Die folgende Serie mustert die literarische Entwicklung innerhalb der ersten beiden Jahrzehnte seit dem Kriegsende 1945. Es geht um Auf- und Abstiege von Autoren und Werken, um künstlerische wie außerliterarische Diagnosen. Als wichtigstes Ergebnis des damaligen Kulturkampfs erweist sich die weitgehende Marginalisierung des im weitesten Sinne konservativen Literaturlagers durch Fachgermanistik und Feuilleton. Dabei handelte es sich um einen systematisch betriebenen metapolitischen Prozeß, der die Voraussetzung für den gegenwärtigen Bildungskanon und unser heute gängiges literarisches Geschichtsbild schuf.
Über beide muß man reden angesichts eines nie ganz verebbten Bedürfnisses nach literarhistorischer Einordnung und Belehrung. Denn bei der babylonischen Unübersichtlichkeit einer jährlich um Zehntausende von Neuerscheinungen anwachsenden Bücherflut erhoffen wir uns – analog zu Touristenführern, mit denen wir uns fremden Städten nähern – konzentrierten Aufschluß über unbedingt zu lesende Werke einer Epoche, ihre Leitideen oder ästhetischen Charakteristika. Dabei sind sich die wenigsten der methodischen Prämissen, der Auswahl- oder der Wertungskriterien bewußt, die den Darstellungen zugrunde liegen.
Diese bestimmen jedoch maßgeblich die Inhalte. Philologische Prominenz und Feuilletongewaltige wirken nämlich (wie Medien bei der politischen Meinungsbildung) als Gatekeeper, setzen den Prestigewert von Texten fest und eröffnen oder verstellen damit Zugänge. Bei Kritiken wie Epochenbilanzen sollte man also stets die politische Intention ihrer Verfasser erkunden, was meist nicht schwerfällt.
Und auch jenseits von ideologischen Absichten fragt sich: Geht es vorwiegend um eine Werk‑, Leser‑, Ideen‑, Motiv‑, Institutionen‑, Sozial- oder Moralgeschichte? Erfahren wir tatsächlich Essentielles über Hauptthemen und vorherrschende Tendenzen einer Epoche inklusive der Werke, die erregten und Massen bewegten? Oder reiten Verfasser vornehmlich ihre biographischen und ideologischen Steckenpferde, Vorlieben für bestimmte schreibtechnische Innovationen inbegriffen? Je nachdem erhalten wir nämlich ganz verschiedene Darstellungen.
Die meisten Literaturgeschichten vermengen allerdings, kaum reflektiert, unterschiedlichste Funktionen und Absichten mit politisch-moralischer Selektion und dezidierten Qualitätsaussagen. Man zieht kollektivpsychologische Schlüsse ohne exakte Kenntnis, welchen Verbreitungsgrad die behandelten Texte auf der Skala vom Bestseller zum bloßen Geheimtip besitzen. Man unterscheidet wenig zwischen Texten als repräsentativem Ausdruck früherer Zeit und Überzeugungen des heutigen Establishments wie auch immer ernannter Kulturexperten. Dabei herrscht jener ausfilternde Zeitgeist, der weniger an der Veranschaulichung einer in ihrem Eigenwert respektierten früheren Epoche interessiert ist als an aktueller literaturpolitischer Rendite.
Das Ganze kulminiert in einer gutgläubigen teleologischen Betrachtungsweise. Sie begreift die jeweiligen Innovationen als schlichte Notwendigkeit und Höherentwicklung, ungeachtet des Umstands, daß scheinbar veraltete Formen in späteren Epochen immer wieder auferstanden sind. Das gleiche gilt für soziale und politische Auffassungen oder Denkstile, die in Fortschrittskategorien zu klassifizieren schlechterdings Naivität verrät. Denn wie viele Modernitätsschübe haben uns auch immer neuen Schrecken und Katastrophen angenähert!
