Abseits dieser Milieus nahm man dies erst in den letzten Jahren wahr, als der vorläufige Triumph der Identitätspolitik und seine konkreten Folgen jenseits der Universitäten als der »Forschungs- und Entwicklungslabore« (Walter Benn Michaels) wahrnehmbar wurden.
LGBTQ+-Kult, Diversity, Black Lives Matter, »weiße Privilegien« usf. – all das ist auch hierzulande in den Alltagsverstand eingedrungen. Allerdings nicht nur deshalb, weil der tonangebende Linksliberalismus Identitätspolitik auf die Tagesordnung im gesellschaftlichen, medialen und kulturellen Bereich setzte, sondern auch, weil die »große Wirtschaft« diese Anliegen in ihre ökonomische Interessenspolitik integrierte.
Kaum ein Konzern des transatlantischen Raumes verzichtet auf entsprechende Propaganda, weshalb nicht nur die Philosophin Nancy Fraser von einem »progressiven Neoliberalismus« sprechen kann; von einem neuen Stadium des (westlichen) Kapitalismus, der ökonomische Profitmaximierung mit linksliberaler Agitation kombiniert.
Dort, wo die linke Identitätspolitik ihren langen Anlauf nahm, in den Vereinigten Staaten, wird der Kampf um die Belange der Identitätspolitik anders als im deutschen Sprachraum bereits seit Jahrzehnten ausgetragen. Der Chicagoer Literaturwissenschaftler Walter Benn Michaels (* 1948) zählt dabei zu den vehementen Verfechtern einer linken Absage an Identitätspolitik; für ihn ist dieser Vielfaltskult ein Ablenkgefecht des herrschenden Liberalismus, damit dessen politisch-ökonomischen Paradigmen nicht hinterfragt werden. »Das größte Problem mit der Diversität«, so konkludiert er, »ist, daß sie uns davon abhält, über das Problem mit dem Kapitalismus zu sprechen.« Und über dieses Problem klärt er polemisch wie fundiert im vorliegenden Band auf; ein Band, der erstmals 2006 in den USA, erweitert 2016, und schließlich, 2021, auch auf deutsch erschien.
Polemisch ist Michaels immer dann, wenn er seinen Antagonisten die Leviten liest. Das »einzige«, höhnt er, »was gebildete Weiße mit Hochschulabschluß noch lieber mögen, als sich für ihren eigenen Rassismus zu entschuldigen«, sei, »ungebildete Weiße ohne Hochschulabschluß als Rassisten anzuklagen«. Er fragt zudem im Vorwort zur deutschen Ausgabe, weshalb seit George Floyd fast jeder etwas über 32 Schwarze weiß, deren Todesfälle im Jahr 2020 durch Polizeiübergriffe in den USA herbeigeführt wurden, wohingegen niemand etwas über die 32 getöteten Weißen verlauten läßt. (Den Lichtmeszschen Terminus »Hierarchie der Opfer« kennt Michaels freilich nicht.)
Fundiert ist der Autor indes dann, wenn er Zahlen und Statistiken abgleicht, um seine Kernthese – ökonomische Unterschiede sind für Gesellschaften fundamentaler als (konstruierte) identitätspolitische – mit Fakten zu untermauern.
Klar wird hier: Michaels ist ein Marxist des alten Schlags. Das, was die postmodern-linke Identitätspolitik ins Verstiegen-Absurde treibt, die Fokussierung auf identitäre Marker (die zudem oft herbeiphantasiert werden), zerlegt Michaels in seine Einzelteile.
Gleichwohl leistet er dies, indem er selbst eine Extremposition bezieht: Er leugnet die Bedeutung (konstruierter wie organischer) identitärer Marker und verwirft diese zugunsten einer Rückkehr zur orthodoxen Klassenpolitik. Damit aber sind Michaels und seine identitätspolitischen Antipoden zwei Seiten einer Medaille, mag die eine Seite auch klüger und weniger fanatisch als die andere argumentieren.
Weil es sich aber so verhält, daß die identitätspolitische Strömung unduldsamer ist, wird Walter Benn Michaels von Vorträgen wieder ausgeladen und werden seine Schriften nur von jenen Linken gelesen, die ohnehin ihr Problem mit woker Raserei haben. Der Fall gestaltet sich damit ähnlich wie bei Streitschriften aus »unserem« Milieu (vgl. Manfred Kleine-Hartlage: Konservativenbeschimpfung, Schnellroda 2020): Die, die sie lesen müßten, lesen sie nicht, aber die, welche die Kernthesen ohnehin bereits verinnerlicht haben, finden eine glänzend geschriebene Bestätigung bzw. Vertiefung ihrer Ansichten.
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Walter Benn Michaels: Der Trubel um Diversität. Wie wir lernten, Identitäten zu lieben und Ungleichheit zu ignorieren, Berlin: Edition Tiamat 2021. 296 S., 24 €
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