Die neue Lust am Töten

PDF der Druckfassung aus Sezession 107/ April 2022

Ellen Kositza

Ellen Kositza ist Literatur-Redakteurin und Mutter von sieben Kindern.

Die Abtrei­bungs­fra­ge ist ein immens schwie­ri­ges The­ma. Zu sagen, sie sei »emo­tio­nal auf­ge­la­den«, wür­de sie auf ein Sen­ti­ment ver­kür­zen. Die Legi­ti­mi­tät einer will­kür­li­chen Schwan­ger­schafts­be­en­dung beschäf­tigt näm­lich seit je nicht nur »inter­es­sier­te Bürger*innen«, also Per­so­nen mit Herz, Schmerz und indi­vi­du­el­len Inter­es­sen, son­dern auch Phi­lo­so­phen und Juristen.

Spä­tes­tens seit der EMMA-Kam­pa­gne »Wir haben abge­trie­ben« von 1971, in deren Ver­lauf der Stern 374 Frau­en prä­sen­tier­te, die (teils nur vor­ge­scho­ben und aus »Soli­da­ri­tät«) bekann­ten, über ihre Lei­bes­frucht per »Dau­men run­ter« ent­schie­den zu haben, ist Abtrei­bung auf eine gewis­se Art salon­fä­hig. Sie gilt seit­her als etwas, das zum »Frau­sein« ein­fach dazu­ge­hö­ren kann.

Es fin­det sich aller­dings zwi­schen 1971 und 1988 abseits extre­mer Nischen­blät­ter kei­ne Frauen­zeitschrift und kein Publi­kums­ma­ga­zin, in dem leicht und locker über Abtrei­bungs­er­fah­rung pala­vert wur­de. Es blieb beim (mini­mal gelo­cker­ten) Tabu. Als legen­där darf daher der Aus­spruch Jut­ta Dit­furths von 1988 gel­ten, den sie in der ­Cos­mo­po­li­tan tätig­te: »Ich bin sechs­und­drei­ßig, da fin­de ich zwei Abtrei­bun­gen auf ein lust­vol­les, knapp zwan­zig­jäh­ri­ges Geschlechts­le­ben rela­tiv wenig.«

Gut – die Dit­furth ist bekann­ter­ma­ßen eine radi­ka­le Lin­ke. Den­noch dürf­te die­ser locke­re, medi­en­wirk­sa­me Satz für eine Ver­schie­bung der »roten Linie« gesorgt haben, selbst (unbe­wußt) in den Köp­fen derer, die Abtrei­bung bis­lang für ein »No go« hiel­ten. Das Spre­chen dar­über war plötz­lich gesell­schafts­taug­lich. Ab sofort konn­te man bei­spiels­wei­se wis­sen, daß »Pro fami­lia« eine ver­lo­ge­ne Bezeich­nung ist und daß man dort jeder Hil­fe­su­chen­den einen Strauß an abtrei­bungs­wil­li­gen Ärz­ten überreichte.

Als wenig fern­seh­af­fi­ne Frau habe ich den­noch eine Lieb­lings-TV-Schau­spie­le­rin. Sie heißt Anna Schudt (»Tat­ort Dort­mund«, ich mag die­se coo­le Mar­ti­na Bönisch!). Sie sag­te dem RND im Dezem­ber 2021: »Es gibt eine tief­grei­fen­de Angst davor, daß Frau­en ›ein­fach so‹ abtrei­ben. Das macht mich so sau­er. Kei­ne Frau treibt ger­ne ab. Es gibt kei­ne Frau­en, die leicht­fer­tig nicht ver­hü­ten, jeden Monat die ›Pil­le danach‹ neh­men oder sich ein­fach das Baby weg­ma­chen las­sen.« Oha! Es gibt die­se Frau­en also nicht, denen eine getö­te­te Lei­bes­frucht schnup­pe ist und die über komisch-mora­li­sche Beden­ken nur lachen, die also einen Witz über eine abge­bro­che­ne Schwan­ger­schaft machen? Aber hallo!

Ich selbst war 22 Jah­re alt und schwan­ger, als ich erst­mals auf eine sol­che Frau traf. Sie war 43, sah aus wie 30, eine Kind­frau à la Björk. Son­ni­ge Aus­strah­lung, ­nai­ve Freu­de. Es ging damals um ein Musik­pro­jekt. Wir tra­fen uns im Pro­be­raum. Ich hat­te damals noch kei­ne Wöl­bung, sie auch nicht. Sie hat­te aber bereits Ultra­schall­fo­tos. Sie zeig­te sie her und mach­te lachend die Pis­to­len­ges­te: Abknal­len! Sie war gut drauf, freund­lich, lus­tig und schön. Sie kicher­te: Das sei nun das sieb­te Wesen, das sie auf dem Kerb­holz habe. Kraß, aber was soll’s – das war die Stim­mung, die sie ver­brei­te­te. Sie wirk­te über­haupt nicht aggres­siv. Sie tat, als sei es ein Sport, und sie wür­de sie­gen. Die fünf, sechs Män­ner, die dabei waren (man soll­te sie ganz ent­fernt einer irgend­wie rech­ten Sze­ne zurech­nen) frot­zel­ten nicht gera­de mit, mach­ten aber gute Mie­ne. »Sie ist halt so drauf.«

