»Fehlkonstruktion!« – Arthur Koestlers Bild vom Menschen

von Eva Rex -- PDF der Druckfassung aus Sezession 108/ Juni 2022

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»Wir kön­nen nicht wei­te­re 100 000 Jah­re auf eine unwahr­schein­li­che Zufalls­mu­ta­ti­on war­ten, die alles in Ord­nung brin­gen wird. Wir kön­nen nur dann zu über­le­ben hof­fen, wenn wir Metho­den ent­wi­ckeln, die die bio­lo­gi­sche Evo­lu­ti­on erset­zen.« (1)

Als Arthur Koest­ler (1905 – 1983) die­se Wor­te schrieb, stan­den die Zei­ger der Welt­uhr auf fünf vor zwölf. Bereits ein hal­bes Jahr­hun­dert vor dem Auf­tau­chen der Kli­ma­ju­gend und Extinc­tion ­Rebel­li­on befand sich die apo­ka­lyp­ti­sche End­zeit­stim­mung auf ihrem vor­läu­fi­gen Höhepunkt.

Seit­dem der Club of Rome 1972 zum ersten­mal öffent­lich in Erschei­nung getre­ten war, beherrsch­te – mit­ten in der auf­ge­heiz­ten Stim­mung des Kal­ten Krie­ges – das Gefühl der unaus­weich­li­chen Kata­stro­phe die Gemü­ter: »Ich habe noch nichts über die zusätz­li­chen ­Schre­cken der bio­che­mi­schen Krieg­füh­rung gesagt«, leg­te Koest­ler nach, »nichts über die Bevöl­ke­rungs­explo­si­on, die Umwelt­ver­schmut­zung und der­glei­chen.« Und: »Seit 1945 besitzt unse­re Spe­zi­es die dia­bo­li­sche Fähig­keit, sich selbst zu ver­nich­ten.« Sekun­diert wur­de er von Kon­rad Lorenz, der in sei­nem Buch Die acht Tod­sün­den der zivi­li­sier­ten Mensch­heit (1973) als die ers­te Sün­de »Über­be­völ­ke­rung« und als letz­te die »Auf­rüs­tung mit Kern­waf­fen« definierte.

Daß Koest­ler in sol­cher­art Alar­mis­mus ein­stimm­te, ist nicht über­ra­schend, wenn­gleich bedau­er­lich, kennt man ihn doch als einen der ori­gi­nells­ten Schrift­stel­ler des 20. Jahr­hun­derts. Als Ver­fas­ser des Romans ­Son­nen­fins­ter­nis, einer scho­nungs­lo­sen Abrech­nung mit der ­mör­de­ri­schen Maschi­ne­rie der klas­sen­lo­sen Gesell­schaft, hat­te er sich tief in das Bewußt­sein sei­ner Zeit eingegraben.

Die­ses 1940 in Eng­land erschie­ne­ne Buch mach­te ihn zum Rene­ga­ten der Kom­mu­nis­ti­schen Par­tei (KPD), der er sie­ben Jah­re ange­hört hat­te. Sei­ne gesto­chen schar­fe Aus­ein­an­der­set­zung mit den Wirk­kräf­ten einer tota­li­tä­ren Ideo­lo­gie ließ ihn zudem nach deren Ursa­chen fra­gen. Er erkann­te sie in dem Drang, sich mora­li­scher Beden­ken zu ent­le­di­gen, in der Ver­ab­so­lu­tie­rung der mensch­li­chen Ver­nunft, der Abkehr vom Ich hin zur »Mensch­heit« sowie der Maxi­me, der Zweck hei­li­ge die Mit­tel. Son­nen­fins­ter­nis gilt bis heu­te auch als War­nung vor dem unbe­ding­ten Glau­ben an die gren­zen­lo­se Form­bar­keit des Menschen.

