen Trip-Hop-Band von sich reden: »Massive Attack V Adam Curtis« quetschte die Zuschauer zwischen riesige, hufeisenförmig angeordnete Leinwände, die zwei Stunden lang rasante historisch-popkulturelle Bildcollagen zeigten und eine kaleidoskopische Abbildung von Aufstieg und Zusammenbruch, von großen Utopien und gescheiterten Träumen lieferten, während die Musiker unsichtbar blieben.
Diese wortwörtliche Massive attack auf Sinne und Unterhaltungsanspruch der Konsumenten sorgte für Verstimmung und sehr verhaltene Rezensionen. Erst 2015 vollbrachte es das Berliner freie Theater »Hebbel am Ufer« (HAU), ein ganzes »Adam Curtis Weekend« auszurichten, in dessen Rahmen der Gast nicht nur an einer Podiumsdiskussion über die »Unsichtbarkeit moderner Macht« teilnahm und seinen neuen Film Bitter Lake über die eigentümliche Wechselwirkung zwischen Afghanistan und der westlichen Welt vorführte.
Der Filmemacher bestritt auch ein abendliches Zwiegespräch über die Bedeutung der Psychoanalyse für die spätmoderne Massen(ver)führung – Kanalisierung von Begehren statt Berücksichtigung von Bedürfnissen – mit niemand anderem als dem Kulturtheoretiker Mark Fisher (siehe Sezession 101). Dessen eigener freudomarxistisch geprägter Zugriff auf die neoliberale Verschwisterung von Kulturindustrie und Verwaltungsstaat führte ihn zu der fatalen Diagnose eines »kapitalistischen Realismus«, der seine scheinbare »Alternativlosigkeit« durchsetze und auf diese Weise echte Innovation ebenso ersticke wie die eigentlich politische Denkbarkeit fundamental anderer Wirklichkeiten, bis alles in einer verpanzerten ewigen Gegenwart erstarrt sei.
Ein für Curtis nicht fremder Blick auf die Dinge – und tatsächlich enthüllte dieser erst kürzlich im sozialistischen US-Magazin Jacobin, sich mit dem 13 Jahre jüngeren Fisher zu dessen Lebzeiten regelmäßig zu Diskussionen getroffen zu haben.
Dabei hatte alles beschaulich angefangen: Adam Curtis kam als Sohn eines links geprägten Kameramanns zur Welt, konnte dank eines Stipendiums die exklusive Sevenoaks School besuchen und lernte dort die Arbeit des Pop-Art-Künstlers Robert Rauschenberg kennen, der die Kluft zwischen künstlerischer Darstellung und Lebensrealität durch ein unverändertes Hereinholen letzterer in erstere überwinden wollte; eine Herangehensweise, die sich in Curtis’ späterem Archivcollagenstil niederschlagen sollte.
Nach einem Abschluß in Humanwissenschaften begann er ein Dissertationsvorhaben inklusive Lehrtätigkeit in Politologie, entfremdete sich jedoch – ganz ähnlich wie Fisher – zusehends dem akademischen Betrieb und ging Anfang der 1980er zur BBC.
Der dortigen »Trash«-Ausbildung samt Kurzfilm über Ähnlichkeiten im Design von abgehobener Mode und High-Tech-Waffensystemen sowie Reportagen unter anderem über sprechende Hunde schreibt Curtis seine heutige Virtuosität in vieldeutigen Anspielungen und emotionaler Erzählweise zu. Die erste größere Regiearbeit stellte 1983 eine Episode der Serie Just Another Day dar, die die Hintergründe von Institutionen des British way of life abbildete: Die Bühne war das Londoner Kaufhaus Selfridges, auf dessen 85 000 Quadratmetern Ladenfläche ein Ensemble von 3000 Angestellten täglich dem Auftrag verpflichtet war, »die Menschen zu unterhalten und nicht nur ihr Geld zu nehmen« – von der größten Parfümerieabteilung der Welt über die möglichst naturnahe Animation eines mechanischen Kamels bis hin zum hausinternen Fahrstuhlführer, der vor der Kamera sein Leben als »ein ständiges Auf und Ab bezeichnet«.
Curtis’ Talent für denkwürdige, nur behutsam kommentierte Momentaufnahmen zieht sich weiter durch seinen zweiten Beitrag zu Just Another Day und den geschichtlichen Abriß über das Metier der Kriegsberichterstatter in Trumpets and Typewriters.
Im Folgejahr wagte sich Curtis auf kontroverseres Terrain vor, indem er in The Cost of Treachery (»Der Preis des Verrats«) die katastrophal gescheiterte britisch-amerikanische Paramilitäroperation »Valuable« thematisierte, die gleich zu Beginn des Kalten Kriegs mittels Sabotagetrupps die kommunistische Regierung in Albanien destabilisieren sollte und binnen fünf Jahren rund 300 exilalbanische Kämpfer wortwörtlich verheizte, weil bereits kurz nach Beginn ein Informationsleck im britischen Auslandsgeheimdienst offenkundig geworden war, aber niemand den Verrat eingestehen wollte und deshalb immer neue Kommandos der bereits wartenden albanischen Armee vor die Rohre geliefert wurden.