Ich selbst war zu jung, zu uner­fah­ren und zu atem­los, um etwas zu ent­geg­nen. Ich dach­te: So was gehö­re halt dazu. Die­se Frau erschien mir wirk­lich ein­neh­mend. Ich grins­te hilf­los. Ich lag Näch­te wach. Ver­such­te, es mir zurecht­zu­rü­cken. Etli­che Jah­re spä­ter hat­te ich es mir zurecht­ge­rückt, 2022.

Genau hun­dert Jah­re zuvor hat­te die KPD eine Strei­chung der »Abtrei­bungs­pa­ra­gra­phen« 218 und 219 gefor­dert. Das Ansin­nen blieb erfolg­los. Heu­te mehr oder weni­ger wirk­sam ist hin­ge­gen das Anlie­gen, das Gus­tav Rad­bruch (SPD) bereits 1920 for­mu­liert hat­te: »Nicht die Frei­ga­be der Abtrei­bung in den Gren­zen unse­res Vor­schla­ges ist unse­re Ten­denz, son­dern ledig­lich ihre Straf­lo­sig­keit. Wir wol­len nicht ein Recht ver­lei­hen, son­dern eine Stra­fe auf­he­ben. Völ­lig fern liegt uns die indi­vi­dua­lis­ti­sche Begrün­dung bür­ger­li­cher Frau­en­recht­le­rin­nen für die Auf­he­bung der Abtrei­bungs­stra­fe, daß jeder­mann unbe­dingt frei­er Herr sei­nes Kör­pers sei.« Abtrei­bung ist heu­te immer noch ille­gal, aber straf­los. Genau sol­che Rege­lun­gen sind per­fekt geeig­net, das mora­li­sche Emp­fin­den der Bür­ger zu unterminieren.

Die Geset­zes­la­ge und sämt­li­che Begrün­dungs­tex­te zum The­ma sind seit der Anti­ke ziem­lich kom­pli­ziert. Selbst inner­halb der reli­giö­sen Glau­bens­rich­tun­gen gibt es Dis­sens. Sogar Tho­mas von Aquin ori­en­tier­te sich an der Ansicht des Aris­to­te­les, wonach ein Embryo erst 40 (männ­lich) oder 90 Tage (weib­lich) nach der Emp­fäng­nis als »beseelt« zu gel­ten habe. Eini­ge isla­mi­sche Tex­te bewer­ten den »Klum­pen Fleisch« (inter­es­san­te Par­al­le­le zu femi­nis­ti­schen Schreib­wei­sen!) erst ab Tag 120 als mensch­li­ches Leben.

Mich selbst hat­te Ali­ce Schwar­zers ­Dik­ti­on seit je nach­denk­lich gemacht: »Frau­en haben abge­trie­ben. Immer und um jeden Preis.« Ja, sicher – und nein. Es gab immer­hin auch stets Men­schen, die gemor­det haben. Soll­te es des­halb etwa unsank­tio­niert blei­ben? Camil­le Paglia, als (zuge­ge­ben) okku­pier­te neu­rech­te Vor­den­ke­rin, befand ganz klar: Ja, Abtrei­bung ist Mord. Abtrei­bung sei eine Aus­til­gung der Ohn­mäch­ti­gen durch die Mäch­ti­gen. Den­noch will sie den Frau­en das Recht ein­räu­men, frei über ihren Kör­per zu ent­schei­den. Phi­lo­so­phisch ist das womög­lich frag­wür­dig, die Rea­li­tät spricht eine ande­re Spra­che. Vie­le Frau­en, die abtrei­ben, haben sich nicht aus unbe­sorg­ter »Geil­heit« dem Mann hin­ge­ge­ben. Über diver­se Zwän­ge muß man hier wohl nicht reden.

Die quan­ti­ta­ti­ve Sach­la­ge ist natur­ge­mäß vage. Laut Mel­dung der WHO haben zwi­schen 2015 und 2019 welt­weit durch­schnitt­lich 73,3 Mil­lio­nen Abtrei­bun­gen pro Jahr statt­ge­fun­den. Dem­ge­gen­über wur­den jähr­lich rund 133 Mil­lio­nen Kin­der zur Welt gebracht. Am 24. Juni 2021 hat das Euro­päi­sche Par­la­ment dem soge­nann­ten Matić-Bericht zugestimmt.