Damit hat­te Koest­ler zusam­men mit zwei ande­ren Titeln (Die Gla­dia­to­ren, Ein Mann springt in die Tie­fe) eine Tri­lo­gie vor­ge­legt, die sich mit der »Ethik der Revo­lu­ti­on« beschäf­tigt. Kur­ze Zeit spä­ter wand­te er sich vom Ver­fas­sen poli­ti­scher Roma­ne ab und voll­zog, wie so oft in sei­nem Leben, eine radi­ka­le Wen­de. Fort­an wid­me­te er sich nur noch wissen­schaftstheoretischen Über­le­gun­gen und phi­lo­so­phi­schen Betrachtungen.

Dabei waren es vor allem die Grenz­wis­sen­schaf­ten, die ihn mit der Magie des Schil­lern­den anzo­gen und sei­ne Phan­ta­sie erreg­ten. In sei­nem Inter­es­sens­ge­biet lagen Psy­cho­lo­gie und Para­psy­cho­lo­gie, Phy­sik, Astro­no­mie, Meta­phy­sik, Psi-Phä­no­me­ne, Quan­ten­theo­rie sowie fern­öst­li­che Weis­heits­leh­ren – Dis­zi­pli­nen, die er mühe­los mit­ein­an­der ver­band und gegen den von ihm geh­aß­ten Dog­ma­tis­mus in den eta­blier­ten Wis­sen­schaf­ten in Stel­lung brach­te. Stets war er auf der Suche nach dem Geist hin­ter dem Stoff­li­chen, expe­ri­men­tier­te im Selbst­ver­such mit reli­giö­ser Medi­ta­ti­on und ver­such­te in sei­ner Schrift Der gött­li­che Fun­ke (1964) der schöp­fe­ri­schen Fähig­keit des Men­schen auf die Spur zu kommen.

Vor­geb­lich ging es ihm dar­um, unkon­ven­tio­nel­le Pfa­de in For­schung und Wis­sen­schaft zu beschrei­ten und auf gera­de­zu eso­te­ri­schen Wegen in das ver­wor­re­ne Gewe­be des mensch­li­chen Daseins ein­drin­gen. War dem tat­säch­lich so? Und hat­te Koest­ler sich vom ideo­lo­gi­schen Kom­mu­nis­mus, der auf szi­en­tis­ti­schen Annah­men beruht, wirk­lich ver­ab­schie­det oder leb­te die­ser in ande­rer Gestalt in ihm wei­ter, sein Den­ken, ins­be­son­de­re sei­ne Vor­stel­lung vom Men­schen, wei­ter­hin beein­flus­send? War der schein­ba­re Rene­gat womög­lich eine Kippfigur?

Zur Beant­wor­tung sol­cher Fra­gen muß man zu Koest­lers letz­tem Buch grei­fen: Der Mensch. Irr­läu­fer der Evo­lu­ti­on. Eine Ana­to­mie der mensch­li­chen Ver­nunft und Unver­nunft (im Ori­gi­nal: Janus. A Sum­ming Up). In die­sem fünf Jah­re vor Koest­lers Tod erschie­ne­nen Werk sind sei­ne Theo­rien, die er in der Beschäf­ti­gung mit der »Wis­sen­schaft vom Leben« ent­wi­ckelt hat­te, zusam­men­ge­faßt und zugleich fort­ge­schrie­ben: »Was ich zei­gen möch­te, ist, daß mei­ne Über­le­gun­gen von einst und heu­te ein umfas­sen­des Sys­tem bil­den, das dem Mate­ria­lis­mus eine Absa­ge erteilt und neu­es Licht auf die Lage des Men­schen wirft.«