Von der abstrakten Erörterung zum konkreten Fall: Namhafte Kritiker und Germanisten riefen 1959 zum Wunderjahr, zum »annus mirabilis der deutschen Literatur« (Michael Davidis) aus. In ihm sei endlich der Startschuß für eine fruchtbare belletristische Zukunft der Bundesrepublik gefallen. Man schwärmte vom »Ereignis« (Rolf Becker), »Durchbruch« (Wilfried Barner), »Sprung« (Heinz Ludwig Arnold), »Wendepunkt« (Hans Mayer), von einer »Wende« (Jörg Drews) oder »Zäsur« (Jürgen Egyptien).
Was begründet solche Verzückungen, die übrigens, wie gewohnt, nach Jahrzehnten wieder germanistisch bezweifelt (Matthias Lorenz) und durch andere politisierte Periodisierungsklischees abgelöst wurden? Damals erschienen auf der Buchmesse drei Romane, die man umgehend zu Sensationen hochschrieb: Heinrich Bölls Billard um halb zehn, Günter Grass’ Die Blechtrommel und Uwe Johnsons Mutmaßungen über Jakob.
Was Billard betrifft, habe ich selbst unter Berufskollegen noch keinen getroffen, der das Buch zu seiner Lieblingslektüre gezählt hätte. Böll ist ohnehin eher durch seine Kurzgeschichten oder den knappen Episodenroman Wo warst du, Adam? interessant, als durch die säuerliche Litanei eines frustrierten Katholiken, der die Welt danach einteilt, ob die Protagonisten vom »Sakrament des Büffels« oder des »Lammes« gekostet haben. Denn natürlich wies die hiesige Nachkriegsgesellschaft keinen so radikalen Wandel auf, daß er Bölls dualistischen Ansprüchen genügt hätte.
Auch kompositorisch beglaubigen die ein wenig angestrengten perspektivischen Verschränkungen nicht unbedingt jene Kritiker-Euphorie. Da überzeugt mich Gerd Gaisers im Jahr zuvor erschienener Schlußball schon eher, obwohl er mit Billard die zuweilen larmoyant-moralistische Grundhaltung teilt. Ohnehin neige ich bei Großtexten dieses Autors ein wenig Robert Gernhardts Sarkasmus zu: »Der Böll war als Typ wirklich Klasse. / Da stimmten Gesinnung und Kasse. / Er wär’ überhaupt erste Sahne, / – wären da nicht die Romane.«
Grass war als Romancier schon von anderem Kaliber. Und daß sein unterhaltsamer, mit Politpointen gespickter Schelmenroman Die Blechtrommel Aufmerksamkeit erregte, ist leicht zu verstehen. Diese Anerkennung für einen barocken (zuweilen auch geschwätzigen) Sprachartisten gilt ungeachtet der im Roman propagierten Geisteshaltung, gemäß der ein Wachstum verweigernder koboldhafter Gnom per Trommelei und Glassägerei seine tödlichen Händel mit der Vätergeneration austrägt. Respekt vor einem epischen Wurf als ästhetisches Urteil verbindet sich durchaus mit Bedenken über manche Skrupellosigkeit einer zunehmend desolidarisierenden Haltung, die nicht nur den anarchischen »Helden« charakterisiert. Schriftsteller-Antipoden wie Fontane oder Kempowski stehen mir nun mal näher. Außerdem: Grass’ Avantgardistenrolle und Skandalwert für sexuelle Textware über dem Ladentisch sind zeitgenössisch begrenzt.
Johnsons Mutmaßungen über Jakob ist ein achtbarer Roman, der seiner regionalen Kleinmalerei wegen verständlicherweise besonders Mecklenburger Landsleute faszinierte. Auch beschäftigte das DDR-Thema die Erlebnisgeneration zweifellos stark. Doch die Kritiker-Elogen von 1959 überschätzten wohl seinen Status im Zeitrahmen. Und wie wenig dieser sich Durchschnittsgermanisten mitteilte, ließ ein Saarbrücker Hauptseminar bereits Ende der 1980er ahnen. Jene, die damals studierten oder es zumindest behaupteten, taxierten den Text nämlich mehrheitlich als stoisch ertragene Bürde. Eine interpretatorisch bescheidene Johnson-Studie im Seminarapparat sah bald so zerlesen aus wie Karl-May-Bände in meiner Jugend. Bot sie doch eine über Dutzend Seiten gestreckte Inhaltsangabe, die all das kompliziert Verschobene in korrekter Reihenfolge nacherzählte und so den meisten erstmals die Handlung verständlich machte. Wahre, vom Lesegenuß getragene Breitenwirkung jenseits einer innovationsverliebten Kritikerseilschaft sieht wohl anders aus.
