Ersteres deshalb, weil die Herausgeber Felix Dirsch und David Engels erstmals mit dem Gerhard Hess Verlag in Bad Schussenried zusammenarbeiten und dadurch eine neue Farbe in das Spektrum christlich-konservativer Erscheinungsorte einfügen. Inhaltlich gibt es bereits zwei Vorgänger, Rechtes Christentum? (2018) und Nation, Europa, Christenheit (2019), die im Ares Verlag erschienen sind.
Kreisten die ersten zwei Bände vor allem um die Frage nach der »Politisierung« oder aktuellen politischen Fruchtbarmachung des Christentums, widmet sich das neuerschienene Buch vor allem der Begriffsgeschichte des Konzepts »Abendland«.
Die meisten Beiträge haben gar nichts spezifisch »Rechtes« an sich und könnten eigentlich in einem wissenschaftlichen Überblicksband »Abendland – Einführung in einen Begriff« der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft stehen. Soviel zum enggeführten Diskurskorridor im deutschsprachigen Raum, in dem ein solches Buch nur in einem Nischenverlag publizierbar ist.
In der Tat bemühen sich die Herausgeber um ruhige Töne, weit ausgreifende Einordnung und Klärung vermeintlicher Skandalbegriffe und einseitiger Lesarten. Ausnehmen möchte der Rezensent hier allenfalls Egon Flaigs lange historische Ausführungen über den Islam, den er mit einem neokonservativen Verständnis des christlichen Abendlandes (als aufklärerisch, demokratisch und liberal) scharf kontrastiert. Politisch wird es nur im Schlußbeitrag des Mitherausgebers David Engels, der sich – von ihm selbst aufgeführten naheliegenden Einwänden zum Trotz – vorstellen kann, daß auch ein ausgehöhltes bloßes »Kulturchristentum«, aufgeladen mit konservativen Werten und unterstützt durch eine staatliche Kulturpolitik, wie sie in den sogenannten Visegrád-Staaten herrscht, zur Rettung des Abendlandes beitragen könnte.
Hier versteht mancher Leser wohl kaum, weshalb nach allen Ausführungen der anderen Autoren zum »Mythos«, zur »Ideologie« und zum »Schwundbegriff« des christlichen Abendlandes ausgerechnet dieser move noch möglich sein kann. Engels scheint als Anhänger Oswald Spenglers (der neben dem katholischen Denker Josef Pieper die meistzitierte Bezugsgröße der Aufsätze dieser Sammlung darstellt) philosophischer Pessimist und zugleich politischer Optimist zu sein. Ob die Kulturpolitik Ungarns, Polens oder Tschechiens wirklich aus lebendigen christlichen Quellen inspiriert ist oder vielmehr eine konservative Fassade der einheitlichen Weltordnung, also eine Art Lockstoff für westliche Liberalkonservative und Rechte, darstellt, wird aus den optimistischen Ausklängen nicht deutlich. Ist die große Frage tatsächlich diejenige, ob »wir« den Untergang des Abendlandes noch kulturell oder politisch aufhalten können, oder stellt sich nicht vielmehr eine neue Frage: wie dieser zu ertragen wäre?
Interessant ist in diesem Zusammenhang der Beitrag des indischen Philosophen Ram Mall, der sich keineswegs scheut, Leitbegriffe wie »interkulturell« und »postkolonial« positiv zu verwenden und den »Eurozentrismus überwinden« zu wollen, sich aber offenkundig ebensowenig scheut, an diesem Buch mitzuschreiben. Mall formuliert am Schluß seines Beitrags einige Desiderate zum »Verstehen-Wollen« und »Verstanden-werden-Wollen« außereuropäischer Denktraditionen. Genau auf diese Weise – hermeneutisch geschult, ohne ideologische Sichtbeschränkungen und vor allem behutsam nachbohrend, nachfragend, nachdenkend – muß man sich auch dem untergehenden Abendlande verstehen-wollend nähern.
Diese Haltung teilen die allermeisten Beiträger (u. a. Caroline Sommerfeld, Erik Lehnert, Egon Flaig und Martin Lichtmesz) des Sammelbandes Gebrochene Identität?, dessen Titel weniger akademische Phrase als Ausgangspunkt einer tragischen Retrospektive ist. Tragisch ist etwas, dessen Ursachen sich denkend und forschend feststellen lassen, das jedoch im Augenblick dieser Feststellung so verhängnisvoll wie unabänderlich dem Tod geweiht ist. Das Abendland kann man womöglich als ein tragisches Stück betrachten, aus dem wir Abendländer gerade erwachen.
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Felix Dirsch, David Engels (Hrsg.): Gebrochene Identität? Christentum, Abendland und Europa im Wandel, Bad Schussenried: Gerhard Hess Verlag 2022. 452 S., 19,90 €
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