Koest­ler for­dert ein neu­es Ver­ständ­nis der Wis­sen­schaft, von der er glaubt, sie sei dem »ortho­do­xen Reduk­tio­nis­mus« ver­fal­len. Die­ser zei­ge sich in dem die dama­li­ge Wis­sen­schafts­welt beherr­schen­den Beha­vio­ris­mus und der syn­the­ti­schen Evo­lu­ti­ons­theo­rie. Die Quint­essenz die­ser bei­den Leh­ren bringt er wie folgt auf den Punkt: Der Mensch sei nichts als ein »kom­pli­zier­ter bio­che­mi­scher Mecha­nis­mus, des­sen Ener­gie von einem Ver­bren­nungs­sys­tem gelie­fert wird, das Com­pu­ter mit Ener­gie ver­sorgt, die uner­hört reich an Spei­chern für die Auf­be­wah­rung ver­schlüs­sel­ter Infor­ma­tio­nen sind.«

Der sei­ner Ansicht nach reduk­tio­nis­ti­sche Irr­tum die­ser line­ar aus­ge­rich­te­ten Anschau­ung lie­ge in der Fest­stel­lung, mensch­li­ches Leben beru­he auf einer Ket­te kon­di­tio­nier­ter Reaktionen.

Koest­ler stellt in schar­fer Abgren­zung dazu das Modell der ­»Hol­ar­chie« vor, ein ganz­heit­li­ches Kon­zept, das besagt, daß die Struk­tu­ren der Welt als hier­ar­chisch ange­ord­ne­te Ein­hei­ten vor­ge­stellt wer­den kön­nen. Ein Holon fun­giert als eine Ganz­heit, bestehend aus Sub-Ganz­hei­ten, die sich wie­der­um in Sub-Ganz­hei­ten einer nied­ri­ge­ren Ord­nung zer­le­gen las­sen. Hier­für bil­det jedes Mit­glied der Hier­ar­chie, auf wel­cher Stu­fe es auch steht, eine fes­te Struk­tur mit selbst­re­gu­lie­ren­den Mecha­nis­men, die ihm ein Maß an Auto­no­mie und Selbst­be­stim­mung garan­tier­ten. »Wenn wir irgend­ei­ne sta­bi­le sozia­le Orga­ni­sa­ti­on vom Insek­ten­staat bis zum Pen­ta­gon betrach­ten, wer­den wir fest­stel­len, daß sie hier­ar­chisch geglie­dert ist.«

Jedes ­Holon, ob bio­lo­gisch (als Zel­le, Organ) oder sozi­al (als Indi­vi­du­um, Fami­lie, Volk), weist sowohl die Unab­hän­gig­keit vom Gan­zen als auch Abhän­gig­keit von Tei­len auf. Holons sind janus­köp­fi­ge Ganz­hei­ten: Das zu den höhe­ren Stu­fen der Hol­ar­chie gewand­te Gesicht ist das eines unter­ge­ord­ne­ten Teils in einem grö­ße­ren Sys­tem; das zu den nie­de­ren Stu­fen gewand­te Gesicht gehört zu einer auto­no­men Ganz­heit. Dar­aus folgt, daß dem ­Holon zwei kon­trä­re Ten­den­zen inne­woh­nen: die inte­gra­ti­ve Ten­denz, um als Teil des über­ge­ord­ne­ten Gan­zen zu funk­tio­nie­ren, und die selbst­be­haup­ten­de Ten­denz, um sei­ne indi­vi­du­el­le Auto­no­mie zu wahren.

