Die Abtreibungsfrage ist ein immens schwieriges Thema. Zu sagen, sie sei »emotional aufgeladen«, würde sie auf ein Sentiment verkürzen. Die Legitimität einer willkürlichen Schwangerschaftsbeendung beschäftigt nämlich seit je nicht nur »interessierte Bürger*innen«, also Personen mit Herz, Schmerz und individuellen Interessen, sondern auch Philosophen und Juristen.
Spätestens seit der EMMA-Kampagne »Wir haben abgetrieben« von 1971, in deren Verlauf der Stern 374 Frauen präsentierte, die (teils nur vorgeschoben und aus »Solidarität«) bekannten, über ihre Leibesfrucht per »Daumen runter« entschieden zu haben, ist Abtreibung auf eine gewisse Art salonfähig. Sie gilt seither als etwas, das zum »Frausein« einfach dazugehören kann.
Es findet sich allerdings zwischen 1971 und 1988 abseits extremer Nischenblätter keine Frauenzeitschrift und kein Publikumsmagazin, in dem leicht und locker über Abtreibungserfahrung palavert wurde. Es blieb beim (minimal gelockerten) Tabu. Als legendär darf daher der Ausspruch Jutta Ditfurths von 1988 gelten, den sie in der Cosmopolitan tätigte: »Ich bin sechsunddreißig, da finde ich zwei Abtreibungen auf ein lustvolles, knapp zwanzigjähriges Geschlechtsleben relativ wenig.«
Gut – die Ditfurth ist bekanntermaßen eine radikale Linke. Dennoch dürfte dieser lockere, medienwirksame Satz für eine Verschiebung der »roten Linie« gesorgt haben, selbst (unbewußt) in den Köpfen derer, die Abtreibung bislang für ein »No go« hielten. Das Sprechen darüber war plötzlich gesellschaftstauglich. Ab sofort konnte man beispielsweise wissen, daß »Pro familia« eine verlogene Bezeichnung ist und daß man dort jeder Hilfesuchenden einen Strauß an abtreibungswilligen Ärzten überreichte.
Als wenig fernsehaffine Frau habe ich dennoch eine Lieblings-TV-Schauspielerin. Sie heißt Anna Schudt (»Tatort Dortmund«, ich mag diese coole Martina Bönisch!). Sie sagte dem RND im Dezember 2021: »Es gibt eine tiefgreifende Angst davor, daß Frauen ›einfach so‹ abtreiben. Das macht mich so sauer. Keine Frau treibt gerne ab. Es gibt keine Frauen, die leichtfertig nicht verhüten, jeden Monat die ›Pille danach‹ nehmen oder sich einfach das Baby wegmachen lassen.« Oha! Es gibt diese Frauen also nicht, denen eine getötete Leibesfrucht schnuppe ist und die über komisch-moralische Bedenken nur lachen, die also einen Witz über eine abgebrochene Schwangerschaft machen? Aber hallo!
Ich selbst war 22 Jahre alt und schwanger, als ich erstmals auf eine solche Frau traf. Sie war 43, sah aus wie 30, eine Kindfrau à la Björk. Sonnige Ausstrahlung, naive Freude. Es ging damals um ein Musikprojekt. Wir trafen uns im Proberaum. Ich hatte damals noch keine Wölbung, sie auch nicht. Sie hatte aber bereits Ultraschallfotos. Sie zeigte sie her und machte lachend die Pistolengeste: Abknallen! Sie war gut drauf, freundlich, lustig und schön. Sie kicherte: Das sei nun das siebte Wesen, das sie auf dem Kerbholz habe. Kraß, aber was soll’s – das war die Stimmung, die sie verbreitete. Sie wirkte überhaupt nicht aggressiv. Sie tat, als sei es ein Sport, und sie würde siegen. Die fünf, sechs Männer, die dabei waren (man sollte sie ganz entfernt einer irgendwie rechten Szene zurechnen) frotzelten nicht gerade mit, machten aber gute Miene. »Sie ist halt so drauf.«
Ich selbst war zu jung, zu unerfahren und zu atemlos, um etwas zu entgegnen. Ich dachte: So was gehöre halt dazu. Diese Frau erschien mir wirklich einnehmend. Ich grinste hilflos. Ich lag Nächte wach. Versuchte, es mir zurechtzurücken. Etliche Jahre später hatte ich es mir zurechtgerückt, 2022.
Genau hundert Jahre zuvor hatte die KPD eine Streichung der »Abtreibungsparagraphen« 218 und 219 gefordert. Das Ansinnen blieb erfolglos. Heute mehr oder weniger wirksam ist hingegen das Anliegen, das Gustav Radbruch (SPD) bereits 1920 formuliert hatte: »Nicht die Freigabe der Abtreibung in den Grenzen unseres Vorschlages ist unsere Tendenz, sondern lediglich ihre Straflosigkeit. Wir wollen nicht ein Recht verleihen, sondern eine Strafe aufheben. Völlig fern liegt uns die individualistische Begründung bürgerlicher Frauenrechtlerinnen für die Aufhebung der Abtreibungsstrafe, daß jedermann unbedingt freier Herr seines Körpers sei.« Abtreibung ist heute immer noch illegal, aber straflos. Genau solche Regelungen sind perfekt geeignet, das moralische Empfinden der Bürger zu unterminieren.
Die Gesetzeslage und sämtliche Begründungstexte zum Thema sind seit der Antike ziemlich kompliziert. Selbst innerhalb der religiösen Glaubensrichtungen gibt es Dissens. Sogar Thomas von Aquin orientierte sich an der Ansicht des Aristoteles, wonach ein Embryo erst 40 (männlich) oder 90 Tage (weiblich) nach der Empfängnis als »beseelt« zu gelten habe. Einige islamische Texte bewerten den »Klumpen Fleisch« (interessante Parallele zu feministischen Schreibweisen!) erst ab Tag 120 als menschliches Leben.
