Wo sind die Radikalen? Adam Curtis und die postpolitische Erstarrung

PDF der Druckfassung aus Sezession 105/Dezember 2021

Nils Wegner

Nils Wegner ist studierter Historiker, lektorierte 2015–2017 bei Antaios, IfS und Sezession und arbeitet als Übersetzer.

Caro­lin Amlin­ger ist Lite­ra­tur­wis­sen­schaft­le­rin an der Uni­ver­si­tät Basel und hat, wie so vie­le Nach­wuchs­aka­de­mi­ker, das Ohr am Puls der Zeit – wo das nicht in eine Beschäf­ti­gung mit irgend­wel­chen Gen­der­fra­gen mün­det, da läuft es heu­te meist auf die Ana­ly­se irgend­ei­nes Aspekts von »Popu­lis­mus« hinaus.

Amlin­ger betreibt die­se im Rah­men des aus­ufern­den ger­ma­nis­ti­schen Pro­jekts »Halb-Wahr­hei­ten. Wahr­heit, Fik­ti­on und Kon­spi­ra­ti­on im ›post­fak­ti­schen‹ Zeit­al­ter«. Unüber­seh­bar ist dabei der Medien­fokus, ver­ständ­li­cher­wei­se: Hat doch der polit­me­dia­le Kon­sens die west­li­chen Gesell­schaf­ten mehr als vier Jahr­zehn­te lang vor allen poten­ti­ell gefähr­li­chen For­men des Popu­lis­mus abge­schirmt und abwei­chen­de (oder, mit einem aktu­el­len Mode­wort: »hete­ro­do­xe«) Ansich­ten ent­we­der gar nicht erst abge­bil­det oder als min­der­be­mit­telt-unver­ant­wort­lich-unmo­ra­lisch-unso­zi­al und ins­ge­samt unbe­rühr­bar kon­tex­tua­li­siert. Wie auch popu­lis­tisch sein, wenn Aug’ und Ohr des Popu­lus schlicht nicht erreich­bar sind?

Eine vor die­sem Hin­ter­grund uner­läß­li­che ehr­li­che Selbst- und Medi­en­kri­tik von rechts, die den Namen ver­dient und sich der seit Mit­te der 1960er geleis­te­ten undog­ma­tisch-lin­ken Vor­ar­beit bedient, läßt exter­ne Beob­ach­ter im ers­ten Moment per­plex zurück, wie Amlin­ger in ihrer dies­be­züg­li­chen Bestands­auf­nah­me für Aus­ga­be 2 / 2020 der sozio­lo­gi­schen Vier­tel­jah­res­zeit­schrift Levia­than bezeugt: Wie konn­te es nur so weit kom­men, daß Theo­re­ti­ker der »Fran­zö­si­schen Schu­le« wie Bau­dril­lard, Deleu­ze und Debord für rech­te Kri­tik »miß­braucht« wer­den, wo sie selbst doch ein­zig nach mehr Eman­zi­pa­ti­on, mehr Frei­heit gestrebt hätten?

Viel­leicht liegt die­ser Annah­me ein grund­fal­scher Frei­heits­be­griff zugrun­de, den die (Massen-)Medien nicht nur immer wei­ter repro­du­zie­ren, son­dern auch selbst geschaf­fen haben. Es könn­te auf­schluß­reich sein, hin­ter den Schlei­er der uns umge­ben­den Medi­en­ge­sell­schaft, wie sie neben unse­rem Kon­sum­ver­hal­ten sogar unse­re Wahr­neh­mung und unser Bewußt­sein selbst formt, zu blicken.

Ganz ähn­li­che Inter­es­sen hat der mehr­fach preis­ge­krön­te bri­ti­sche Doku­men­tar­fil­mer und Pro­du­zent Adam Cur­tis – »einer, der die Mythen erforscht«, wie es die Zeit Anfang 2017 umris­sen hat. Von den ihn bespre­chen­den Main­stream­pu­bli­ka­tio­nen egal wel­cher Spra­che schei­nen die wenigs­ten über das nöti­ge Refle­xi­ons­ver­mö­gen zu ver­fü­gen, sich selbst in den von Cur­tis atta­ckier­ten »Mythen« der Kul­tur­in­dus­trie mit­ge­meint zu sehen.