Und hier nun kommt das Pro­ble­ma­ti­sche ins Spiel: Die Tra­gö­die des Men­schen, so Koest­ler, bestehe dar­in, daß die inte­gra­ti­ven Ten­den­zen über­mäch­tig gewor­den sei­en. Krie­ge wür­den nicht geführt, weil der Mensch ein Über­maß an Aggres­si­vi­tät besit­ze, son­dern weil er sei­ne Ver­ant­wor­tung abge­be, um einer grö­ße­ren Sache blind zu die­nen. Unter güns­ti­gen Bedin­gun­gen sei­en die bei­den Ten­den­zen – Selbst­be­haup­tung und Inte­gra­ti­on – mehr oder weni­ger aus­ba­lan­ciert, und das Holon lebe in einem dyna­mi­schen Gleich­ge­wicht. Unter ungüns­ti­gen Bedin­gun­gen sei das Gleich­ge­wicht gestört, was schlim­me Fol­gen nach sich zie­he: Die Kluft zwi­schen Emo­ti­on und Ver­nunft wer­de ver­tieft, die Grup­pen­men­ta­li­tät wer­de von einem Sys­tem von Glau­bens­sät­zen, Tra­di­tio­nen und mora­li­schen Impe­ra­ti­ven beherrscht. Ver­glei­che man die aus selbst­süch­ti­gen Moti­ven ange­rich­te­ten Schä­den durch indi­vi­du­el­le Gewalt, so sei­en die­se rela­tiv unbe­deu­tend gegen­über jenen, die aus der selbst­tran­szen­die­ren­den Hin­ga­be an kol­lek­ti­ve Glau­bens­sys­te­me erwüchsen.

Immer tie­fer ver­bohrt Koest­ler sich in die Ansicht, es sei genau die­ses Ungleich­ge­wicht, das für alles Übel ver­ant­wort­lich sei. Wie­der­holt beschei­nigt er dem Men­schen einen ange­bo­re­nen »para­no­iden Zug«, unter­streicht das »Patho­lo­gi­sche« der mensch­li­chen Spe­zi­es: Der Mensch sei eine »bio­lo­gi­sche Miß­ge­burt«, eine »Fehl­kon­struk­ti­on«, ein ver­häng­nis­vol­ler »Defekt«.

Wenn nun aber die­ser »Defekt« so untrenn­bar mit der Natur des Men­schen ver­bun­den ist, daß er zu einer Bedro­hung für den Pla­ne­ten wird, dann ist es in den Augen Koest­lers mehr als gebo­ten, ihm auf den Grund zu gehen, um eine wir­kungs­vol­le »The­ra­pie« aus­zu­ar­bei­ten. Und er fin­det, gestützt auf Erkennt­nis­se vor­wie­gend angel­säch­si­scher Anthro­po­lo­gen, Neu­ro­lo­gen und Gehirn­for­scher, den Feh­ler umge­hend im Gehirn des Säu­ge­tiers, genau­er gesagt im mensch­li­chen Neo­cor­tex – der spe­zi­fisch mensch­li­chen »Denk­hau­be«.

Die­se habe sich im Ver­lauf der Evo­lu­ti­on all­zu rasant ent­wi­ckelt, so daß das mensch­li­che Stamm­hirn (das Instink­te, Lei­den­schaf­ten und bio­lo­gi­sche Trie­be steu­ert) nicht Schritt hal­ten konn­te, was eine man­gel­haf­te Koor­di­na­ti­on von Stamm­hirn und Neo­cor­tex zur Fol­ge hat­te. »So ließ das explo­si­ve Gehirn­wachs­tum eine geis­tig unaus­ge­gli­che­ne Spe­zi­es ent­ste­hen, bei der sich altes Gehirn und neu­es Gehirn, Gefühl und Intel­lekt, Glau­be und Ver­nunft in den Haa­ren liegen.«

Trotz aller düs­te­ren Pro­gno­sen glaubt Koest­ler, daß Abhil­fe geschaf­fen wer­den kön­ne: Die The­ra­pie wer­de aus den »Labo­ra­to­ri­en« kom­men, sie beru­he auf den »neu­es­ten spek­ta­ku­lä­ren Fort­schrit­ten der Neu­ro­che­mie und ver­wand­ter Dis­zi­pli­nen.« Das Heil­mit­tel sei eine »Kom­bi­na­ti­on wohl­tä­ti­ger Hor­mo­ne oder Enzy­me, die den Kon­flikt zwi­schen den alten und neu­en Gehirn­struk­tu­ren« löse, indem sie den »Neo­cor­tex mit der Macht der hier­ar­chi­schen Kon­trol­le über die archai­schen, nied­ri­ger ste­hen­den Zen­tren« aus­stat­te und damit die »Ver­wand­lung des homo mania­cus in den homo sapi­ens« ermög­li­che.

