»Wir können nicht weitere 100 000 Jahre auf eine unwahrscheinliche Zufallsmutation warten, die alles in Ordnung bringen wird. Wir können nur dann zu überleben hoffen, wenn wir Methoden entwickeln, die die biologische Evolution ersetzen.« (1)
Als Arthur Koestler (1905 – 1983) diese Worte schrieb, standen die Zeiger der Weltuhr auf fünf vor zwölf. Bereits ein halbes Jahrhundert vor dem Auftauchen der Klimajugend und Extinction Rebellion befand sich die apokalyptische Endzeitstimmung auf ihrem vorläufigen Höhepunkt.
Seitdem der Club of Rome 1972 zum erstenmal öffentlich in Erscheinung getreten war, beherrschte – mitten in der aufgeheizten Stimmung des Kalten Krieges – das Gefühl der unausweichlichen Katastrophe die Gemüter: »Ich habe noch nichts über die zusätzlichen Schrecken der biochemischen Kriegführung gesagt«, legte Koestler nach, »nichts über die Bevölkerungsexplosion, die Umweltverschmutzung und dergleichen.« Und: »Seit 1945 besitzt unsere Spezies die diabolische Fähigkeit, sich selbst zu vernichten.« Sekundiert wurde er von Konrad Lorenz, der in seinem Buch Die acht Todsünden der zivilisierten Menschheit (1973) als die erste Sünde »Überbevölkerung« und als letzte die »Aufrüstung mit Kernwaffen« definierte.
Daß Koestler in solcherart Alarmismus einstimmte, ist nicht überraschend, wenngleich bedauerlich, kennt man ihn doch als einen der originellsten Schriftsteller des 20. Jahrhunderts. Als Verfasser des Romans Sonnenfinsternis, einer schonungslosen Abrechnung mit der mörderischen Maschinerie der klassenlosen Gesellschaft, hatte er sich tief in das Bewußtsein seiner Zeit eingegraben.
Dieses 1940 in England erschienene Buch machte ihn zum Renegaten der Kommunistischen Partei (KPD), der er sieben Jahre angehört hatte. Seine gestochen scharfe Auseinandersetzung mit den Wirkkräften einer totalitären Ideologie ließ ihn zudem nach deren Ursachen fragen. Er erkannte sie in dem Drang, sich moralischer Bedenken zu entledigen, in der Verabsolutierung der menschlichen Vernunft, der Abkehr vom Ich hin zur »Menschheit« sowie der Maxime, der Zweck heilige die Mittel. Sonnenfinsternis gilt bis heute auch als Warnung vor dem unbedingten Glauben an die grenzenlose Formbarkeit des Menschen.
Damit hatte Koestler zusammen mit zwei anderen Titeln (Die Gladiatoren, Ein Mann springt in die Tiefe) eine Trilogie vorgelegt, die sich mit der »Ethik der Revolution« beschäftigt. Kurze Zeit später wandte er sich vom Verfassen politischer Romane ab und vollzog, wie so oft in seinem Leben, eine radikale Wende. Fortan widmete er sich nur noch wissenschaftstheoretischen Überlegungen und philosophischen Betrachtungen.
Dabei waren es vor allem die Grenzwissenschaften, die ihn mit der Magie des Schillernden anzogen und seine Phantasie erregten. In seinem Interessensgebiet lagen Psychologie und Parapsychologie, Physik, Astronomie, Metaphysik, Psi-Phänomene, Quantentheorie sowie fernöstliche Weisheitslehren – Disziplinen, die er mühelos miteinander verband und gegen den von ihm gehaßten Dogmatismus in den etablierten Wissenschaften in Stellung brachte. Stets war er auf der Suche nach dem Geist hinter dem Stofflichen, experimentierte im Selbstversuch mit religiöser Meditation und versuchte in seiner Schrift Der göttliche Funke (1964) der schöpferischen Fähigkeit des Menschen auf die Spur zu kommen.
Vorgeblich ging es ihm darum, unkonventionelle Pfade in Forschung und Wissenschaft zu beschreiten und auf geradezu esoterischen Wegen in das verworrene Gewebe des menschlichen Daseins eindringen. War dem tatsächlich so? Und hatte Koestler sich vom ideologischen Kommunismus, der auf szientistischen Annahmen beruht, wirklich verabschiedet oder lebte dieser in anderer Gestalt in ihm weiter, sein Denken, insbesondere seine Vorstellung vom Menschen, weiterhin beeinflussend? War der scheinbare Renegat womöglich eine Kippfigur?
