Wokismus oder: im Lande Calvins und Walt Disneys

von François Bousquet

PDF der Druckfassung aus Sezession 105/ Dezember 2021

Seit 2013, der Geburts­stun­de der Bewe­gung Black Lives Mat­ter (BLM), wird Ame­ri­ka von den Fieber­schüben einer neu­en Pro­hi­bi­ti­on erschüt­tert. Nichts scheint sie auf­hal­ten zu kön­nen, weder gro­tes­ke Aus­wüch­se noch Lächer­lich­keit. Unter der Fuch­tel der Min­der­hei­ten hat sich der »Wokis­mus« her­aus­ge­bil­det. Er zwingt uns dazu, den viel­schich­ti­gen Gegen­satz zwi­schen Pries­ter und Narr neu zu über­den­ken. Denn hier ist der Narr zum Pries­ter gewor­den: Er hat Nar­ren­schel­len an die päpst­li­che Tia­ra gehängt und die Herr­schaft über die Men­schen an sich gerafft.

Die Kra­wal­le 2014 in Fer­gu­son, im Staat Mis­sou­ri, waren der Auf­takt zu die­sem rie­si­gen Mum­men­schanz. Seit die­ser Zeit hat man den Ein­druck, sich inmit­ten eines mit­tel­al­ter­li­chen Nar­ren­fes­tes zu befin­den, nur daß hier die Umstür­zung der Wer­te das gan­ze Jahr über betrie­ben wird und nicht bloß beim Rutsch ins neue Jahr. Alters­lo­se asia­ti­sche Ame­ri­ka­ner, die noch den Mao­is­mus ken­nen­ge­lernt haben, glau­ben sich zurück­ver­setzt in die wahn­sin­ni­ge Zeit der Kulturrevolution.

Das ein­zi­ge, was anders ist: Es gibt nicht mehr die Stand­ge­rich­te, die Ver­ban­nun­gen in die Reis­fel­der, die Kan­ni­ba­lis­mus­sze­nen. Die­ses Sta­di­um haben wir über­wun­den. Hin­ter Euphe­mis­men ver­steckt, ist die Gewalt jetzt in ers­ter Linie rhe­to­risch, aber die Beweg­grün­de blei­ben nichts­des­to­we­ni­ger die­sel­ben. Es ist der glei­che Ter­ror, die glei­che vik­ti­mis­ti­sche Geis­tes­hal­tung, der glei­che bil­der­stür­me­ri­sche Furor, der glei­che kar­ne­va­lis­ti­sche Rol­len­tausch, der glei­che rach­lüs­ter­ne Grimm. »Zer­schlagt die vier Alten!« souf­flier­te Jiang Qing, Mao Tse-tungs letz­te Ehe­frau (die alten Denk­wei­sen, die alte Kul­tur, die alten Sit­ten, die alten Gewohn­hei­ten). Wor­auf­hin die Rot­gar­dis­ten im Chor echo­ten: »Tod den fünf schwar­zen Kate­go­rien!« (von den Grund­be­sit­zern bis zu den rech­ten Ele­men­ten). Ab jetzt gilt: Immer druff auf die Weißen!

Peking 1966, Ever­green 2017 – benannt nach einer Uni­ver­si­tät im US-Bun­des­staat Wa­shington, einem die­ser Tem­pel des inklu­si­ven Pro­gres­sis­mus, in dem es im Früh­jahr 2017 zu einer Stu­den­ten­re­vol­te kam. Ein You­Tuber hat die Sze­nen fest­ge­hal­ten. Die Stu­den­ten ähnel­ten da alle irgend­wel­chen Zom­bies aus einem bil­li­gen Hor­ror­film, einer Art Scream der Links­ra­di­ka­len, einem teen movie kopro­du­ziert von Net­flix und Mao Tse-tung. Alle glei­cher­ma­ßen häß­lich, wie in unför­mi­ge Müll­sä­cke geklei­det, lasen sie den Pro­fes­so­ren die Levi­ten. Es wur­de ver­bo­ten, das Wort an einen schwar­zen Stu­den­ten zu rich­ten und dabei die Stim­me zu heben, ihm dabei in die Augen zu schau­en, dabei mit den Hän­den zu ges­ti­ku­lie­ren! Die unglück­li­chen Universitäts­größen, die nicht zu Kreu­ze kro­chen, wur­den sofort ver­sto­ßen. Der Woke-Wahn im Reinzustand.