Im selben Jahr porträtierte Curtis für die Reihe Italians den kommunistischen Bürgermeister des süditalienischen Örtchens Montemilone, der den verbliebenen Einwohnern verzweifelt Arbeit bei einem nahegelegenen Staudammprojekt zu verschaffen versuchte, und ging für Inquiry dem »Great British Housing Disaster« nach: Im Vorfeld der britischen Unterhauswahl von 1964 war die Labour-Partei in eine PR-Falle der Tories getappt und stand nach ihrem knappen Sieg mit dem illusorischen Wahlversprechen des Baus von 500 000 neuen Wohnungen pro Jahr da.
In der Folge wurden unausgereifte Fertighaustechniken im Schnellverfahren approbiert und massiv subventioniert, woraufhin Bauunternehmen noch ohne einen einzigen Auftrag in neue Fertigungsstraßen investierten; der entstehende Teufelskreis aus ständigem Zeit- und Gelddruck führte zur Verwendung minderwertigen Materials und konstantem Pfusch am Bau, so daß bereits nach zehn Jahren die ersten Wohntürme schlicht auseinanderzufallen begannen, bis zur Ausstrahlung der Dokumentation 1984 bereits rund 10 000 Wohnungen wieder abgerissen werden mußten und die Erhaltung der Gebäude ihre Baukosten um das bis zu Fünfzigfache überstieg.
Der Schatten dieser Affäre liegt noch auf unserer Gegenwart – beim 2017 mit 72 Toten ausgebrannten Grenfell Tower in London handelte es sich um einen Versuch, die eklatantesten Mängel der ersten Wohnungsturmgeneration kostengünstig auszubügeln.
Das erste der umfassenden, mehrteiligen Großprojekte, für die Curtis heute bekannt ist, realisierte er 1988 als reiner Produzent: An Ocean Apart bildet in sieben Episoden die wechselvollen Beziehungen zwischen den USA und Großbritannien ab, von der extremen Verschuldung des damals noch bestehenden Empire bei seiner einstmaligen Kolonie im Ersten Weltkrieg bis hin zur halbverdeckten logistischen Unterstützung Amerikas für die Briten im Falklandkrieg, ohne welche Margaret Thatcher nach einhelliger Expertenmeinung den Rückzug vor Argentinien hätte anordnen müssen und niemals ihren Ruf als »Eiserne Lady« erlangt hätte.
Nach seiner eigenen Einschätzung fand Curtis seine ganz eigene filmische »Stimme« jedoch erst mit einem Beitrag für das Format Inside Story, in dem er den beauftragten Bericht über den Wandel der Iranischen Revolution von einer idealistischen zu einer autoritär-repressiven Bewegung eigenmächtig mit der Geschichte der Französischen Revolution durchmischte (»The Road to Terror«, 1989) – für diesen unerwünschten »Kunstfilm« wäre er um Haaresbreite entlassen worden, wenn sich nicht der damalige BBC2-Leiter Alan Yentob für ihn und seinen ganz eigenen Stil eingesetzt hätte.
Den Durchbruch brachte dann 1992 Pandora’s Box. A Fable From the Age of Science, eine sechsteilige Betrachtung über das Verhängnis technokratischen und bürokratischen Denkens in der Moderne – weit assoziativ aufgespannt von der nuklearen Bedrohung und dem eben erst ausgelaufenen Systemkonflikt zwischen Ost und West bis hin zur britischen Wirtschaft der 1970er und dem überschießenden Einsatz des hochgiftigen Pflanzenschutzmittels DDT.
Die Konstanten in Curtis’ kritischem Werk nahmen hier ihren Ausgang, so etwa die Rückführung des Neoliberalismus mit seiner konsumistischen Versuchung des Bürgers auf die wissenschaftliche Systemanalyse und die Spieltheorie wie auch die bürokratisch verordnete »Schocktherapie« der radikalen Privatisierung und nachgeraden Ausschlachtung ehemals sozialistischer Staaten durch Investoren und multinationale Konzerne, vom Ghana der 1960er bis in die Gemeinschaft Unabhängiger Staaten nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion. Entlang der gleichen Erzählstränge verlaufen auch, jeweils aktualisiert, The Century of the Self (2002) über die Folgen der Psychoanalyse für Wirtschaft und Politik, indem nach der Entwicklung der »Propaganda« (später: »Public Relations«) durch den Freud-Neffen Edward Bernays beide Gesellschaftsbereiche in ihrer – oft wohlmeinenden – Absicht der Manipulation und der Konditionierung über Partei- und Ideologiegrenzen hinweg zueinander fanden und sich der gleichen Techniken und Experten zu bedienen begannen, sowie The Trap. What Happened to Our Dream of Freedom ? (2007), worin der moderne Freiheitsbegriff auf die Schreckensvision eines nur an seinem eigenen Wohl interessierten, wie ein Roboter steuerbaren Dauerkonsumenten zurückgeführt und somit nicht weniger als das gesamte Gerüst der »westlichen Werte« in Frage gestellt wird.