Hier­zu­lan­de kommt das ohne­hin nicht oft vor: Trotz einer mitt­ler­wei­le vier Jahr­zehn­te umfas­sen­den Lauf­bahn ist der 1955 in Dart­ford / Kent gebo­re­ne Fil­me­ma­cher im deutsch­spra­chi­gen Raum eher ein Geheimtip.

Immer­hin mach­te er bei der Ruhr­tri­en­na­le 2013 durch sei­nen gemein­sa­men Bei­trag mit einer legen­dä­ren bri­ti­schen Trip-Hop-Band von sich reden: »Mas­si­ve Attack V Adam Cur­tis« quetsch­te die Zuschau­er zwi­schen rie­si­ge, huf­ei­sen­för­mig ange­ord­ne­te Lein­wän­de, die zwei Stun­den lang rasan­te his­to­risch-pop­kul­tu­rel­le Bild­col­la­gen zeig­ten und eine kalei­do­sko­pi­sche Abbil­dung von Auf­stieg und Zusam­men­bruch, von gro­ßen Uto­pien und geschei­ter­ten Träu­men lie­fer­ten, wäh­rend die Musi­ker unsicht­bar blieben.

Die­se wort­wört­li­che Mas­si­ve attack auf Sin­ne und Unter­hal­tungs­an­spruch der Kon­su­men­ten sorg­te für Ver­stim­mung und sehr ver­hal­te­ne Rezen­sio­nen. Erst 2015 voll­brach­te es das Ber­li­ner freie Thea­ter »Heb­bel am Ufer« (HAU), ein gan­zes »Adam Cur­tis Weekend« aus­zu­rich­ten, in des­sen Rah­men der Gast nicht nur an einer Podi­ums­dis­kus­si­on über die »Unsicht­bar­keit moder­ner Macht« teil­nahm und sei­nen neu­en Film Bit­ter Lake über die eigen­tüm­li­che Wech­sel­wir­kung zwi­schen Afgha­ni­stan und der west­li­chen Welt vorführte.

Der Fil­me­ma­cher bestritt auch ein abend­li­ches Zwie­ge­spräch über die Bedeu­tung der Psy­cho­ana­ly­se für die spät­mo­der­ne Massen(ver)führung – Kana­li­sie­rung von Begeh­ren statt Berück­sich­ti­gung von Bedürf­nis­sen – mit nie­mand ande­rem als dem Kul­tur­theo­re­ti­ker Mark Fisher (sie­he Sezes­si­on 101). Des­sen eige­ner freu­domar­xis­tisch gepräg­ter Zugriff auf die neo­li­be­ra­le Ver­schwis­te­rung von Kul­tur­in­dus­trie und Ver­wal­tungs­staat führ­te ihn zu der fata­len Dia­gno­se eines »kapi­ta­lis­ti­schen Rea­lis­mus«, der sei­ne schein­ba­re »Alter­na­tiv­lo­sig­keit« durch­set­ze und auf die­se Wei­se ech­te Inno­va­ti­on eben­so ersti­cke wie die eigent­lich poli­ti­sche Denk­bar­keit fun­da­men­tal ande­rer Wirk­lich­kei­ten, bis alles in einer ver­pan­zer­ten ewi­gen Gegen­wart erstarrt sei.

Ein für Cur­tis nicht frem­der Blick auf die Din­ge – und tat­säch­lich ent­hüll­te die­ser erst kürz­lich im sozia­lis­ti­schen US-Maga­zin Jaco­bin, sich mit dem 13 Jah­re jün­ge­ren Fisher zu des­sen Leb­zei­ten regel­mä­ßig zu Dis­kus­sio­nen getrof­fen zu haben.

Dabei hat­te alles beschau­lich ange­fan­gen: Adam Cur­tis kam als Sohn eines links gepräg­ten Kame­ra­manns zur Welt, konn­te dank eines Sti­pen­di­ums die exklu­si­ve Seven­oaks School besu­chen und lern­te dort die Arbeit des Pop-Art-Künst­lers Robert Rau­schen­berg ken­nen, der die Kluft zwi­schen künst­le­ri­scher Dar­stel­lung und Lebens­rea­li­tät durch ein unver­än­der­tes Her­ein­ho­len letz­te­rer in ers­te­re über­win­den woll­te; eine Her­an­ge­hens­wei­se, die sich in Cur­tis’ spä­te­rem Archiv­col­la­gen­stil nie­der­schla­gen sollte.