Mich selbst hatte Alice Schwarzers Diktion seit je nachdenklich gemacht: »Frauen haben abgetrieben. Immer und um jeden Preis.« Ja, sicher – und nein. Es gab immerhin auch stets Menschen, die gemordet haben. Sollte es deshalb etwa unsanktioniert bleiben? Camille Paglia, als (zugegeben) okkupierte neurechte Vordenkerin, befand ganz klar: Ja, Abtreibung ist Mord. Abtreibung sei eine Austilgung der Ohnmächtigen durch die Mächtigen. Dennoch will sie den Frauen das Recht einräumen, frei über ihren Körper zu entscheiden. Philosophisch ist das womöglich fragwürdig, die Realität spricht eine andere Sprache. Viele Frauen, die abtreiben, haben sich nicht aus unbesorgter »Geilheit« dem Mann hingegeben. Über diverse Zwänge muß man hier wohl nicht reden.
Die quantitative Sachlage ist naturgemäß vage. Laut Meldung der WHO haben zwischen 2015 und 2019 weltweit durchschnittlich 73,3 Millionen Abtreibungen pro Jahr stattgefunden. Demgegenüber wurden jährlich rund 133 Millionen Kinder zur Welt gebracht. Am 24. Juni 2021 hat das Europäische Parlament dem sogenannten Matić-Bericht zugestimmt.
Der enthält unter anderem die Forderung, Abtreibung als normale Leistung der »weiblichen Gesundheitsvorsorge« zu etablieren. Dadurch wird Abtreibung als Menschenrecht definiert. Sie gilt fortan als »Gesundheitsdienstleistung« – und das ist dann doch eher pervers. In Deutschland jedenfalls wurden laut Statistischem Bundesamt 2012 rund 107 000 Kinder abgetrieben, 2020 waren es 100 000. Es treiben mehr alte Frauen (+45) ab als junge (unter 18). Und Ausländer scheint die Abtreibungswelle, wen wundert’s, weniger zu überspülen.
Ein Höhe‑, besser: Tiefpunkt der popkulturellen Auseinandersetzung mit dieser Frage über Leben oder Tod wurde jüngst mit einem kurzen Videoschnipsel erreicht. Einige (halb-)junge FDP-Leute hatten es erstellt und fungierten als fröhliche Protagonisten: Kristine Lütke (39), Anikó Merten (39), Ria Schröder (30), Valentin C. Abel (31) und Martin Gassner (36). Offenkundig – kurze Netz-Recherche – sind sie sämtlich kinderlos. Sie tanzen in diesem Video durch einen kahlen, von Neonlicht erhellten Gang.
Eine, wohl Lütke (natürlich ist man maskiert), trägt einen Ghettoblaster auf der Schulter. Es ertönt ein rhythmisch treibender Hit von 1994, »Short Dick Man«. Text, übersetzt: »Ich will keinen kurzen Schwanz-Mann. […] Geschrumpfter, kleiner, kurzer Schwanz-Mann. Was um Himmels Willen ist das verdammte Ding? Benötigen Sie eine Pinzette, um das kleine Ding wegzuräumen? […]das muß der kleinste Schwanz sein, den ich je in meinem Leben gesehen habe.« Über den fröhlichen Politikern steht: »Wir, auf dem Weg zur Abstimmung, um endlich § 219a aus dem StGB kicken zu können«.
Wie können sie es wagen? Ganz einfach, weil Abtreibung ganz unter der Hand längst zum handlichen Smalltalkthema geworden ist. Auf Anraten einer Tochter (die noch schockierbar ist, Gott sei Dank) habe ich mich bei tiktok.com angemeldet. Nur, um die neuesten halbminütigen Videos zum Thema Abtreibung / Abortion anzuschauen. Es ist unfaßbar (und klar: den Großteil der Wahlberechtigten > 30 erreicht das gar nicht, niemals!), was hier tagtäglich zum Thema Leibesfrucht gebotschaftet wird. Es ist Hirnwäsche pur.
Hübsche Mädchen verabschieden mittels abgeklärter, doch sehr lustiger Meldungen ihr Ungeborenes ins Jenseits: »Go, little Rockstar –it’s not the right time, so I send it back to God«: Als wenn es gar nichts wär’, und als sei Gott eine Art Bestellservice. Andere junge Frauen geben musikunterlegt Ratschläge, wie frau sich durch »natürliche Behelfsmittel« von der Leibesfrucht emanzipieren kann. Nicht immer – aber oft genug – wird der Akt des »Wegmachens« als Harmlosigkeit verbrämt. Die aggressive Kopf-ab-Geste ist omnipräsent, exerziert durch coole, attraktive, anscheinend selbstbewußte junge Frauen.
Auf Twitter ist es kaum anders. Es gibt beispielsweise den »Hashtag« #abortionwithluv, der den Akt der Abtreibung »rationalisieren« und zu einem alltäglichen Eingriff rahmen will. Protagonistinnen wie Hannah Matthews (@hannahmsays), selbsternannte Abtreibungshelferin, werben hier um Spenden für Frauen, die sich die tötende »Kleinigkeit« sonst nicht leisten könnten. Ironischerweise tut sie es stets im »Namen Gottes«, der »das alles« »bereits wisse«.
Man muß den Teufel nicht an die Wand malen – aber logisch wird es bald einfach uncool sein, niemals dieses Event durchgehabt zu haben: mal abgetrieben zu haben. Don’t miss it. Dann kannst du mitreden.