Der ent­hält unter ande­rem die For­de­rung, Abtrei­bung als nor­ma­le Leis­tung der »weib­li­chen Gesund­heits­vor­sor­ge« zu eta­blie­ren. Dadurch wird Abtrei­bung als Men­schen­recht defi­niert. Sie gilt fort­an als »Gesund­heits­dienst­leis­tung« – und das ist dann doch eher per­vers. In Deutsch­land jeden­falls wur­den laut Sta­tis­ti­schem Bun­des­amt 2012 rund 107 000 Kin­der abge­trie­ben, 2020 waren es 100 000. Es trei­ben mehr alte Frau­en (+45) ab als jun­ge (unter 18). Und Aus­län­der scheint die Abtrei­bungs­wel­le, wen wundert’s, weni­ger zu überspülen.

Ein Höhe‑, bes­ser: Tief­punkt der pop­kul­tu­rel­len Aus­ein­an­der­set­zung mit die­ser Fra­ge über Leben oder Tod wur­de jüngst mit einem kur­zen Video­schnip­sel erreicht. Eini­ge (halb-)junge FDP-Leu­te hat­ten es erstellt und fun­gier­ten als fröh­li­che Prot­ago­nis­ten: Kris­ti­ne Lüt­ke (39), Ani­kó Mer­ten (39), Ria Schrö­der (30), Valen­tin C. Abel (31) und Mar­tin Gas­s­ner (36). Offen­kun­dig – kur­ze Netz-Recher­che – sind sie sämt­lich kin­der­los. Sie tan­zen in die­sem Video durch einen kah­len, von Neon­licht erhell­ten Gang.

Eine, wohl Lüt­ke (natür­lich ist man mas­kiert), trägt einen Ghet­to­blas­ter auf der Schul­ter. Es ertönt ein rhyth­misch trei­ben­der Hit von 1994, »Short Dick Man«. Text, über­setzt: »Ich will kei­nen kur­zen Schwanz-Mann. […] Geschrumpf­ter, klei­ner, kur­zer Schwanz-Mann. Was um Him­mels Wil­len ist das ver­damm­te Ding? Benö­ti­gen Sie eine Pin­zet­te, um das klei­ne Ding weg­zu­räu­men? […]das muß der kleins­te Schwanz sein, den ich je in mei­nem Leben gese­hen habe.« Über den fröh­li­chen Poli­ti­kern steht: »Wir, auf dem Weg zur Abstim­mung, um end­lich § 219a aus dem StGB kicken zu können«.

Wie kön­nen sie es wagen? Ganz ein­fach, weil Abtrei­bung ganz unter der Hand längst zum hand­li­chen Small­talk­the­ma gewor­den ist. Auf Anra­ten einer Toch­ter (die noch scho­ckier­bar ist, Gott sei Dank) habe ich mich bei tiktok.com ange­mel­det. Nur, um die neu­es­ten halb­mi­nü­ti­gen Vide­os zum The­ma Abtrei­bung / Abor­ti­on anzu­schau­en. Es ist unfaß­bar (und klar: den Groß­teil der Wahl­be­rech­tig­ten > 30 erreicht das gar nicht, nie­mals!), was hier tag­täg­lich zum The­ma Lei­bes­frucht gebot­schaf­tet wird. Es ist Hirn­wä­sche pur.

Hüb­sche Mäd­chen ver­ab­schie­den mit­tels abge­klär­ter, doch sehr lus­ti­ger Mel­dun­gen ihr Unge­bo­re­nes ins Jen­seits: »Go, litt­le Rock­star –it’s not the right time, so I send it back to God«: Als wenn es gar nichts wär’, und als sei Gott eine Art Bestell­ser­vice. Ande­re jun­ge Frau­en geben musik­un­ter­legt Rat­schlä­ge, wie frau sich durch »natür­li­che Behelfs­mit­tel« von der Lei­bes­frucht eman­zi­pie­ren kann. Nicht immer – aber oft genug – wird der Akt des »Weg­ma­chens« als Harm­lo­sig­keit ver­brämt. Die aggres­si­ve Kopf-ab-Ges­te ist omni­prä­sent, exer­ziert durch coo­le, attrak­ti­ve, anschei­nend selbst­be­wuß­te jun­ge Frauen.

Auf Twit­ter ist es kaum anders. Es gibt bei­spiels­wei­se den »Hash­tag« #abor­ti­onwi­th­luv, der den Akt der Abtrei­bung »ratio­na­li­sie­ren« und zu einem all­täg­li­chen Ein­griff rah­men will. Prot­ago­nis­tin­nen wie Han­nah Matthews (@hannahmsays), selbst­er­nann­te Abtrei­bungs­hel­fe­rin, wer­ben hier um Spen­den für Frau­en, die sich die töten­de »Klei­nig­keit« sonst nicht leis­ten könn­ten. Iro­ni­scher­wei­se tut sie es stets im »Namen Got­tes«, der »das alles« »bereits wisse«.

Man muß den Teu­fel nicht an die Wand malen – aber logisch wird es bald ein­fach uncool sein, nie­mals die­ses Event durch­ge­habt zu haben: mal abge­trie­ben zu haben. Don’t miss it. Dann kannst du mitreden.

Ellen Kositza

Ellen Kositza ist Literatur-Redakteurin und Mutter von sieben Kindern.

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