Kurz, zu meinen Favoriten zählten die drei Bücher nicht, und meine belletristische Hitparade jener Jahre enthielt andere Namen deutscher Autoren wie Zuckmayer, Borchert, Bergengruen, Andres, Kasack und Nossack, aber auch Enzensberger. Mich faszinierten Benns Statische Gedichte, Ernst Jüngers Strahlungen und Gläserne Bienen, Theodor Plieviers Stalingrad oder Gerd Gaisers Gib acht in Domokosch, ein Prosaband, der übrigens, unbeachtet von jener Kritikerzunft, ebenfalls 1959 erschien. Und hätte ich ein »Wunderjahr« auszurufen, wählte ich 1951, als Ernsts Jüngers Waldgang, Ernst von Salomons Fragebogen und Arno Schmidts Schwarze Spiegel erschienen. Und um das Politspektrum nicht einzuengen, zusätzlich Wolfgang Koeppens Tauben im Gras, Stefan Andres’ Die Arche, Heimito von Doderers Die Strudlhofstiege, Günter Eichs Träume sowie mit Kurt Kusenbergs Sonnenblumen Geschichten mit absurdem Touch.
Wozu diese lesebiographische Nabelschau? Wozu subjektive Lektüreeindrücke statt einer Epochenbilanz, die im Kern von Fachautoritäten getragen wird? Nun, zu solcher scheinbar selbstherrlichen Egozentrik rufe ich jeden emanzipierten Leser auf. Denn es gibt keine verbindliche Literaturgeschichte, sondern nur Literaturgeschichten. Und ich wundere mich stets aufs neue, welche Allgemeingültigkeits- und Objektivitätserwartungen mit solchen Kompendien verbunden werden, arglos, wie willkürlich konstruiert, ideologie- und interessengesteuert sie sich häufig erweisen. Bestätigt sich deren scheinbare Verbindlichkeit doch meist nur, weil jüngere Forscher statt originärer Neusichtung vielfach Textauswahlen und Urteile schlicht übernehmen, versehen mit dem Blendsiegel »Wissenschaft«.
Ein Königreich also für objektive Kriterien – die es aber einfach nicht gibt: Literarische Wertung ist fraglos das Unwissenschaftlichste aller Philologie, sofern man mit normativem und nicht nur deskriptivem Anspruch auftritt. Und die Auswahl der für kanonwürdig erklärten Texte gehört zum Heikelsten des Fachs. Je mehr man sich nämlich mit Urteilen beschäftigt, um so mehr zerrinnen einem die Maßstäbe unter der Hand zugunsten der bereits den Römern bekannten Feststellung, über Geschmack ließe sich nicht streiten. In einer germanistischen Lehrveranstaltung habe ich Studenten aufgefordert, mir ein einziges (formales oder ideelles) Wertungskriterium zu nennen, von dem sie glaubten, es sei überzeitlich fundiert. Wir fanden keins. Alle erwiesen sich, durch hochkarätige Beispiele widerlegt, als temporär, situativ, zeitgeistbedingt oder künstlerspezifisch.
Das Buch, das Thema, den Stil oder den Geschmack gibt es nicht, und bei vielen wirklichen oder vermeintlichen »Jahrhundertwerken« liegt deren (scheinbare) Größe nicht zuletzt in der Übereinstimmung mit dem jeweiligen Mainstream. Es mag Einzelfälle geben, in denen sich Dichter und Werke kraft ihrer alles überragenden Sprachkraft und (universellen) Ausstrahlung fast organisch durchsetzen. Doch von seltenen Ausnahmen abgesehen, gilt die Faustformel, daß auch Literaturgrößen meist gemacht werden und ihre epochale Repräsentanz häufig durch literaturpolitische Interessen fundiert ist.