Diese recht schonungslosen Analysen wirken jedoch ebenso auch auf den heute von rechts oft wohlwollend betrachteten »Populismus« zurück. Denn was anderes war es, als sich die Reagan‑, Thatcher‑, Clinton‑, Blair- und Brown-Regierungen allesamt der Marktforschungstechnik der Fokusgruppe bedienten, um die unbewußt-emotionale Anziehungskraft ihrer Maßnahmenentwürfe zu prüfen und sie entsprechend »gefälliger« zu gestalten, anstatt sich ausschließlich an der jeweiligen Faktenlage zu orientieren?
Was anderes ist es heute, wenn – wie von Zeit Online analysiert – Angela Merkel sich von 2015 bis 2021 demoskopische »Wochenberichte« vorlegen ließ, die von Infratest und Forsa exklusiv für Kanzler- und Bundespresseamt angefertigt wurden und anhand des Bevölkerungsinteresses die jeweiligen Schwerpunktthemen der folgenden sieben Regierungstage vorgaben? Steht nicht soeben ein unlängst noch amtierender österreichischer Bundeskanzler vor Gericht, weil er dafür bezahlt haben soll, daß Umfrageergebnisse zu seinen Gunsten frisiert wurden – in der Erwartung, daß der Durchschnittsbürger seine Meinung schon an der angeblichen Mehrheitsmeinung ausrichten werde?
Viele Filme Adam Curtis’ sind weitaus weniger Dokumentationen denn Meditationen, die in ihrer teils extrem eklektizistischen Vorgehensweise Betrachter im ersten Anlauf eher irritieren als inspirieren. So wurde ihm schon vorgeworfen, eine ganz eigene Art des Pastiches entwickelt zu haben, also die von ihm fortwährend kritisierten Mechanismen der Massenmedien teils ironisch, teils wohl unabsichtlich selbst zu reproduzieren, »[…] indem die kleinste Ähnlichkeit oder Überschneidung zwischen zwei völlig verschiedenen Themen als Rechtfertigung herhalten muß, um sich vorbehaltlos in ein noch mal ganz anderes drittes hineinzustürzen« (New Statesman).
Dies mag jedoch auch dem weiten Feld des politisch-wirtschaftlich-medial-massenpsychologischen Komplexes geschuldet sein, gegen den Curtis seit nunmehr 30 Jahren werkt und in seiner Markenzeichen-Arbeitsweise aus den unüberschaubaren Beständen des BBC-Archivs die entlegensten Filmschnipsel hervorholt, um auf ihnen induktiv vom winzigen Detail zur ganz großen Korruption emporzusteigen: In seinem jüngsten, epische acht Stunden in sechs Episoden umfassenden Werk, Can’t Get You Out of My Head. An Emotional History of the Modern World vom Februar 2021, verwebt er den Lebensweg der Mao-Ehefrau Jiang Qing mit dem Aufkommen der Globalisierung, diversen Revolutions- und Terrorgruppen auf der ganzen Welt, dem Spannungsverhältnis zwischen Staat und (Welt-)Wirtschaft und der Entstehung der Vision einer Welt ohne Grenzen zu einem alptraumhaften Strudel, der – einmal mehr, aber um so akuter – in die Tristesse einer gänzlich entpolitisierten Gegenwart mündet. In Menschen, deren Blick auf die Zukunft von den medial am Leben gehaltenen Gespenstern der Vergangenheit verstellt ist und die sich deshalb aller grundsätzlichen – radikalen – Visionen und Hoffnungen für das Morgen entschlagen, um die Gegenwart zu verlängern und möglichst problemfrei zu verwalten.
Es braucht wohl immer mal wieder das kritische Auge eines unorthodoxen Linken, um mit frischem Blick auf die Lage zu sehen. Selbst wenn Curtis in Can’t Get You Out of My Head für ausgemacht hält, daß es bereits »sinnlos [sei], verstehen zu wollen, welche Bedeutung es hat, warum die Dinge geschehen«, so läßt sich diesem scheinbar resignierten Nihilismus immer noch ein gewisser taktischer Nihilismus entgegenhalten: Wo Massenmedien und Massenmeinung mit wenig Aufwand als gelenkt und realitätsfern zu entlarven sind, bedarf es keiner zusätzlichen Tiefenanalyse dieser Phänomene.
Die einzig sinnvolle Folgerung ist, sich aus dem gelenkten Gedankenfluß herauszunehmen und – wenn überhaupt – für Parallel- und Gegenstrukturen zu öffnen, ebenso wie für den Anspruch, die Dinge ganz anders machen und eine echte Alternative bilden zu wollen.
Darin liegt ein Quell für die ersehnten Radikalen, auch wenn sie nicht den von Curtis präferierten Stallgeruch tragen.