Even­tu­el­le Ein­wän­de federt Koest­ler mit elas­ti­scher Selbst­si­cher­heit ab: Die Lis­te der wohl­tä­ti­gen Ein­grif­fe in die mensch­li­che Natur sei end­los, betont er, und in der Gesamt­sum­me die­ser Ein­grif­fe bedeu­te es nicht mehr und nicht weni­ger als eine »Kor­rek­tur der mensch­li­chen Natur, die ohne die­se Kor­rek­ti­va bio­lo­gisch kaum noch lebens­fä­hig wäre«. Über­dies könn­ten moder­ne For­men direk­ter Ein­grif­fe in die Natur, »in welt­wei­tem Umfang ange­wen­det, […] gleich­sam auf eine künst­lich her­bei­ge­führ­te Anpas­sungs­mu­ta­ti­on hinauslaufen.«

Bereits vie­le Jah­re zuvor, im Jah­re 1961, hat­te in San Fran­cis­co ein inter­na­tio­na­les Sym­po­si­on zum The­ma »Kon­trol­le des Geis­tes« statt­ge­fun­den, das von Koest­ler orga­ni­siert wor­den war. Die Teil­neh­mer waren Neu­ro­phy­sio­lo­gen, Psy­cho­phar­ma­ko­lo­gen, Psy­cho­lo­gen, Sys­tem­theo­re­ti­ker und Theo­lo­gen (auch Aldous Hux­ley war dabei). Schon bei der ers­ten Sit­zung schlug der schwe­di­sche His­to­lo­ge Pro­fes­sor Hol­ger Hydén mit sei­nem Vor­trag »Bio­che­mi­sche Aspek­te der Gehirn­tä­tig­keit« hohe Wel­len: »Mei­ner Ansicht nach könn­te irgend­wann eine Mög­lich­keit gefun­den wer­den, den Ord­nungs­grad in den Gehirn­zel­len eines Indi­vi­du­ums durch Zufuhr von frem­dem Gen­ma­te­ri­al zu erhö­hen. Die Fra­ge ist nur, auf wel­che Wei­se das gesche­hen kann. Es gibt da meh­re­re Mög­lich­kei­ten. Die ein­fachs­te bestün­de dar­in, die Gehirn­zel­len mit einem harm­lo­sen Virus zu infi­zie­ren, an den das frem­de Gen­ma­te­ri­al gebun­den ist. Viren haben die Eigen­schaft, in Wirts­zel­len ein­zu­drin­gen, und könn­ten als Über­trä­ger die­nen. Eine erfolg­rei­che Bekämp­fung der Entro­pie­zu­nah­me in den Gehirn­zel­len könn­te die Struk­tur unse­rer Gesell­schaft von Grund auf ändern.« (2)

Koest­ler zeig­te sich fas­zi­niert von die­ser Idee und sah sich sei­nem Ziel, das Böse in der Welt zu bän­di­gen, ein Stück näher kom­men: »Der Bio­che­mi­ker kann die Fähig­kei­ten des Gehirns nicht ver­meh­ren, aber er kann Hin­der­nis­se und Blo­cka­den besei­ti­gen, die ihre rich­ti­ge Anwen­dung hem­men. Er kann das Gehirn nicht mit neu­en Schalt­krei­sen aus­stat­ten, aber er kann die Koor­di­nie­rung zwi­schen den vor­han­de­nen Schalt­krei­sen ver­bes­sern und die Macht der Groß­hirn­rin­de, der Spit­ze der Hier­ar­chie, über die nied­ri­ge­ren, emo­ti­ons­ge­bun­de­nen Stu­fen und die von ihnen erzeug­ten blin­den Lei­den­schaf­ten vergrößern.«

