Daß im frühen 20. Jahrhundert die alte Frage »Was ist der Mensch?« im Rahmen einer »Philosophischen Anthropologie« neu gestellt wurde, kann nicht überraschen. Besonders der Erste Weltkrieg führte allgemein vor Augen, was Kulturkritiker im späten 19. Jahrhundert mit der Bezeichnung »Seinsunsicherheit« als Charakteristikum des eigenen Zeitalters umschrieben haben.
Einer der bedeutendsten Gelehrten seiner Zeit, der Philosoph Max Scheler, hat dieses verbreitete Gefühl in folgende Worte gefaßt: »Wir sind in der ungefähr zehntausendjährigen Geschichte das erste Zeitalter, in dem sich der Mensch völlig und restlos ›problematisch‹ geworden ist; in dem er nicht mehr weiß, was er ist, zugleich aber auch weiß, daß er es nicht weiß.«(1)
Darüber hinaus ist es nicht nur Max Scheler aufgefallen, daß die dominanten abendländischen Menschenbild-Überlieferungen zunehmend ihre Verbindlichkeit verloren. Die klassische Tradition beschreibt den Menschen als Wesen, das mittels Vernunft (auch als lógos, phrónesis, ratio und so fort) aus dem Reich des Lebendigen hervorsticht. In der jüdisch-christlichen Deutung ist der Mensch Eben- und Abbild Gottes. Diese Überlieferungen werden von maßgeblichen naturwissenschaftlichen Theorien wie dem Darwinismus negiert, der alle Organismen auf gemeinsame Vorfahren zurückführt. Für viele Angehörige der Spezies Homo sapiens sapiens bedeutete und bedeutet eine solche Erzählung eine frappierende »Kränkung« (Sigmund Freud).
Doch die von Gebildeten weithin begrüßte Evolutionstheorie erwies sich im frühen 20. Jahrhundert als nicht hinreichend, bestimmte Phänomene der Mensch-Tier-Unterscheidung zu erklären. Der »Käfig des darwinistischen Zweckmäßigkeitzwanges« (Joachim Illies) erwies sich als zu eng, da spezifisch menschliche Faktoren und Merkmale in puncto Gestalt, Verhalten, Anatomie und Embryologie primär auf der ontogenetischen Ebene zum Vorschein kommen. Als Stichworte sind lediglich »pränatale Frühgeburt« (Adolf Portmann), »Weltoffenheit« (Scheler und andere), »Retardation« (Louis Bolk) und Sprachbefähigung zu nennen.
Die Hauptvertreter der Philosophischen Anthropologie (Max Scheler, Helmuth Plessner und Arnold Gehlen) wußten, daß biologische Erkenntnisse einer philosophischen Interpretation bedürfen, um ein dem Forschungsstand adäquates Menschenbild zu entwerfen. Scheler ordnete den Menschen in eine Stufenfolge von Pflanzen und Tieren ein. (2)
So sei den Pflanzen ein »Gefühlsdrang« eigen, der sie ins Leben hineinwachsen lasse. Tiere hingegen verfügten über mehr, seien durch Instinkte gebunden und ließen ein assoziatives Gedächtnis erkennen. Der Mensch nun gewinne seine Sonderstellung durch den Geist, der Zugriff auf den Grund des Seienden habe und auf das Leben ausgerichtet sei. (3) Die Hinordnung auf klassische Theoreme der Metaphysik ist bei Scheler besonders ausgeprägt.
Plessner analysierte 1928 ebenfalls die Stufenordnung vom Anorganischen über Pflanzen und Tiere bis zum Menschen. (4) Lebendige Wesen grenzen ein Innen vom Außen ab. Dies gilt für Pflanzen wie für Tiere. Letztere indessen kennen eine verstärkte Rückbezüglichkeit von den Sinnesorganen zum mentalen Zentrum. Tiere können sich nicht vergegenständlichen, mithin nicht ihre eigene Positionalität reflektieren. Der Mensch ist dazu aber in Lage. Plessner hat in diesem Kontext die Begrifflichkeit der »exzentrischen Positionalität« geprägt. Am Ende seiner grundlegenden Studie formuliert er anthropologische Grundgesetze für die »Sphäre des Menschen«, die dessen besondere Stellung im Kosmos noch einmal herausstreichen.