Was ist Wokis­mus? Woke sein heißt, »erwacht« zu sein. Der Begriff kam inner­halb der afro­ame­ri­ka­ni­schen Com­mu­ni­ty auf. Woke ist, wer sieht – und zwar in dem vom Evan­ge­li­um sug­ge­rier­ten Wort­sinn: »Ihr habt Augen, und sehet nicht«. Was sieht der Woke, was uns ent­geht? Daß es Ras­sen gibt, daß es die Schwar­zen, die Gel­ben gibt und über allen die Wei­ßen, die eine Welt nach ihren eige­nen Bedürf­nis­sen errich­tet haben.

Mit Black Lives Mat­ter hat das Phä­no­men sol­che Aus­ma­ße ange­nom­men, daß man begon­nen hat, vom »Gre­at Awo­ke­ning« zu spre­chen in Anspie­lung auf das Gre­at Awa­ke­ning, die gro­ßen reli­giö­sen Erwe­ckungs­be­we­gun­gen, die seit dem 18. Jahr­hun­dert in regel­mä­ßi­gen Schü­ben Ame­ri­ka erschüt­tern. Nur daß dies­mal das WASP-Ame­ri­ka das Ziel der Angrif­fe ist und nach allen Regeln der Kunst einer dam­na­tio ­memo­riae unter­wor­fen wird, d. h. der alten römi­schen Pra­xis, die Spu­ren der stö­ren­den Lei­chen zu besei­ti­gen – zu »can­celn« (damals schon).

In einer von Fon­da­pol ver­öf­fent­lich­ten, sehr dif­fe­ren­zier­ten Stu­die, Die Woke-Ideo­lo­gie. Ana­to­mie des Wokis­mus, hat ihr jun­ger Ver­fas­ser Pierre Valen­tin eine Genea­lo­gie die­ses Phä­no­mens auf­ge­stellt: mar­xis­tisch, dann post­mar­xis­tisch; moder­nis­tisch, dann post­mo­der­nis­tisch; ohne dabei die all­ge­gen­wär­ti­ge reli­giö­se Dimen­si­on unter den Tep­pich zu keh­ren. Bestä­tigt wird dies auch von Pro­fes­sor Joseph Bot­tum, Autor des Buches An Anxious Age. The Post-Pro­tes­tant Ethic and the Spi­rit of Ame­ri­ca (2014), dem es gelingt, den Wokis­mus als einen Post-Pro­tes­tan­tis­mus zu defi­nie­ren. His­to­risch gese­hen inter­es­sier­te sich der Pro­tes­tan­tis­mus kaum für poli­ti­sche Belan­ge, aber als er vor gut fünf­zig Jah­ren an Ter­rain zu ver­lie­ren begann, vor allem bei den Libe­ra­len, besetz­te er das poli­ti­sche Feld, indem er sich auf sozi­al mar­gi­na­li­sier­te Grup­pen konzentrierte.