End­lich kön­ne man sich dar­auf freu­en, das Pro­blem gelöst und einem erwünsch­ten Zustand in den Bereich des Mög­li­chen gerückt zu haben, näm­lich die »Erzeu­gung eines dyna­mi­schen Gleich­ge­wichts, einer inne­ren Aus­ge­gli­chen­heit, durch die das geteil­te Haus von Glau­be und Ver­nunft wie­der­ver­ei­nigt und die hier­ar­chi­sche Ord­nung wie­der­her­ge­stellt wird.«

Wenn man sol­cher­art Aus­füh­run­gen liest, erscheint Koest­lers lebens­lan­ge Ver­tei­di­gung der indi­vi­du­el­len Frei­heit denk­bar frag­wür­dig. Er, der ange­tre­ten war, die beha­vio­ris­ti­sche Annah­me, daß der Mensch ein Pro­dukt kon­di­tio­nier­ter Refle­xe sei, zu zer­schmet­tern, beto­niert die­sel­be durch Erschaf­fung eines Denk­mo­dells, das den Men­schen in den Auto­ma­tis­mus eines Schalt­krei­ses hin­ein­zwingt, des­sen ein­zi­ge Neue­rung sein Rück­kop­pe­lungs­me­cha­nis­mus ist. Glaubt Koest­ler an den frei­en Willen?

Zahl­rei­che Stel­len in sei­nen Schrif­ten bele­gen dies, doch es beschleicht einen die Ver­mu­tung, daß er sei­nen eige­nen Grund­sät­zen nicht traut. Wer sich zur Frei­heit bekennt, muß mensch­li­che Feh­ler und damit das Böse zulas­sen kön­nen. Koest­lers größ­ter Feh­ler war: das Pri­mat der Ratio über alle ande­ren Eigen­schaf­ten zu stel­len, die den Men­schen bestim­men. Wo blei­ben Phan­ta­sie, Krea­ti­vi­tät, Gewis­sen, Güte? Ver­nunft defi­niert er ein­sei­tig als Fähig­keit zur Abs­trak­ti­on und sub­su­miert bei­des unter die Kate­go­rie Ver­stand. So ist es nur fol­ge­rich­tig, daß er mensch­li­ches Fehl­ver­hal­ten nicht auf indi­vi­du­el­le Ent­glei­sung zurück­führt, son­dern als art­spe­zi­fi­sches Merk­mal ausweist.

Unheil und Mas­sen­mor­de sind sei­nem Holon-Modell zufol­ge nicht dem mensch­li­chen Ego­is­mus zuzu­schrei­ben, son­dern dem Hang des Men­schen zur Selbst­auf­op­fe­rung. Doch die Hier­ar­chie der Orga­nis­men, so wie er sie dar­stellt, erfor­dert die­se Unter­ord­nung, sie ist kei­ne Fehl­ent­wick­lung, sie ist sys­tem­im­ma­nent und Bedin­gung für den Auf­bau kom­ple­xer Struk­tu­ren. Über­dies ist zu fra­gen, ob der ver­meint­li­che Defekt wirk­lich nur in der Hin­ga­be des Men­schen begrün­det liegt. Was ist mit dem Wil­len zur Macht?

Cha­rak­te­ris­tisch für Koest­ler, daß er eine noch grö­ße­re Gefahr über­sieht: den Wahn des Men­schen, ande­re zu kon­trol­lie­ren. Betrach­tet er die­se Ver­su­chung nicht als Pro­blem? Offen­bar nicht, denn er ist trotz aller gegen­tei­li­gen Behaup­tun­gen selbst von die­ser Obses­si­on beses­sen. Es ist die Grund­la­ge sozia­lis­ti­schen Steue­rungs­den­kens, von dem Koest­ler nie­mals weg­ge­kom­men ist. Dies offen­bart sich am ein­drucks­volls­ten in sei­nem Ansin­nen, den Men­schen bio­lo­gisch, also mit Hil­fe der Natur­wis­sen­schaft, dau­er­haft ver­än­dern zu wol­len. Koest­ler, der gan­ze Feld­zü­ge gegen den Gel­tungs­drang der Wis­sen­schaf­ten ange­führt hat, spricht sich gegen Ende sei­nes Lebens unver­blümt für Bio-Engi­nee­ring und Anthro­po­tech­nik aus!