Aus diesem Fundus griff Arnold Gehlen 1940 die Erkenntnisse über die Weltoffenheit und die Instinktunsicherheit des Menschen heraus, um seine berühmte Theorie vom Menschen als »Mängelwesen« zu konzipieren. (5) Dieser sei darauf angewiesen, die durch fehlende Umwelteinbettung bedingte Unbehaustheit durch Institutionen und andere entlastende Gewohnheiten zu kompensieren. Aus einer gelungenen Lebensabsicherung erwachse ein Antriebsüberschuß, der Neuerung, Kreativität und Fortschritt ermögliche.
Die Debatten über die Philosophische Anthropologie und das Wesen des Menschseins muten nur auf den ersten Blick akademisch an. Besonders Plessner hat den tieferen Grund der Anthropologie darin gesehen, auszuloten, was es bedeutet, ein Mensch zu sein im Sinne einer »Sonderform des Seienden«. (6) Der Mensch müsse sich über die »Grenze […] klarwerden, bis zu der er sich als Mensch in Frage stellen kann«. (7)
Solche Sätze kann man als Anspielung auf Formen einer damals längst im Gange befindlichen Anthropolitik betrachten, die die Grenze zum Idealmenschen überschreiten möchte – nämlich hin zum Neuen Menschen. Er tritt im ideologischen Zeitalter vornehmlich in den Varianten des »Sowjetmenschen«, des »Herrenmenschen«, aber auch des »Homo democraticus« auf.
Zu den zentralen Bereichen der anthropologischen Kontroverse zählte derjenige über Hominisation. Karl Jaspers fand in dieser Auseinandersetzung die »erregendste Frage« schlechthin. (8) Die Diskussionen brachten ein biologisch fundiertes, konservatives Menschenbild – jenseits aller kruden Formen von Biologismus – zum Vorschein, das nicht auf supranaturalistisch-transzendente Faktoren zurückgreifen mußte. Traditionell verstehen Konservative im Rahmen der christlichen Tradition unter Menschwerdung die Vereinigung von Gott und Mensch in dem exemplarischen Menschen Jesus Christus – und als solcher »überschreitet er den Menschen« (Joseph Ratzinger) zur Veredelung der humanen Gattung.
Vor dem Hintergrund darwinistischen Gedankenguts wird der Terminus »Menschwerdung« im frühen 20. Jahrhundert unter Gebildeten nicht ohne eine evolutionäre Differenzierung bestimmter tierischer Verhaltensweisen, die zum Menschen führen, plausibel: aufrechter Gang auf zwei Beinen, Ausbildung der Hand, Umbildung des Fußes und so fort. Scheler wollte aber darüber hinaus die Mittelpunktstellung des Menschen, die der Tradition des jüdisch-christlichen Kulturkreises entspricht, neu fundieren. Er machte das Prinzip des »Allebens« stark, das sich in der langen Geschichte des Lebendigen auf je verschiedene Weise verwirklichte. Der Mensch ist die Vollverkörperung und gleicht folglich dem Angesicht Gottes am meisten. (9)
Demnach ist der Mensch nicht zeitlich, wohl aber der »Idee« nach das »›erste‹ Lebewesen«. Tiere und Pflanzen begreift Scheler hingegen als Teilverkörperungen. Neben metaphysischen Ausdeutungen vergißt er die Empirie nicht: »Der Mensch ist das organische Wesen, das ein Maximum von Konservation (Nicht-Anpassung, Nicht-Spezialisierung, Nicht-Kampf …) mit der konzentrierten Verwertung aller Erfahrungen vereinigt, die das Alleben bei seinen Korporisationen [Verkörperlichungen] macht.« (10) Der Mensch ist eine kreative Synthese des Lebens, die von Anfang an im Schöpfungsprozeß angelegt ist, der so vollendet wird.