Nach einem Abschluß in Human­wis­sen­schaf­ten begann er ein Dis­ser­ta­ti­ons­vor­ha­ben inklu­si­ve Lehr­tä­tig­keit in Poli­to­lo­gie, ent­frem­de­te sich jedoch – ganz ähn­lich wie Fisher – zuse­hends dem aka­de­mi­schen Betrieb und ging Anfang der 1980er zur BBC.

Der dor­ti­gen »Trash«-Ausbildung samt Kurz­film über Ähn­lich­kei­ten im Design von abge­ho­be­ner Mode und High-Tech-Waf­fen­sys­te­men sowie Repor­ta­gen unter ande­rem über spre­chen­de Hun­de schreibt Cur­tis sei­ne heu­ti­ge Vir­tuo­si­tät in viel­deu­ti­gen Anspie­lun­gen und emo­tio­na­ler Erzähl­wei­se zu. Die ers­te grö­ße­re Regie­ar­beit stell­te 1983 eine Epi­so­de der Serie Just Ano­ther Day dar, die die Hin­ter­grün­de von Insti­tu­tio­nen des ­Bri­tish way of life abbil­de­te: Die Büh­ne war das Lon­do­ner Kauf­haus Sel­fri­d­ges, auf des­sen 85 000 Qua­drat­me­tern Laden­flä­che ein Ensem­ble von 3000 Ange­stell­ten täg­lich dem Auf­trag ver­pflich­tet war, »die Men­schen zu unter­hal­ten und nicht nur ihr Geld zu neh­men« – von der größ­ten Par­fü­me­rie­ab­tei­lung der Welt über die mög­lichst natur­na­he Ani­ma­ti­on eines mecha­ni­schen Kamels bis hin zum haus­in­ter­nen Fahr­stuhl­füh­rer, der vor der Kame­ra sein Leben als »ein stän­di­ges Auf und Ab bezeichnet«.

Cur­tis’ Talent für denk­wür­di­ge, nur behut­sam kom­men­tier­te Moment­auf­nah­men zieht sich wei­ter durch sei­nen zwei­ten Bei­trag zu Just Ano­ther Day und den geschicht­li­chen Abriß über das Metier der Kriegs­be­richt­erstat­ter in ­Trumpets and Type­writers.

Im Fol­ge­jahr wag­te sich Cur­tis auf kon­tro­ver­se­res Ter­rain vor, indem er in The Cost of Tre­a­chery (»Der Preis des Ver­rats«) die kata­stro­phal geschei­ter­te bri­tisch-ame­ri­ka­ni­sche Para­mi­li­tär­ope­ra­ti­on »Valuable« the­ma­ti­sier­te, die gleich zu Beginn des Kal­ten Kriegs mit­tels Sabo­ta­ge­trupps die kom­mu­nis­ti­sche Regie­rung in Alba­ni­en desta­bi­li­sie­ren soll­te und bin­nen fünf Jah­ren rund 300 exil­al­ba­ni­sche Kämp­fer wort­wört­lich ver­heiz­te, weil bereits kurz nach Beginn ein Infor­ma­ti­ons­leck im bri­ti­schen Aus­lands­ge­heim­dienst offen­kun­dig gewor­den war, aber nie­mand den Ver­rat ein­ge­ste­hen woll­te und des­halb immer neue Kom­man­dos der bereits war­ten­den alba­ni­schen Armee vor die Roh­re gelie­fert wurden.

Im sel­ben Jahr por­trä­tier­te Cur­tis für die Rei­he Ita­li­ans den kom­mu­nis­ti­schen Bür­ger­meis­ter des süd­ita­lie­ni­schen Ört­chens Mon­te­mi­lo­ne, der den ver­blie­be­nen Ein­woh­nern ver­zwei­felt Arbeit bei einem nahe­ge­le­ge­nen Stau­damm­pro­jekt zu ver­schaf­fen ver­such­te, und ging für Inquiry dem »Gre­at Bri­tish Housing Dis­as­ter« nach: Im Vor­feld der bri­ti­schen Unter­haus­wahl von 1964 war die Labour-Par­tei in eine PR-Fal­le der Tories getappt und stand nach ihrem knap­pen Sieg mit dem illu­so­ri­schen Wahl­ver­spre­chen des Baus von 500 000 neu­en Woh­nun­gen pro Jahr da.