Daß dies zwangs­läu­fig auf eine Stan­dar­di­sie­rung mensch­li­chen Lebens hin­aus­lie­fe, inter­es­siert ihn nicht, denn er glaubt an die Erschaf­fung des neu­en Men­schen – eines gezähm­ten, von frei­em Wil­len und Fehl­bar­keit ent­bun­de­nen Bio-Pro­dukts, das die Evo­lu­ti­on nicht nur len­ken, son­dern sogar beschleu­ni­gen wird. Daß sol­cher­art Kon­zep­te gera­de heu­te in ver­mes­se­nen Groß­pro­gram­men wie Trans­hu­ma­nis­mus und Sin­gu­la­ri­tät eine phi­lo­so­phi­sche Begrün­dung fin­den, muß nicht wei­ter aus­ge­führt werden.

Die Vor­stel­lung, daß man Erkennt­nis­se der Wis­sen­schaft unmit­tel­bar in poli­ti­sche Maß­nah­men umset­zen soll­te, hat in der Geschich­te viel Leid ver­ur­sacht. Koest­ler, der den Sta­li­nis­mus auf so ein­drucks­vol­le Wei­se seziert hat, hät­te es eigent­lich bes­ser wis­sen müssen.

Schon 1942 hat­te er in sei­nem berühm­ten Essay Der Yogi und der Kom­mis­sar (1942) hell­sich­tig erkannt, daß »alle Ver­su­che, durch Kom­mis­sar-Metho­den die mensch­li­che Natur zu ändern, […] bis jetzt fehl­ge­schla­gen« sind, »vom Son­nen­staat des Spar­ta­kus über die Inqui­si­ti­on und die Refor­ma­ti­on bis zu Sowjet­ruß­land.« – »Alle Ver­su­che, eine Wand­lung von innen her­bei­zu­füh­ren, sind eben­falls erfolg­los geblie­ben, sofern es nicht gera­de um ein­zel­ne ging. Bei jedem Ver­such, die Hei­lig­keit mit äuße­ren Mit­teln zu orga­ni­sie­ren, ver­fin­gen sich die Orga­ni­sa­to­ren im glei­chen Dilemma.«

War­um ist er spä­ter in sei­nem Den­ken so weit zurück­ge­fal­len? Viel­leicht, weil er ein zu abs­trak­tes Modell im Kopf beweg­te, wie die idea­le Zukunft der Mensch­heit aus­se­hen soll­te? Die­ses beruht auf der Aus­ge­wo­gen­heit von Geist und Emo­ti­on, einer Fest­le­gung, die genau­so­we­nig begrün­det ist wie in unse­ren Tagen das Theo­rem eines aus­ge­wo­ge­nen Kli­mas. Koest­lers Fehl­ein­schät­zung besteht dar­in, daß er Aus­ge­wo­gen­heit in aus­ge­spro­chen deter­mi­nis­ti­scher Manier für das Ziel der Evo­lu­ti­on hält. Bezeich­nend ist, daß er die Denk­fi­gur der Homöo­sta­se (grie­chisch »Gleich­stand«) ver­wen­det, ein Axi­om aus der Kyber­ne­tik – jener Wis­sen­schaft, die sich die Rege­lung und die Infor­ma­ti­ons­ver­ar­bei­tung in dyna­mi­schen Sys­te­men zum Objekt gemacht hat und erklär­ter­ma­ßen die Steue­rung gan­zer Gesell­schaf­ten anstrebt.