Zur Beantwortung solcher Fragen muß man zu Koestlers letztem Buch greifen: Der Mensch. Irrläufer der Evolution. Eine Anatomie der menschlichen Vernunft und Unvernunft (im Original: Janus. A Summing Up). In diesem fünf Jahre vor Koestlers Tod erschienenen Werk sind seine Theorien, die er in der Beschäftigung mit der »Wissenschaft vom Leben« entwickelt hatte, zusammengefaßt und zugleich fortgeschrieben: »Was ich zeigen möchte, ist, daß meine Überlegungen von einst und heute ein umfassendes System bilden, das dem Materialismus eine Absage erteilt und neues Licht auf die Lage des Menschen wirft.«
Koestler fordert ein neues Verständnis der Wissenschaft, von der er glaubt, sie sei dem »orthodoxen Reduktionismus« verfallen. Dieser zeige sich in dem die damalige Wissenschaftswelt beherrschenden Behaviorismus und der synthetischen Evolutionstheorie. Die Quintessenz dieser beiden Lehren bringt er wie folgt auf den Punkt: Der Mensch sei nichts als ein »komplizierter biochemischer Mechanismus, dessen Energie von einem Verbrennungssystem geliefert wird, das Computer mit Energie versorgt, die unerhört reich an Speichern für die Aufbewahrung verschlüsselter Informationen sind.«
Der seiner Ansicht nach reduktionistische Irrtum dieser linear ausgerichteten Anschauung liege in der Feststellung, menschliches Leben beruhe auf einer Kette konditionierter Reaktionen.
Koestler stellt in scharfer Abgrenzung dazu das Modell der »Holarchie« vor, ein ganzheitliches Konzept, das besagt, daß die Strukturen der Welt als hierarchisch angeordnete Einheiten vorgestellt werden können. Ein Holon fungiert als eine Ganzheit, bestehend aus Sub-Ganzheiten, die sich wiederum in Sub-Ganzheiten einer niedrigeren Ordnung zerlegen lassen. Hierfür bildet jedes Mitglied der Hierarchie, auf welcher Stufe es auch steht, eine feste Struktur mit selbstregulierenden Mechanismen, die ihm ein Maß an Autonomie und Selbstbestimmung garantierten. »Wenn wir irgendeine stabile soziale Organisation vom Insektenstaat bis zum Pentagon betrachten, werden wir feststellen, daß sie hierarchisch gegliedert ist.«
Jedes Holon, ob biologisch (als Zelle, Organ) oder sozial (als Individuum, Familie, Volk), weist sowohl die Unabhängigkeit vom Ganzen als auch Abhängigkeit von Teilen auf. Holons sind janusköpfige Ganzheiten: Das zu den höheren Stufen der Holarchie gewandte Gesicht ist das eines untergeordneten Teils in einem größeren System; das zu den niederen Stufen gewandte Gesicht gehört zu einer autonomen Ganzheit. Daraus folgt, daß dem Holon zwei konträre Tendenzen innewohnen: die integrative Tendenz, um als Teil des übergeordneten Ganzen zu funktionieren, und die selbstbehauptende Tendenz, um seine individuelle Autonomie zu wahren.
Und hier nun kommt das Problematische ins Spiel: Die Tragödie des Menschen, so Koestler, bestehe darin, daß die integrativen Tendenzen übermächtig geworden seien. Kriege würden nicht geführt, weil der Mensch ein Übermaß an Aggressivität besitze, sondern weil er seine Verantwortung abgebe, um einer größeren Sache blind zu dienen. Unter günstigen Bedingungen seien die beiden Tendenzen – Selbstbehauptung und Integration – mehr oder weniger ausbalanciert, und das Holon lebe in einem dynamischen Gleichgewicht. Unter ungünstigen Bedingungen sei das Gleichgewicht gestört, was schlimme Folgen nach sich ziehe: Die Kluft zwischen Emotion und Vernunft werde vertieft, die Gruppenmentalität werde von einem System von Glaubenssätzen, Traditionen und moralischen Imperativen beherrscht. Vergleiche man die aus selbstsüchtigen Motiven angerichteten Schäden durch individuelle Gewalt, so seien diese relativ unbedeutend gegenüber jenen, die aus der selbsttranszendierenden Hingabe an kollektive Glaubenssysteme erwüchsen.
