Seit 2013, der Geburtsstunde der Bewegung Black Lives Matter (BLM), wird Amerika von den Fieberschüben einer neuen Prohibition erschüttert. Nichts scheint sie aufhalten zu können, weder groteske Auswüchse noch Lächerlichkeit. Unter der Fuchtel der Minderheiten hat sich der »Wokismus« herausgebildet. Er zwingt uns dazu, den vielschichtigen Gegensatz zwischen Priester und Narr neu zu überdenken. Denn hier ist der Narr zum Priester geworden: Er hat Narrenschellen an die päpstliche Tiara gehängt und die Herrschaft über die Menschen an sich gerafft.
Die Krawalle 2014 in Ferguson, im Staat Missouri, waren der Auftakt zu diesem riesigen Mummenschanz. Seit dieser Zeit hat man den Eindruck, sich inmitten eines mittelalterlichen Narrenfestes zu befinden, nur daß hier die Umstürzung der Werte das ganze Jahr über betrieben wird und nicht bloß beim Rutsch ins neue Jahr. Alterslose asiatische Amerikaner, die noch den Maoismus kennengelernt haben, glauben sich zurückversetzt in die wahnsinnige Zeit der Kulturrevolution.
Das einzige, was anders ist: Es gibt nicht mehr die Standgerichte, die Verbannungen in die Reisfelder, die Kannibalismusszenen. Dieses Stadium haben wir überwunden. Hinter Euphemismen versteckt, ist die Gewalt jetzt in erster Linie rhetorisch, aber die Beweggründe bleiben nichtsdestoweniger dieselben. Es ist der gleiche Terror, die gleiche viktimistische Geisteshaltung, der gleiche bilderstürmerische Furor, der gleiche karnevalistische Rollentausch, der gleiche rachlüsterne Grimm. »Zerschlagt die vier Alten!« soufflierte Jiang Qing, Mao Tse-tungs letzte Ehefrau (die alten Denkweisen, die alte Kultur, die alten Sitten, die alten Gewohnheiten). Woraufhin die Rotgardisten im Chor echoten: »Tod den fünf schwarzen Kategorien!« (von den Grundbesitzern bis zu den rechten Elementen). Ab jetzt gilt: Immer druff auf die Weißen!
Peking 1966, Evergreen 2017 – benannt nach einer Universität im US-Bundesstaat Washington, einem dieser Tempel des inklusiven Progressismus, in dem es im Frühjahr 2017 zu einer Studentenrevolte kam. Ein YouTuber hat die Szenen festgehalten. Die Studenten ähnelten da alle irgendwelchen Zombies aus einem billigen Horrorfilm, einer Art Scream der Linksradikalen, einem teen movie koproduziert von Netflix und Mao Tse-tung. Alle gleichermaßen häßlich, wie in unförmige Müllsäcke gekleidet, lasen sie den Professoren die Leviten. Es wurde verboten, das Wort an einen schwarzen Studenten zu richten und dabei die Stimme zu heben, ihm dabei in die Augen zu schauen, dabei mit den Händen zu gestikulieren! Die unglücklichen Universitätsgrößen, die nicht zu Kreuze krochen, wurden sofort verstoßen. Der Woke-Wahn im Reinzustand.
Was ist Wokismus? Woke sein heißt, »erwacht« zu sein. Der Begriff kam innerhalb der afroamerikanischen Community auf. Woke ist, wer sieht – und zwar in dem vom Evangelium suggerierten Wortsinn: »Ihr habt Augen, und sehet nicht«. Was sieht der Woke, was uns entgeht? Daß es Rassen gibt, daß es die Schwarzen, die Gelben gibt und über allen die Weißen, die eine Welt nach ihren eigenen Bedürfnissen errichtet haben.
Mit Black Lives Matter hat das Phänomen solche Ausmaße angenommen, daß man begonnen hat, vom »Great Awokening« zu sprechen in Anspielung auf das Great Awakening, die großen religiösen Erweckungsbewegungen, die seit dem 18. Jahrhundert in regelmäßigen Schüben Amerika erschüttern. Nur daß diesmal das WASP-Amerika das Ziel der Angriffe ist und nach allen Regeln der Kunst einer damnatio memoriae unterworfen wird, d. h. der alten römischen Praxis, die Spuren der störenden Leichen zu beseitigen – zu »canceln« (damals schon).
In einer von Fondapol veröffentlichten, sehr differenzierten Studie, Die Woke-Ideologie. Anatomie des Wokismus, hat ihr junger Verfasser Pierre Valentin eine Genealogie dieses Phänomens aufgestellt: marxistisch, dann postmarxistisch; modernistisch, dann postmodernistisch; ohne dabei die allgegenwärtige religiöse Dimension unter den Teppich zu kehren. Bestätigt wird dies auch von Professor Joseph Bottum, Autor des Buches An Anxious Age. The Post-Protestant Ethic and the Spirit of America (2014), dem es gelingt, den Wokismus als einen Post-Protestantismus zu definieren. Historisch gesehen interessierte sich der Protestantismus kaum für politische Belange, aber als er vor gut fünfzig Jahren an Terrain zu verlieren begann, vor allem bei den Liberalen, besetzte er das politische Feld, indem er sich auf sozial marginalisierte Gruppen konzentrierte.