In einem US-ame­ri­ka­ni­schen Klas­si­ker hat der Poli­to­lo­ge Tho­mas Sowell die­se Bewe­gung als die »Suche nach kos­mi­scher Gerech­tig­keit« cha­rak­te­ri­siert. Die­ser Aus­druck, etwas befremd­lich für einen Euro­pä­er, ist jedoch sehr hilf­reich, wenn wir die im Wokis­mus sich mani­fes­tie­ren­de Ent­glei­sung des Ide­als der »sozia­len Gerech­tig­keit« ver­ste­hen wol­len. Statt zu ver­lan­gen, daß die Regeln für alle gleich sei­en (Gerech­tig­keit im klas­si­schen Sin­ne des Wor­tes), wol­len die Woken, daß für einen jeden eige­ne Regeln gel­ten sol­len, da dies die ein­zi­ge Art sei, die struk­tu­rel­len Ungleich­hei­ten zu kor­ri­gie­ren: posi­ti­ve Dis­kri­mi­nie­rung für die einen, nega­ti­ve für die anderen.

Wir befin­den uns damit mit­ten in der kal­vi­nis­ti­schen Leh­re von der dop­pel­ten Prä­de­sti­na­ti­on: Es gibt einer­seits die Erwähl­ten, ande­rer­seits die Ver­damm­ten, letz­te­re ohne Mög­lich­keit der Erlö­sung. Hie­nie­den ist alles Schänd­lich­keit, Ras­sis­mus, Unge­rech­tig­keit. Der wei­ße Dämon ist ein­fach über­all. Die­se reli­giö­se Inter­pre­ta­ti­on des Wokis­mus stimmt mit jener von Joshua ­Mit­chell über­ein (Ame­ri­can Awa­ke­ning. Iden­ti­ty Poli­tics and Other Aff­lic­tions of Our Time, 2020). ­Mit­chell hebt einen Punkt beson­ders her­vor: Das schwer­wie­gends­te Pro­blem, wel­ches das Chris­ten­tum lösen muß, ist nicht so sehr das Pro­blem des Todes als viel­mehr das Pro­blem der Sün­de. Wer aber Sün­de sagt, meint Schuld, Geständ­nis, Pro­zeß, Buße, Wokismus.

Pierre Valen­tin ver­weist auch auf die Arbei­ten von Brad­ley Camp­bell und Jason Man­ning, die in ihrem Gemein­schafts­werk The Rise of Vic­tim­hood Cul­tu­re. Micro­ag­gres­si­ons, Safe Spaces, and the New Cul­tu­re Wars (2018) gezeigt haben, wie die Gesell­schaf­ten sich aus einer Kul­tur der Ehre in eine Kul­tur der Wür­de und danach in eine Kul­tur der Vik­ti­mi­sie­rung ver­wan­delt haben. Die­se auf der Vik­ti­mi­sie­rung auf­bau­en­de Kul­tur erklärt die Hyper­emp­find­lich­keit der Woken für Mikroaggressionen.

Unterm Mikro­skop bekom­men Mikro­ag­gres­sio­nen enor­me Aus­ma­ße. Die­se Vik­ti­mi­sie­rungs­kul­tur bedarf zu ihrer Ent­fal­tung einer Rei­he von Vor­be­din­gun­gen: allen zugäng­li­che sozia­le Netz­wer­ke, die von einer will­fäh­ri­gen und mit Ent­schei­dungs­ge­walt aus­ge­stat­te­ten Büro­kra­tie unter­stützt wer­den; eine Schwä­chung des gesell­schaft­li­chen Zusam­men­halts, so daß die Gemein­schaft die »Opfer« nicht mehr auf­zu­fan­gen ver­mag, was wie­der­um zur Not­wen­dig­keit eines admi­nis­tra­ti­ven Organs führt, dem in letz­ter Instanz die rich­ter­li­che Gewalt zukommt; ein Aus­ein­an­der­klaf­fen von Opfer­hal­tung und sozia­ler Rea­li­tät der Opfer, die den wohl­ha­bends­ten sozia­len Schich­ten ange­hö­ren und an der Uni­ver­si­tät, da sie in ihrer Kind­heit über­be­hü­tet waren, einen Schutz­raum suchen, der ihnen die »emo­tio­na­le Sicher­heit« garan­tie­ren soll; eine gro­ße eth­ni­sche Diver­si­tät, die letzt­lich ein Hin­weis dar­auf ist, daß rea­le Ungleich­hei­ten nur noch in Res­ten vor­han­den sind, womit das Toc­que­vil­le­sche Para­do­xon ver­an­schau­licht wird: »Je gerin­ger die rea­le Dis­kri­mi­nie­rung, des­to vehe­men­ter die Pro­tes­te gegen die bloß in Rück­stän­den vor­han­de­nen oder illu­so­ri­schen Dis­kri­mi­nie­run­gen« (Valen­tin).