Immer tiefer verbohrt Koestler sich in die Ansicht, es sei genau dieses Ungleichgewicht, das für alles Übel verantwortlich sei. Wiederholt bescheinigt er dem Menschen einen angeborenen »paranoiden Zug«, unterstreicht das »Pathologische« der menschlichen Spezies: Der Mensch sei eine »biologische Mißgeburt«, eine »Fehlkonstruktion«, ein verhängnisvoller »Defekt«.
Wenn nun aber dieser »Defekt« so untrennbar mit der Natur des Menschen verbunden ist, daß er zu einer Bedrohung für den Planeten wird, dann ist es in den Augen Koestlers mehr als geboten, ihm auf den Grund zu gehen, um eine wirkungsvolle »Therapie« auszuarbeiten. Und er findet, gestützt auf Erkenntnisse vorwiegend angelsächsischer Anthropologen, Neurologen und Gehirnforscher, den Fehler umgehend im Gehirn des Säugetiers, genauer gesagt im menschlichen Neocortex – der spezifisch menschlichen »Denkhaube«.
Diese habe sich im Verlauf der Evolution allzu rasant entwickelt, so daß das menschliche Stammhirn (das Instinkte, Leidenschaften und biologische Triebe steuert) nicht Schritt halten konnte, was eine mangelhafte Koordination von Stammhirn und Neocortex zur Folge hatte. »So ließ das explosive Gehirnwachstum eine geistig unausgeglichene Spezies entstehen, bei der sich altes Gehirn und neues Gehirn, Gefühl und Intellekt, Glaube und Vernunft in den Haaren liegen.«
Trotz aller düsteren Prognosen glaubt Koestler, daß Abhilfe geschaffen werden könne: Die Therapie werde aus den »Laboratorien« kommen, sie beruhe auf den »neuesten spektakulären Fortschritten der Neurochemie und verwandter Disziplinen.« Das Heilmittel sei eine »Kombination wohltätiger Hormone oder Enzyme, die den Konflikt zwischen den alten und neuen Gehirnstrukturen« löse, indem sie den »Neocortex mit der Macht der hierarchischen Kontrolle über die archaischen, niedriger stehenden Zentren« ausstatte und damit die »Verwandlung des homo maniacus in den homo sapiens« ermögliche.
Eventuelle Einwände federt Koestler mit elastischer Selbstsicherheit ab: Die Liste der wohltätigen Eingriffe in die menschliche Natur sei endlos, betont er, und in der Gesamtsumme dieser Eingriffe bedeute es nicht mehr und nicht weniger als eine »Korrektur der menschlichen Natur, die ohne diese Korrektiva biologisch kaum noch lebensfähig wäre«. Überdies könnten moderne Formen direkter Eingriffe in die Natur, »in weltweitem Umfang angewendet, […] gleichsam auf eine künstlich herbeigeführte Anpassungsmutation hinauslaufen.«
Bereits viele Jahre zuvor, im Jahre 1961, hatte in San Francisco ein internationales Symposion zum Thema »Kontrolle des Geistes« stattgefunden, das von Koestler organisiert worden war. Die Teilnehmer waren Neurophysiologen, Psychopharmakologen, Psychologen, Systemtheoretiker und Theologen (auch Aldous Huxley war dabei). Schon bei der ersten Sitzung schlug der schwedische Histologe Professor Holger Hydén mit seinem Vortrag »Biochemische Aspekte der Gehirntätigkeit« hohe Wellen: »Meiner Ansicht nach könnte irgendwann eine Möglichkeit gefunden werden, den Ordnungsgrad in den Gehirnzellen eines Individuums durch Zufuhr von fremdem Genmaterial zu erhöhen. Die Frage ist nur, auf welche Weise das geschehen kann. Es gibt da mehrere Möglichkeiten. Die einfachste bestünde darin, die Gehirnzellen mit einem harmlosen Virus zu infizieren, an den das fremde Genmaterial gebunden ist. Viren haben die Eigenschaft, in Wirtszellen einzudringen, und könnten als Überträger dienen. Eine erfolgreiche Bekämpfung der Entropiezunahme in den Gehirnzellen könnte die Struktur unserer Gesellschaft von Grund auf ändern.« (2)
Koestler zeigte sich fasziniert von dieser Idee und sah sich seinem Ziel, das Böse in der Welt zu bändigen, ein Stück näher kommen: »Der Biochemiker kann die Fähigkeiten des Gehirns nicht vermehren, aber er kann Hindernisse und Blockaden beseitigen, die ihre richtige Anwendung hemmen. Er kann das Gehirn nicht mit neuen Schaltkreisen ausstatten, aber er kann die Koordinierung zwischen den vorhandenen Schaltkreisen verbessern und die Macht der Großhirnrinde, der Spitze der Hierarchie, über die niedrigeren, emotionsgebundenen Stufen und die von ihnen erzeugten blinden Leidenschaften vergrößern.«
Endlich könne man sich darauf freuen, das Problem gelöst und einem erwünschten Zustand in den Bereich des Möglichen gerückt zu haben, nämlich die »Erzeugung eines dynamischen Gleichgewichts, einer inneren Ausgeglichenheit, durch die das geteilte Haus von Glaube und Vernunft wiedervereinigt und die hierarchische Ordnung wiederhergestellt wird.«
Wenn man solcherart Ausführungen liest, erscheint Koestlers lebenslange Verteidigung der individuellen Freiheit denkbar fragwürdig. Er, der angetreten war, die behavioristische Annahme, daß der Mensch ein Produkt konditionierter Reflexe sei, zu zerschmettern, betoniert dieselbe durch Erschaffung eines Denkmodells, das den Menschen in den Automatismus eines Schaltkreises hineinzwingt, dessen einzige Neuerung sein Rückkoppelungsmechanismus ist. Glaubt Koestler an den freien Willen?