In der Fol­ge wur­den unaus­ge­reif­te Fer­tig­haus­tech­ni­ken im Schnell­ver­fah­ren appro­biert und mas­siv sub­ven­tio­niert, wor­auf­hin Bau­un­ter­neh­men noch ohne einen ein­zi­gen Auf­trag in neue Fer­ti­gungs­stra­ßen inves­tier­ten; der ent­ste­hen­de Teu­fels­kreis aus stän­di­gem Zeit- und Geld­druck führ­te zur Ver­wen­dung min­der­wer­ti­gen Mate­ri­als und kon­stan­tem Pfusch am Bau, so daß bereits nach zehn Jah­ren die ers­ten Wohn­tür­me schlicht aus­ein­an­der­zu­fal­len began­nen, bis zur Aus­strah­lung der Doku­men­ta­ti­on 1984 bereits rund 10 000 Woh­nun­gen wie­der abge­ris­sen wer­den muß­ten und die Erhal­tung der Gebäu­de ihre Bau­kos­ten um das bis zu Fünf­zig­fa­che überstieg.

Der Schat­ten die­ser Affä­re liegt noch auf unse­rer Gegen­wart – beim 2017 mit 72 Toten aus­ge­brann­ten Gren­fell Tower in Lon­don han­del­te es sich um einen Ver­such, die ekla­tan­tes­ten Män­gel der ers­ten Woh­nungs­turm­ge­ne­ra­ti­on kos­ten­güns­tig auszubügeln.

Das ers­te der umfas­sen­den, mehr­tei­li­gen Groß­pro­jek­te, für die ­Cur­tis heu­te bekannt ist, rea­li­sier­te er 1988 als rei­ner Pro­du­zent: An Oce­an Apart bil­det in sie­ben Epi­so­den die wech­sel­vol­len Bezie­hun­gen zwi­schen den USA und Groß­bri­tan­ni­en ab, von der extre­men Ver­schul­dung des damals noch bestehen­den Empire bei sei­ner einst­ma­li­gen Kolo­nie im Ers­ten Welt­krieg bis hin zur halb­ver­deck­ten logis­ti­schen Unter­stüt­zung Ame­ri­kas für die Bri­ten im Falk­land­krieg, ohne wel­che Mar­ga­ret That­cher nach ein­hel­li­ger Exper­ten­mei­nung den Rück­zug vor Argen­ti­ni­en hät­te anord­nen müs­sen und nie­mals ihren Ruf als »Eiser­ne Lady« erlangt hätte.

Nach sei­ner eige­nen Ein­schät­zung fand Cur­tis sei­ne ganz eige­ne fil­mi­sche »Stim­me« jedoch erst mit einem Bei­trag für das For­mat Insi­de Sto­ry, in dem er den beauf­trag­ten Bericht über den Wan­del der Ira­ni­schen Revo­lu­ti­on von einer idea­lis­ti­schen zu einer auto­ri­tär-repres­si­ven Bewe­gung eigen­mäch­tig mit der Geschich­te der Fran­zö­si­schen Revo­lu­ti­on durch­misch­te (»The Road to Ter­ror«, 1989) – für die­sen uner­wünsch­ten »Kunst­film« wäre er um Haa­res­brei­te ent­las­sen wor­den, wenn sich nicht der dama­li­ge BBC2-Lei­ter Alan Yent­ob für ihn und sei­nen ganz eige­nen Stil ein­ge­setzt hätte.

Den Durch­bruch brach­te dann 1992 Pandora’s Box. A Fable From the Age of Sci­ence, eine sechs­tei­li­ge Betrach­tung über das Ver­häng­nis tech­no­kra­ti­schen und büro­kra­ti­schen Den­kens in der Moder­ne – weit asso­zia­tiv auf­ge­spannt von der nuklea­ren Bedro­hung und dem eben erst aus­ge­lau­fe­nen Sys­tem­kon­flikt zwi­schen Ost und West bis hin zur bri­ti­schen Wirt­schaft der 1970er und dem über­schie­ßen­den Ein­satz des hoch­gif­ti­gen Pflan­zen­schutz­mit­tels DDT.