Eines der voll­stän­digs­ten Bücher zur Genea­lo­gie des Wokis­mus ist jenes von Helen Pluck­ro­se und James Lind­say – denen wir auch die zwan­zig Hoax-Arti­kel ver­dan­ken, dar­un­ter eine Fake­-Stu­die über die ­»Ver­ge­wal­ti­gungs­kul­tur bei Hun­den in Hun­de­parks«, die 2018 im Wis­sen­schafts­jour­na­lis­mus für einen Eklat sorg­ten. Besag­tes Buch heißt nun Cyni­cal ­Theo­ries (2020). Die Autoren neh­men im Wokis­mus den Post­modernismus in Akti­on unter die Lupe, wel­cher die gro­ßen christ­li­chen Leit­mo­ti­ve (Erb­sün­de, öffent­li­che Beich­te) repro­du­ziert, wobei er letz­te­re ins men­ta­le Uni­ver­sum des Dekon­struk­ti­vis­mus ver­pflanzt, d. h. ins Uni­ver­sum eines Wis­sens, das nie objek­tiv, nie wis­sen­schaft­lich, aber immer par­tei­isch, immer einem Dis­kurs­re­gime dienst­bar ist.

Von einer ande­ren War­te aus sieht der äußerst geist­rei­che kana­di­sche Pro­fes­sor Eric Kauf­mann im Wokis­mus das Erbe des von ihm nicht ohne Grund so genann­ten libe­ra­len Fun­da­men­ta­lis­mus. Sei­ner Ansicht nach sind die Wur­zeln des Wokis­mus weit eher im Libe­ra­lis­mus als im Sozia­lis­mus zu suchen. Der Sozia­lis­mus inter­es­sier­te sich für Mas­sen, nicht für Min­der­hei­ten. Die Sen­si­bi­li­sie­rung für Min­der­hei­ten ist eines der Kenn­zei­chen des poli­ti­schen Libe­ra­lis­mus. Sie bringt die Libe­ra­len dazu, einen für alle – außer für die Wei­ßen – offe­nen »asym­me­tri­schen Mul­ti­kul­tu­ra­lis­mus« zu för­dern, der gera­de des­halb so viru­lent ist, weil es zu sei­ner Regu­lie­rung über­haupt kei­ne höchst­in­stanz­li­che Auto­ri­tät gibt, weder eine poli­ti­sche noch eine theo­lo­gi­sche – dies ein wei­te­res pro­tes­tan­ti­sches Merk­mal. Im Gegen­teil: Man beob­ach­tet – der Wett­be­werb bringt es nun mal mit sich! – einen Effekt gegen­sei­ti­ger Über­bie­tung und Radikalisierung.

Doch nie­mand kann Nietz­sche das Was­ser rei­chen. Legt man an den Wokis­mus die Elle des Autors der Genea­lo­gie der Moral an, ist das Ergeb­nis ver­nich­tend. Der Wokis­mus ent­puppt sich als der Rache­durst der nied­rigs­ten Ele­men­te: der Tschand­alas, der Kas­ten­lo­sen. Nie­mand ist gna­den­lo­ser als sie – und immer fin­det sich einer, der ihre jahr­hun­der­te­al­te schwar­ze Rache ausführt.

 

Die­ser Bei­trag erschien zuerst in der Zeit­schrift Élé­ments, Nr. 192. Die Über­set­zung der hier gekürzt abge­druck­ten Fas­sung besorg­te Chris­ta Nitsch.

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