Zahlreiche Stellen in seinen Schriften belegen dies, doch es beschleicht einen die Vermutung, daß er seinen eigenen Grundsätzen nicht traut. Wer sich zur Freiheit bekennt, muß menschliche Fehler und damit das Böse zulassen können. Koestlers größter Fehler war: das Primat der Ratio über alle anderen Eigenschaften zu stellen, die den Menschen bestimmen. Wo bleiben Phantasie, Kreativität, Gewissen, Güte? Vernunft definiert er einseitig als Fähigkeit zur Abstraktion und subsumiert beides unter die Kategorie Verstand. So ist es nur folgerichtig, daß er menschliches Fehlverhalten nicht auf individuelle Entgleisung zurückführt, sondern als artspezifisches Merkmal ausweist.
Unheil und Massenmorde sind seinem Holon-Modell zufolge nicht dem menschlichen Egoismus zuzuschreiben, sondern dem Hang des Menschen zur Selbstaufopferung. Doch die Hierarchie der Organismen, so wie er sie darstellt, erfordert diese Unterordnung, sie ist keine Fehlentwicklung, sie ist systemimmanent und Bedingung für den Aufbau komplexer Strukturen. Überdies ist zu fragen, ob der vermeintliche Defekt wirklich nur in der Hingabe des Menschen begründet liegt. Was ist mit dem Willen zur Macht?
Charakteristisch für Koestler, daß er eine noch größere Gefahr übersieht: den Wahn des Menschen, andere zu kontrollieren. Betrachtet er diese Versuchung nicht als Problem? Offenbar nicht, denn er ist trotz aller gegenteiligen Behauptungen selbst von dieser Obsession besessen. Es ist die Grundlage sozialistischen Steuerungsdenkens, von dem Koestler niemals weggekommen ist. Dies offenbart sich am eindrucksvollsten in seinem Ansinnen, den Menschen biologisch, also mit Hilfe der Naturwissenschaft, dauerhaft verändern zu wollen. Koestler, der ganze Feldzüge gegen den Geltungsdrang der Wissenschaften angeführt hat, spricht sich gegen Ende seines Lebens unverblümt für Bio-Engineering und Anthropotechnik aus!
Daß dies zwangsläufig auf eine Standardisierung menschlichen Lebens hinausliefe, interessiert ihn nicht, denn er glaubt an die Erschaffung des neuen Menschen – eines gezähmten, von freiem Willen und Fehlbarkeit entbundenen Bio-Produkts, das die Evolution nicht nur lenken, sondern sogar beschleunigen wird. Daß solcherart Konzepte gerade heute in vermessenen Großprogrammen wie Transhumanismus und Singularität eine philosophische Begründung finden, muß nicht weiter ausgeführt werden.
Die Vorstellung, daß man Erkenntnisse der Wissenschaft unmittelbar in politische Maßnahmen umsetzen sollte, hat in der Geschichte viel Leid verursacht. Koestler, der den Stalinismus auf so eindrucksvolle Weise seziert hat, hätte es eigentlich besser wissen müssen.