Merk­wür­dig, wie wenig Koest­lers Selbst­wahr­neh­mung mit den von ihm prä­sen­tier­ten Inhal­ten über­ein­stimmt – das Prin­zip der Janus­köp­fig­keit erfährt durch sei­ne Per­son eine beun­ru­hi­gen­de Aus­prä­gung. Offen­bar wur­de er von dem ein­ge­holt, wovor er zeit sei­nes Lebens den größ­ten Abscheu emp­fand: der Vor­her­be­stimmt­heit und der Mani­pu­lier­bar­keit des Men­schen durch eine see­len­lo­se, mate­ria­lis­ti­sche Wissenschaft.

Er, der nicht ruh­te, gegen die Unter­wer­fung des Indi­vi­du­ums unter die Zwangs­herr­schaft des Kol­lek­tivs auf­zu­be­geh­ren, beför­der­te die­se durch sei­ne Theo­rien selbst. Am Ende sei die Fra­ge erlaubt, ob Koest­ler gegen selbsttrans­zendierende Ten­den­zen hin­rei­chend immu­ni­siert war. All­zu­schnell fing er Feu­er, war bereit zu rück­halt­lo­ser Hin­ga­be, sei es für eine poli­ti­sche Bewe­gung oder eine ideo­lo­gi­sche Über­zeu­gung, um kur­ze Zeit spä­ter den pre­kä­ren Irr­tum zer­knirscht ein­zu­ge­ste­hen. Könn­te es sein, daß er, der lebens­lang Getrie­be­ne, in sei­ner per­sön­li­chen Lebens­ge­stal­tung Unste­te und von fixen Ideen Beses­se­ne, die Hoff­nung ver­folg­te, sich selbst von einem Maniac in einen Wei­sen zu ver­wan­deln? Koest­ler hat sich – gemein­sam mit sei­ner drit­ten Ehe­frau – selbst das Leben genommen.

Der idea­le Revo­lu­tio­när, so erklärt er in sei­ner Auto­bio­gra­phie Als Zeu­ge der Zeit, sei ein »Fana­ti­ker der Logik«. In ihm offen­ba­re sich das »Gesetz des Umwegs«. Die­ses zwin­ge den Füh­rer, auf dem Weg in die Uto­pien »aus Mit­leid grau­sam zu sein«. Er sei »dazu ver­ur­teilt, immer das zu tun, was ihn am meis­ten abstößt, ein Mör­der zu wer­den, um das Mor­den abzu­schaf­fen, Men­schen mit der Knu­te zu peit­schen, damit sie ler­nen, sich nicht peit­schen zu las­sen, sich von allen Skru­peln zu befrei­en im Namen der höchs­ten Skru­pel, und den Haß der Mensch­heit her­aus­zu­for­dern aus Lie­be für sie – einer abs­trak­ten und geo­me­tri­schen Lie­be«. (3)

Es ist eine Iro­nie des Schick­sals, daß aus­ge­rech­net Koest­ler, der die­ses Gesetz erkannt hat, sel­ber zu des­sen pro­mi­nen­tes­tem Opfer wurde.

– – –

(1) – Arthur Koest­ler: Der Mensch – Irr­läu­fer der Evo­lu­ti­on. Eine Ana­to­mie der mensch­li­chen Ver­nunft und Unver­nunft, Bern / Mün­chen 1978, S. 118; alle fol­gen­den Koest­ler-Zita­te ent­stam­men, wenn nicht anders ange­ge­ben, die­sem Buch.

(2) – Arthur Koest­ler (Hrsg.): Das neue Men­schen­bild. Die Revo­lu­tio­nie­rung der Wis­sen­schaf­ten vom Leben. Ein inter­na­tio­na­les Sym­po­si­on, Wien / Mün­chen / Zürich 1970, S. 113.

(3) – Arthur Koest­ler: Als Zeu­ge der Zeit. Das Aben­teu­er mei­nes Lebens, Bern /München 1985, S. 221.

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