In genialer Schlichtheit hat dies vor knapp einem Jahrhundert bereits der Anglist Levin L. Schücking in seiner Soziologie der literarischen Geschmacksbildung formuliert. Die Anerkennung eines Werks als Kunst sei keine objektive Wertsetzung, sondern ein »sozialer Vorgang«, ein Kampf, »der häufig mit sehr materiellen Mitteln geführt wird«: »Die Ergebnisse dieses Kampfes aber […] kritiklos hinzunehmen, ohne sich darum zu scheren, wie, durch wen und für wen sie eigentlich erreicht wurden, also kurzerhand die Allgemeinheit für sie verantwortlich zu machen […], geht nicht wohl an. Im Gegenteil kann nichts förderlicher sein […] als die Einsicht, daß es eine Zwangsläufigkeit des geistigen Geschehens auch hier nicht gibt, sondern daß eben der Handelnde den Lauf der Dinge bestimmt, der Passive ihn ermöglicht. Das Kunstleben ist, wie die Politik, am Ende ein Ringen um die Mitläufer.«
Damit definiert sich Kunst schlicht als das, was die Geschmacksträger der jeweiligen Epoche als Kunst definieren. Eine scheinbare Tautologie, die jedoch nur aufdeckt, daß es auch im Ästhetischen letztlich um Machtfragen geht, um das Durchsetzen dessen, was als schön, gut und wahr gilt respektive gelten soll oder darf. Und wo ein relativ unbestrittener Kanon existiert, haben ihn diejenigen errichtet, die jeweils die kulturelle Macht dazu besitzen, was häufig mit der kommerziellen und politischen zusammenhängt. Noch kürzer: Die herrschende Ästhetik ist die Ästhetik der Herrschenden.
Wenn heute Germanisten also mehrheitlich überzeugt sind, daß vor allem Grass, Böll, Andersch, Jens, Walser, Koeppen, Eich, Enzensberger, Kipphardt, Hochhuth, Weiss oder Siegfried Lenz respektive die Ästhetik der »Gruppe 47« die bundesrepublikanische Belletristik der ersten Jahrzehnte repräsentieren, nicht aber Zeitgenossen oder Antipoden wie die Brüder Jünger, Bergengruen, Gaiser, Fernau, Kasack, Britting, Lehmann, Zuckmayer, Carossa, Vegesack, Salomon, Reinhold Schneider, Elisabeth Langgässer oder Agnes Miegel, so ist dies – generationstypischer Geschmackswandel unbenommen – vor allem eine gewollte Setzung.
Denn soziologisch ist diese Klassifizierung durch Verkaufsziffern oder Lektürehäufigkeiten nur teilweise gedeckt. Wenn Böll oder Grass zahlreiche Anhänger fanden, galt dies ebenso für alternative Namen. Laut Spiegel-Umfrage gehörten z. B. Hermann Hesse, Werner Bergengruen und Peter Bamm noch 1967 zu den meistgelesenen Autoren Berliner Studenten, wobei Bamm inzwischen gänzlich und Bergengruen weitgehend aus dem Kanon verbannt wurde.
Ähnliches gilt für Eugen Roth, Joachim Fernau oder den (ins Jugendbuch-Genre abgedrängten) Hans Baumann, die über Jahrzehnte Millionenauflagen erzielten. Zuckmayers Des Teufels General war der Theaterrenner schlechthin; nur Brecht konnte bei Bühnenerfolgen mithalten. Sein Als wär’s ein Stück von mir stand 37 Wochen auf der Spiegel-Bestsellerliste. Auch Wolf von Niebelschütz’ Der blaue Kammerherr verkaufte sich blendend. Salomons Der Fragebogen zählt zu den erfolgreichsten Neuerscheinungen der Nachkriegszeit. Zwischen dem Votum unseres »Experten«-Establishments und den »populistischen« Leserentscheidungen zeigt sich also eine gewisse Kluft, die erst durch systematische Bearbeitung des Lesergeschmacks seit dem Durchmarsch der 68er in den Kulturinstitutionen zu Lasten der Alten geschlossen wurde.