Schon 1942 hatte er in seinem berühmten Essay Der Yogi und der Kommissar (1942) hellsichtig erkannt, daß »alle Versuche, durch Kommissar-Methoden die menschliche Natur zu ändern, […] bis jetzt fehlgeschlagen« sind, »vom Sonnenstaat des Spartakus über die Inquisition und die Reformation bis zu Sowjetrußland.« – »Alle Versuche, eine Wandlung von innen herbeizuführen, sind ebenfalls erfolglos geblieben, sofern es nicht gerade um einzelne ging. Bei jedem Versuch, die Heiligkeit mit äußeren Mitteln zu organisieren, verfingen sich die Organisatoren im gleichen Dilemma.«
Warum ist er später in seinem Denken so weit zurückgefallen? Vielleicht, weil er ein zu abstraktes Modell im Kopf bewegte, wie die ideale Zukunft der Menschheit aussehen sollte? Dieses beruht auf der Ausgewogenheit von Geist und Emotion, einer Festlegung, die genausowenig begründet ist wie in unseren Tagen das Theorem eines ausgewogenen Klimas. Koestlers Fehleinschätzung besteht darin, daß er Ausgewogenheit in ausgesprochen deterministischer Manier für das Ziel der Evolution hält. Bezeichnend ist, daß er die Denkfigur der Homöostase (griechisch »Gleichstand«) verwendet, ein Axiom aus der Kybernetik – jener Wissenschaft, die sich die Regelung und die Informationsverarbeitung in dynamischen Systemen zum Objekt gemacht hat und erklärtermaßen die Steuerung ganzer Gesellschaften anstrebt.
Merkwürdig, wie wenig Koestlers Selbstwahrnehmung mit den von ihm präsentierten Inhalten übereinstimmt – das Prinzip der Janusköpfigkeit erfährt durch seine Person eine beunruhigende Ausprägung. Offenbar wurde er von dem eingeholt, wovor er zeit seines Lebens den größten Abscheu empfand: der Vorherbestimmtheit und der Manipulierbarkeit des Menschen durch eine seelenlose, materialistische Wissenschaft.
Er, der nicht ruhte, gegen die Unterwerfung des Individuums unter die Zwangsherrschaft des Kollektivs aufzubegehren, beförderte diese durch seine Theorien selbst. Am Ende sei die Frage erlaubt, ob Koestler gegen selbsttranszendierende Tendenzen hinreichend immunisiert war. Allzuschnell fing er Feuer, war bereit zu rückhaltloser Hingabe, sei es für eine politische Bewegung oder eine ideologische Überzeugung, um kurze Zeit später den prekären Irrtum zerknirscht einzugestehen. Könnte es sein, daß er, der lebenslang Getriebene, in seiner persönlichen Lebensgestaltung Unstete und von fixen Ideen Besessene, die Hoffnung verfolgte, sich selbst von einem Maniac in einen Weisen zu verwandeln? Koestler hat sich – gemeinsam mit seiner dritten Ehefrau – selbst das Leben genommen.
Der ideale Revolutionär, so erklärt er in seiner Autobiographie Als Zeuge der Zeit, sei ein »Fanatiker der Logik«. In ihm offenbare sich das »Gesetz des Umwegs«. Dieses zwinge den Führer, auf dem Weg in die Utopien »aus Mitleid grausam zu sein«. Er sei »dazu verurteilt, immer das zu tun, was ihn am meisten abstößt, ein Mörder zu werden, um das Morden abzuschaffen, Menschen mit der Knute zu peitschen, damit sie lernen, sich nicht peitschen zu lassen, sich von allen Skrupeln zu befreien im Namen der höchsten Skrupel, und den Haß der Menschheit herauszufordern aus Liebe für sie – einer abstrakten und geometrischen Liebe«. (3)
Es ist eine Ironie des Schicksals, daß ausgerechnet Koestler, der dieses Gesetz erkannt hat, selber zu dessen prominentestem Opfer wurde.
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(1) – Arthur Koestler: Der Mensch – Irrläufer der Evolution. Eine Anatomie der menschlichen Vernunft und Unvernunft, Bern / München 1978, S. 118; alle folgenden Koestler-Zitate entstammen, wenn nicht anders angegeben, diesem Buch.
(2) – Arthur Koestler (Hrsg.): Das neue Menschenbild. Die Revolutionierung der Wissenschaften vom Leben. Ein internationales Symposion, Wien / München / Zürich 1970, S. 113.
(3) – Arthur Koestler: Als Zeuge der Zeit. Das Abenteuer meines Lebens, Bern /München 1985, S. 221.