Im Vergleich dazu war Louis Bolk stärker empirisch ausgerichtet. Der belgische Anatom verortet die Menschwerdung infolge eines einheitlich-organischen Entwicklungsprinzips. Er spürt einer fetalen Eigenschaft nach, die im Rahmen der ontogenetischen Entwicklung des Menschen erhalten bleibt. Diesen hemmenden Faktor in der Morphogenese nennt er »Retardation«. (11) Der Entwicklungsgang des Menschen wird dadurch verzögert. Bolk nennt dafür endokrin-physiologische Ursachen, vornehmlich hemmende Hormone. Deren Wirkung zeigt sich unter anderem in der Verringerung der Bildung des menschlichen Kiefers, weiter in der Reduktion des Haarkleides. (12) Diese Retardation verursacht die Erscheinung der Juvenilität. Der Mensch bleibt also länger jung als die meisten Tiere – gemessen am Lebensdurchschnittsalter.
Gehlen (wie übrigens auch Schelsky, Plessner und Ernst Jünger ein Schüler des Biologen Hans Driesch) arbeitete den Einfluß der Entwicklungshemmung auf entscheidende Merkmale des Körperbaus des Menschen heraus: (13) fötaler Charakter der Formen, Unangepaßtheit an die Natur und Konservativismus von embryonalen Wesenszügen.
Die Debatte über Anthropogenese in konservativen Kreisen ging freilich über bioanthropologische Diskurse hinaus. Der Dichter Karl Wolfskehl, deutschnationaler Zionist und George-Jünger, stellte seinem Essayband Bild und Gesetz von 1930 den Text »Die Menschwerdung« voran. (14)
Darin erzählt Wolfskehl den biblischen Schöpfungsbericht vor dem Hintergrund der Evolutionstheorie neu, bringt aber dabei seine Aversion gegen die Theorie der Abstammung des Menschen vom Affen zum Ausdruck. Nicht diesem, sondern dem Elefanten trug Gott die Krone an, doch der Elefant wollte sie nicht, ebensowenig wie etliche andere Tiere. Letztlich kommt – der Mensch. Aber eben nur über Umwege. Gott verleiht dem Affen die Fähigkeit, daß aus seinem struppigen Gewand der Mensch hervorgeht, der der zu vergebenden Würde gewachsen sein wird. Wolfskehl sieht die Evolution als Kompensation. So wird zumindest der zweitbeste Plan Gottes realisiert.
Als verspätete Reprise zu dieser Kontroverse darf Leopold Zieglers Schrift Menschwerdung (1948) gelten. Der Verfasser aus dem Umfeld der Konservativen Revolution begibt sich auf ein für traditionelle Rechte vertrautes Terrain. Er sieht das persönliche Gebet als wesentliche Station des Menschen zu seiner eigentlichen Bestimmung. (15) Nur das Gebet sichere Rückverbindung mit dem Ursprung und könne eine Spaltung des Menschen vermeiden. Das Gebet sollte demnach den Zerfall in jene Partikularbereiche verhindern, aus denen der Mensch vordergründig zusammengesetzt ist.
Eine solche Deutung der Anthropogenese trifft sich mit pointierter Anthropologiekritik, wie sie der Religionsphilosoph Romano Guardini formulierte. Für ihn indiziert Anthropologie die Selbstverfehlung des neuzeitlichen Menschen. Anthropologie entstehe aus dem Anspruch des Menschen, sich selbst qua eigener Setzung zu definieren. Person bilde sich aber nur unter der Voraussetzung, daß das Ich-Sein im göttlichen Du wurzelt.
Ein weiteres Problem diagnostizierte der katholische Denker im Hinblick auf die Grundstruktur des neuzeitlichen Menschenbildes: »Niemand, der sich seines Menschentums bewußt ist, wird sagen, er finde sich im Bilde der neuzeitlichen Anthropologie wieder, ob diese nun biologisch, oder psychologisch, oder soziologisch, oder wie immer geartet sei. Immer nur Einzelnes von sich, Eigenschaften, Zusammenhänge, Strukturen – nie einfach sich selbst. Man spricht vom Menschen, aber er wird nicht wirklich gesehen. Die Bewegung geht auf ihn zu, aber er wird nicht erreicht.« (16) Diese Kritik zielt auf die modernen Sozialwissenschaften, die diesen Trend einer methodischen Partikularisierung des Menschen im Sinne eines »Homo sociologicus« (Ralf Dahrendorf) sowie eines systemtheoretischen Antihumanismus (Niklas Luhmann) nachhaltig verkörpern und damit am Ziel der »Abschaffung des Menschen« arbeiten. (17)
Martin Heidegger gilt als weiterer prominenter Anthropologieskeptiker. Der Technik- und Neuzeitkritiker hat die Unterwerfung der Welt stets mit unverhohlener Abneigung betrachtet, etwa in seinem Aufsatz »Zeit des Weltbildes«. (18) Er erkennt in der Anthropologie eine anthropomorphistische Betrachtungsweise, eine Art, die Welt aus der Perspektive des menschlichen Subjekts zu sehen und damit dem Dasein verhaftet zu bleiben. Aufgabe des Menschen sei jedoch die Ergründung der Seinsfrage.