Zuvor standen sich, idealtypisch vereinfacht, zwei ästhetische Lager gegenüber. Das progressive setzte auf sozialkritisches Engagement gemäß Günter Eichs Büchnerpreisrede 1959: »Wenn unsere Arbeit nicht als Kritik verstanden werden kann, als Gegnerschaft und Widerstand, […] schreiben wir umsonst, dann sind wir positiv und schmücken das Schlachthaus mit Geranien.« Schonungsloser Realismus wurde gefordert statt freier Phantasie. Dem »Trümmerliteraten« Wolfgang Weyrauch war alle Schönheit verdächtig. Um der Wahrheit willen müsse man »röntgen«, schrieb er 1949 in seiner Geschichten-Edition mit dem bezeichnenden Titel Tausend Gramm. Er bekämpfte Kalligraphie als »Verhängnis eines neuen Nebels«, worin »die Geier und die Hyänen nisten«. Ganze Literaturgenres gerieten unter Legitimationsdruck. Man denke an Adornos Poesie-Soupçon seit Auschwitz oder etliche Breitseiten gegen Naturlyrik.
Kein ländlicher Rückzug – Fritz Sterns Buchtitel Kulturpessimismus als politische Gefahr wurde zum provinz- und heimatkritischen Schlagwort. Christliche Erbauung, unpolitische Stoffwahl abseits der Gegenwart standen unter Generalverdacht, der notwendigen Selbstreinigung auszuweichen. Heiterkeit, Humor oder andere Formen eines lebensbejahenden Trotzdem wurden als verhängnisvolle Sedativa diskreditiert. Unter dem Slogan »Opas Theater ist tot« beerdigte eine bilderstürmerische Regisseur-Avantgarde die bislang bevorzugte Charakterdramaturgie zugunsten einer respektlos-grotesken Typen- oder Dokumenten-Präsentation. Ein anderes modisches Dekret bezweifelte die Darstellbarkeit der Welt durch Geschichten, was im Hörspielbereich etwa einen ausgewiesenen Könner wie Fred von Hoerschelmann traf.
Ganz anders sahen viele »Traditionalisten« ihre Aufgabe. »Dichtung entsteht«, schrieb Kasack, »aus der Überhöhung der Wirklichkeit«. Statt Alltagssprache, Modejargon oder »dirty speech« bevorzugten sie gehobene Stilebenen. Anstelle unbedingter Aktualitätsbezogenheit das Kontinuierliche, ewig Gültige (Elisabeth Langgässer) im Kampf zwischen Gut und Böse, nicht (scheinbar) Singuläres, sondern Überzeitlich-Parabelhaftes im Lauf von Jahrhunderten. Mehr als zu ändernde machtpolitische Strukturen galt ihnen der einzelne als zu erziehender Hoffnungsträger.
Ernst Kreuders Romanheld in Die Gesellschaft vom Dachboden begründet die Weltmisere aus Phantasiemangel. Er warnt vor dem »Aberglauben der Aufklärung« und »chininbitteren Realisten« samt ihrer »Krematoriumsmusik«. Wieso »nur das Elend Wirklichkeit« sei, fragte Niebelschütz und postulierte: Wenn »die Zeit krank« sei, könne »es nicht Aufgabe der Kunst sein, sie noch kränker zu machen«. Bergengruen verharrte nicht im Bann des allgemein beschworenen »Zivilisationsbruchs«, sondern hielt die Schöpfung im Kern für unzerstörbar. Und Andres erklärte, Dichtung unterscheide sich von einem bloß rational geformten, aus »moralischem, sozialem und politischem Engagement entstandenen Werk wie etwa die echten Buddhastatuen von den falschen«.
Beide Autorengruppen oder Ästhetiktypen fanden bis in die End-60er hinein ihr Publikum. Doch auch die Buchszene neigt weniger zur Koexistenz als zum Verdrängungswettkampf. Um so mehr, als diese »Marktbereinigung« durch eine metapolitische Agenda grundiert war. Voraussetzung für die gewünschte ästhetische Wachablösung waren Neubesetzungen einflußreicher Rundfunk‑, Presse- oder Verlagsressorts, die als Bündnispartner fürs »progressive« Lager in Frage kamen.