Die Kon­stan­ten in Cur­tis’ kri­ti­schem Werk nah­men hier ihren Aus­gang, so etwa die Rück­füh­rung des Neo­li­be­ra­lis­mus mit sei­ner kon­su­mis­ti­schen Ver­su­chung des Bür­gers auf die wis­sen­schaft­li­che Sys­tem­ana­ly­se und die Spiel­theo­rie wie auch die büro­kra­tisch ver­ord­ne­te »Schock­the­ra­pie« der radi­ka­len Pri­va­ti­sie­rung und nach­ge­ra­den Aus­schlach­tung ehe­mals sozia­lis­ti­scher Staa­ten durch Inves­to­ren und mul­ti­na­tio­na­le Kon­zer­ne, vom Gha­na der 1960er bis in die Gemein­schaft Unab­hän­gi­ger Staa­ten nach dem Zusam­men­bruch der Sowjet­uni­on. Ent­lang der glei­chen Erzähl­strän­ge ver­lau­fen auch, jeweils aktua­li­siert, The Cen­tu­ry of the Self (2002) über die Fol­gen der Psy­cho­ana­ly­se für Wirt­schaft und Poli­tik, indem nach der Ent­wick­lung der »Pro­pa­gan­da« (spä­ter: »Public ­Rela­ti­ons«) durch den Freud-Nef­fen Edward Ber­nays bei­de Gesell­schafts­be­rei­che in ihrer – oft wohl­mei­nen­den – Absicht der Mani­pu­la­ti­on und der Kon­di­tio­nie­rung über Par­tei- und Ideo­lo­giegren­zen hin­weg zuein­an­der fan­den und sich der glei­chen Tech­ni­ken und Exper­ten zu bedie­nen began­nen, sowie The Trap. What Hap­pen­ed to Our Dream of Free­dom? (2007), wor­in der moder­ne Frei­heits­be­griff auf die Schre­ckens­vi­si­on eines nur an sei­nem eige­nen Wohl inter­es­sier­ten, wie ein Robo­ter steu­er­ba­ren Dau­er­kon­su­men­ten zurück­ge­führt und somit nicht weni­ger als das gesam­te Gerüst der »west­li­chen Wer­te« in Fra­ge gestellt wird.

Die­se recht scho­nungs­lo­sen Ana­ly­sen wir­ken jedoch eben­so auch auf den heu­te von rechts oft wohl­wol­lend betrach­te­ten »Popu­lis­mus« zurück. Denn was ande­res war es, als sich die Reagan‑, Thatcher‑, Clinton‑, Blair- und Brown-Regie­run­gen alle­samt der Markt­for­schungs­tech­nik der Fokus­grup­pe bedien­ten, um die unbe­wußt-emo­tio­na­le Anzie­hungs­kraft ihrer Maß­nah­men­ent­wür­fe zu prü­fen und sie ent­spre­chend »gefäl­li­ger« zu gestal­ten, anstatt sich aus­schließ­lich an der jewei­li­gen Fak­ten­la­ge zu orientieren?

Was ande­res ist es heu­te, wenn – wie von Zeit Online ana­ly­siert – Ange­la Mer­kel sich von 2015 bis 2021 demo­sko­pi­sche »Wochen­be­rich­te« vor­le­gen ließ, die von Infra­test und For­sa exklu­siv für Kanz­ler- und Bun­des­pres­se­amt ange­fer­tigt wur­den und anhand des Bevöl­ke­rungs­in­ter­es­ses die jewei­li­gen Schwer­punkt­the­men der fol­gen­den sie­ben Regie­rungs­ta­ge vor­ga­ben? Steht nicht soeben ein unlängst noch amtie­ren­der öster­rei­chi­scher Bun­des­kanz­ler vor Gericht, weil er dafür bezahlt haben soll, daß Umfra­ge­er­geb­nis­se zu sei­nen Guns­ten fri­siert wur­den – in der Erwar­tung, daß der Durch­schnitts­bür­ger sei­ne Mei­nung schon an der angeb­li­chen Mehr­heits­mei­nung aus­rich­ten werde?

Vie­le Fil­me Adam Cur­tis’ sind weit­aus weni­ger Doku­men­ta­tio­nen denn Medi­ta­tio­nen, die in ihrer teils extrem eklek­ti­zis­ti­schen Vor­ge­hens­wei­se Betrach­ter im ers­ten Anlauf eher irri­tie­ren als inspi­rie­ren. So wur­de ihm schon vor­ge­wor­fen, eine ganz eige­ne Art des Pas­ti­ches ent­wi­ckelt zu haben, also die von ihm fort­wäh­rend kri­ti­sier­ten Mecha­nis­men der Mas­sen­me­di­en teils iro­nisch, teils wohl unab­sicht­lich selbst zu repro­du­zie­ren, »[…] indem die kleins­te Ähn­lich­keit oder Über­schnei­dung zwi­schen zwei völ­lig ver­schie­de­nen The­men als Recht­fer­ti­gung her­hal­ten muß, um sich vor­be­halt­los in ein noch mal ganz ande­res drit­tes hin­ein­zu­stür­zen« (New Sta­tes­man).