In einem US-amerikanischen Klassiker hat der Politologe Thomas Sowell diese Bewegung als die »Suche nach kosmischer Gerechtigkeit« charakterisiert. Dieser Ausdruck, etwas befremdlich für einen Europäer, ist jedoch sehr hilfreich, wenn wir die im Wokismus sich manifestierende Entgleisung des Ideals der »sozialen Gerechtigkeit« verstehen wollen. Statt zu verlangen, daß die Regeln für alle gleich seien (Gerechtigkeit im klassischen Sinne des Wortes), wollen die Woken, daß für einen jeden eigene Regeln gelten sollen, da dies die einzige Art sei, die strukturellen Ungleichheiten zu korrigieren: positive Diskriminierung für die einen, negative für die anderen.
Wir befinden uns damit mitten in der kalvinistischen Lehre von der doppelten Prädestination: Es gibt einerseits die Erwählten, andererseits die Verdammten, letztere ohne Möglichkeit der Erlösung. Hienieden ist alles Schändlichkeit, Rassismus, Ungerechtigkeit. Der weiße Dämon ist einfach überall. Diese religiöse Interpretation des Wokismus stimmt mit jener von Joshua Mitchell überein (American Awakening. Identity Politics and Other Afflictions of Our Time, 2020). Mitchell hebt einen Punkt besonders hervor: Das schwerwiegendste Problem, welches das Christentum lösen muß, ist nicht so sehr das Problem des Todes als vielmehr das Problem der Sünde. Wer aber Sünde sagt, meint Schuld, Geständnis, Prozeß, Buße, Wokismus.
Pierre Valentin verweist auch auf die Arbeiten von Bradley Campbell und Jason Manning, die in ihrem Gemeinschaftswerk The Rise of Victimhood Culture. Microaggressions, Safe Spaces, and the New Culture Wars (2018) gezeigt haben, wie die Gesellschaften sich aus einer Kultur der Ehre in eine Kultur der Würde und danach in eine Kultur der Viktimisierung verwandelt haben. Diese auf der Viktimisierung aufbauende Kultur erklärt die Hyperempfindlichkeit der Woken für Mikroaggressionen.
Unterm Mikroskop bekommen Mikroaggressionen enorme Ausmaße. Diese Viktimisierungskultur bedarf zu ihrer Entfaltung einer Reihe von Vorbedingungen: allen zugängliche soziale Netzwerke, die von einer willfährigen und mit Entscheidungsgewalt ausgestatteten Bürokratie unterstützt werden; eine Schwächung des gesellschaftlichen Zusammenhalts, so daß die Gemeinschaft die »Opfer« nicht mehr aufzufangen vermag, was wiederum zur Notwendigkeit eines administrativen Organs führt, dem in letzter Instanz die richterliche Gewalt zukommt; ein Auseinanderklaffen von Opferhaltung und sozialer Realität der Opfer, die den wohlhabendsten sozialen Schichten angehören und an der Universität, da sie in ihrer Kindheit überbehütet waren, einen Schutzraum suchen, der ihnen die »emotionale Sicherheit« garantieren soll; eine große ethnische Diversität, die letztlich ein Hinweis darauf ist, daß reale Ungleichheiten nur noch in Resten vorhanden sind, womit das Tocquevillesche Paradoxon veranschaulicht wird: »Je geringer die reale Diskriminierung, desto vehementer die Proteste gegen die bloß in Rückständen vorhandenen oder illusorischen Diskriminierungen« (Valentin).
Eines der vollständigsten Bücher zur Genealogie des Wokismus ist jenes von Helen Pluckrose und James Lindsay – denen wir auch die zwanzig Hoax-Artikel verdanken, darunter eine Fake-Studie über die »Vergewaltigungskultur bei Hunden in Hundeparks«, die 2018 im Wissenschaftsjournalismus für einen Eklat sorgten. Besagtes Buch heißt nun Cynical Theories (2020). Die Autoren nehmen im Wokismus den Postmodernismus in Aktion unter die Lupe, welcher die großen christlichen Leitmotive (Erbsünde, öffentliche Beichte) reproduziert, wobei er letztere ins mentale Universum des Dekonstruktivismus verpflanzt, d. h. ins Universum eines Wissens, das nie objektiv, nie wissenschaftlich, aber immer parteiisch, immer einem Diskursregime dienstbar ist.
Von einer anderen Warte aus sieht der äußerst geistreiche kanadische Professor Eric Kaufmann im Wokismus das Erbe des von ihm nicht ohne Grund so genannten liberalen Fundamentalismus. Seiner Ansicht nach sind die Wurzeln des Wokismus weit eher im Liberalismus als im Sozialismus zu suchen. Der Sozialismus interessierte sich für Massen, nicht für Minderheiten. Die Sensibilisierung für Minderheiten ist eines der Kennzeichen des politischen Liberalismus. Sie bringt die Liberalen dazu, einen für alle – außer für die Weißen – offenen »asymmetrischen Multikulturalismus« zu fördern, der gerade deshalb so virulent ist, weil es zu seiner Regulierung überhaupt keine höchstinstanzliche Autorität gibt, weder eine politische noch eine theologische – dies ein weiteres protestantisches Merkmal. Im Gegenteil: Man beobachtet – der Wettbewerb bringt es nun mal mit sich! – einen Effekt gegenseitiger Überbietung und Radikalisierung.
Doch niemand kann Nietzsche das Wasser reichen. Legt man an den Wokismus die Elle des Autors der Genealogie der Moral an, ist das Ergebnis vernichtend. Der Wokismus entpuppt sich als der Rachedurst der niedrigsten Elemente: der Tschandalas, der Kastenlosen. Niemand ist gnadenloser als sie – und immer findet sich einer, der ihre jahrhundertealte schwarze Rache ausführt.
Dieser Beitrag erschien zuerst in der Zeitschrift Éléments, Nr. 192. Die Übersetzung der hier gekürzt abgedruckten Fassung besorgte Christa Nitsch.