Das Reeducation-Gebot eröffnete alliierten Medienoffizieren wichtige kulturpolitische Zugänge, besonders das Lizensierungsverfahren für Zeitschriftengründungen. Alle Besatzungsmächte spielten auf dieser Klaviatur. Zuweilen finanzierte heimlich sogar die CIA. Und die USA, die bereits in Gefangenencamps Schreibzirkel gefördert hatten, warben durch Amerikahäuser oder Übersee-Stipendien. Kommunismus-Anhänger schauten nach Ost-Berlin, wo die DDR sich durch gezielte Einladungen ein Image als erste Adresse für Remigranten verschaffte.
Weitere Impulse gingen von der Frankfurter Schule aus. Der Zentralrat der Juden in Deutschland tat ein übriges. Finanzielle Unterstützung bot die Infrastruktur der EKD, deren jüngere Vertreter bald einschlägig Partei nahmen. Den Linkskurs unterfütterten Gewerkschaften und SPD, die sich intensiv um schriftstellerisches Engagement in ihrem Sinne bemühten. Nachrückende Hochschulgermanisten stützten schon vor der Studentenrevolte neue Literaturtrends, auch Lehrplanmacher in Ministerien, exemplarisch Reformpädagogen der Hessischen Rahmenrichtlinien. Der mächtige Einfluß der »Gruppe 47« ist bekannt. Von dieser Basis her gelang es zunehmend, die favorisierten Literaturmaßstäbe durchzusetzen und Alternativen als rückständig oder ewiggestrig zu diskreditieren.
Das geschah planmäßig in Preiskomitees, durch Kritikerallianzen oder literaturkritische »Musterprozesse« gegen frühere Größen, am liebsten gespickt mit persönlichen vergangenheitsbezogenen Angriffen. In solchem Kontext steht die Ausrufung des »Wunderjahrs 1959«, aus dem bezeichnenderweise auch Eichs obiges Statement stammt. Alle drei Romane weisen »moderne« Erzählmittel auf: kompositorische Vor- und Rückgriffe, multiperspektivische Darstellung oder Überschreitung konventioneller Erzählgattung. Doch formale Novitäten allein begründen höchst selten die Aufnahme in eine Epochenauswahl. Was wirklich zählt, sind (politische) Botschaften.
Bei Johnson, der Wert darauf legte, seinen neuen Aufenthaltsort in West-Berlin nur als »Wohnungswechsel« zu bezeichnen, mag die zurückhaltende Art eine Rolle gespielt haben, den deutsch-deutschen Konflikt zu gestalten. Das hob ihn für hiesige Salonsozialisten wohltuend von »Kalten Kriegern« ab, die zu schärferer DDR-Schelte neigten. Bei Böll und Grass gefielen fraglos die ätzenden, teils karikierenden Auslassungen über eine angeblich unbelehrte Adenauer-Gesellschaft, vor deren fatalen geistigen und personellen Altlasten nachdrücklich gewarnt werden müsse.
Der selbstgerecht-unversöhnliche Ansatz solcher Zeitdiagnose, präsentiert als höhere Sensibilität eines Opfergedenkens, bildet ja bis heute den wertungsmäßigen Bodensatz angeblich alternativloser »Vergangenheitsbewältigung«. Nur so reift man hierzulande zur »moralischen Instanz« und zur Leitfigur unseres Literaturkanons. Dazu nächstens mehr.
Nordlicht
Uwe Johnsons Jahrestage sind dem Autoren dieser Schau wohl entgangen. -
Wenn man schon von begrenzten Umfeld spricht, dann gilt das mE eher für Arno Schmidt. Damit meine ich nicht die Geografie, er ist immerhin zwischen Mannheim, Walsrode und Bargfeld weit herumgekommen, was sich in den Büchern niederschlägt, Ich meine seine frustrierte Ablehnung der Welt ausserhalb alter Bücher.
(Auch wenn es nicht so kling, ich bin immer noch AS-Fan. Uwe Johnson konnte aber wirklich Romane schreiben, AS nicht.)