Bei allen Unterschieden führen alle präsentierten Denker die Begrenztheit der conditio humana gegen haltlose Fortschrittsspekulationen und utopische Projekte ins Feld. Im Rückblick erkennt man in solchen Stellungnahmen die akribische Registrierung von bevorstehenden Prozessen künstlicher Menschwerdung. Heidegger hat bereits in den 1950er Jahren von den Möglichkeiten der »Biophysik« gesprochen, einer seiner bekannten Gegenwartsrezipienten 1999 von »Anthropotechniken«. (19)
Am Anfang wie am Ende des zurückliegenden Jahrhunderts läßt sich die »Wiederkehr des Menschen« (Andreas Steffens) als zentrales Objekt philosophischen Nachdenkens konstatieren. Es wird sich im Fortgang des 21. Jahrhunderts zeigen, inwieweit die Renaissance der anthropologischen Reflexion ein bloßer Verteidigungskampf gegen die zunehmende Dominanz intelligenter Maschinen ist oder vom Menschen offensiv gestaltet werden kann.
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(1) – Max Scheler: »Die Sonderstellung des Menschen im Kosmos«, in: Der Leuchter. Weltanschauung und Lebensgestaltung. Achtes Buch: Mensch und Erde, Darmstadt 1927, S. 162.
(2) – Max Scheler: Die Stellung des Menschen im Kosmos, 13. verbesserte Auflage, Bonn 1995.
(3) – Ebd., S. 87.
(4) – Titel des Hauptwerkes: Helmut Plessner: Die Stufen des Organischen und der Mensch. Einleitung in die philosophische Anthropologie, Berlin 1975.
(5) – Vgl. Arnold Gehlen: Der Mensch. Seine Natur und seine Stellung in der Welt, Wiesbaden 131986.
(6) – Helmuth Plessner: »Die Aufgaben einer philosophischen Anthropologie«, in: ders.: Zwischen Philosophie und Gesellschaft. Ausgewählte Abhandlungen und Vorträge, Frankfurt a. M. 1979, S. 127.
(7) – Ebd.
(8) – Karl Jaspers: Der philosophische Glaube, München 1948, S. 46.
(9) – Max Scheler: »Zur Evolution des Menschen«, in: ders.: Schriften aus dem Nachlaß, Bd. 3, Bonn 1987, S. 102 – 105.
(10) – Ebd., S. 102.
(11) – Louis Bolk: Das Problem der Menschwerdung, Jena 1926, S. 10.
(12) – Ebd., S. 25.
(13) – Gehlen: Der Mensch, S. 103.
(14) – Wiederabgedruckt in: Gesammelte Werke, Bd. 2: Übertragungen, Prosa, Hamburg 1960, S. 192 ff.
(15) – Vgl. Leopold Ziegler: Menschwerdung, I. Band, Olten 1948, S. 50.
(16) – Romano Guardini: Das Ende der Neuzeit. Ein Versuch zur Orientierung, Mainz / Paderborn 1986, S. 69.
(17) – Vgl. Friedrich H. Tenbruck: Die unbewältigten Sozialwissenschaften oder die Abschaffung des Menschen, Graz 1984. Affinitäten dieser Diagnose zu vergleichbaren Stellungnahmen aus anderen Bereichen der Kulturwissenschaften und der Philosophie sind unverkennbar. Lediglich Michel Foucaults kanonischer Topos vom »Ende des Menschen« sei erwähnt.
(18) – Vgl. Martin Heidegger: »Die Zeit des Weltbildes«, in: ders.: Holzwege, Frankfurt a. M. 1950, S. 69 – 100.
(19) – Vgl. Peter Sloterdijk: Regeln für den Menschenpark. Ein Antwortschreiben zu Heideggers Brief über den Humanismus, Frankfurt a. M. 1999.