Dies mag jedoch auch dem wei­ten Feld des poli­tisch-wirt­schaft­lich-medi­al-mas­sen­psy­cho­lo­gi­schen Kom­ple­xes geschul­det sein, gegen den Cur­tis seit nun­mehr 30 Jah­ren werkt und in sei­ner Mar­ken­zei­chen-Arbeits­wei­se aus den unüber­schau­ba­ren Bestän­den des BBC-Archivs die ent­le­gens­ten Film­schnip­sel her­vor­holt, um auf ihnen induk­tiv vom win­zi­gen Detail zur ganz gro­ßen Kor­rup­ti­on empor­zu­stei­gen: In sei­nem jüngs­ten, epi­sche acht Stun­den in sechs Epi­so­den umfas­sen­den Werk, Can’t Get You Out of My Head. An Emo­tio­nal Histo­ry of the Modern World vom Febru­ar 2021, ver­webt er den Lebens­weg der Mao-Ehe­frau Jiang Qing mit dem Auf­kom­men der Glo­ba­li­sie­rung, diver­sen Revo­lu­ti­ons- und Ter­ror­grup­pen auf der gan­zen Welt, dem Span­nungs­ver­hält­nis zwi­schen Staat und (Welt-)Wirtschaft und der Ent­ste­hung der Visi­on einer Welt ohne Gren­zen zu einem alp­traum­haf­ten Stru­del, der – ein­mal mehr, aber um so aku­ter – in die Tris­tesse einer gänz­lich ent­po­li­ti­sier­ten Gegen­wart mün­det. In Men­schen, deren Blick auf die Zukunft von den medi­al am Leben gehal­te­nen Gespens­tern der Ver­gan­gen­heit ver­stellt ist und die sich des­halb aller grund­sätz­li­chen – radi­ka­len – Visio­nen und Hoff­nun­gen für das Mor­gen ent­schla­gen, um die Gegen­wart zu ver­län­gern und mög­lichst pro­blem­frei zu verwalten.

Es braucht wohl immer mal wie­der das kri­ti­sche Auge eines unor­tho­do­xen Lin­ken, um mit fri­schem Blick auf die Lage zu sehen. Selbst wenn Cur­tis in Can’t Get You Out of My Head für aus­ge­macht hält, daß es bereits »sinn­los [sei], ver­ste­hen zu wol­len, wel­che Bedeu­tung es hat, war­um die Din­ge gesche­hen«, so läßt sich die­sem schein­bar resi­gnier­ten Nihi­lis­mus immer noch ein gewis­ser tak­ti­scher Nihi­lis­mus ent­ge­gen­hal­ten: Wo Mas­sen­me­di­en und Mas­sen­mei­nung mit wenig Auf­wand als gelenkt und rea­li­täts­fern zu ent­lar­ven sind, bedarf es kei­ner zusätz­li­chen Tie­fen­ana­ly­se die­ser Phänomene.

Die ein­zig sinn­vol­le Fol­ge­rung ist, sich aus dem gelenk­ten Gedan­ken­fluß her­aus­zu­neh­men und – wenn über­haupt – für Par­al­lel- und Gegen­struk­tu­ren zu öff­nen, eben­so wie für den Anspruch, die Din­ge ganz anders machen und eine ech­te Alter­na­ti­ve bil­den zu wollen.

Dar­in liegt ein Quell für die ersehn­ten Radi­ka­len, auch wenn sie nicht den von Cur­tis prä­fe­rier­ten Stall­ge­ruch tragen.

Nils Wegner

Nils Wegner ist studierter Historiker, lektorierte 2015–2017 bei Antaios, IfS und Sezession und arbeitet als Übersetzer.

Nichts schreibt sich
von allein!

Das Blog der Zeitschrift Sezession ist die wichtigste rechtsintellektuelle Stimme im Netz. Es lebt vom Fleiß, von der Lesewut und von der Sprachkraft seiner Autoren. Wenn Sie diesen Federn Zeit und Ruhe verschaffen möchten, können Sie das mit einem Betrag Ihrer Wahl tun.

Sezession
DE58 8005 3762 1894 1405 98
NOLADE21HAL

Kommentare (0)