Wer seriös Nietzsche zitieren will, der greift seit fünfunddreißg Jahren zur Kritischen Gesamtausgabe aus dem Hause De Gruyter oder wenigstens zur Kritischen Studienausgabe des dtv-Verlages. Beide begrüßen den Interessenten mit einem Skandalon. Man liest auf ihnen: »Herausgegeben von Giorgio Colli und Mazzino Montinari«. Wie aber kamen zwei Italiener dazu, das deutsche Ereignis Nietzsche herauszugeben? Dieser »Rettung« geht der Kulturwissenschaftler Philipp Felsch in seinem Buch Wie Nietzsche aus der Kälte kam (Geschichte einer Rettung, München 2022) nach.
Schon nach der Lektüre der ersten Seiten weiß man, daß man es mit einem wilden Ritt durch Geschichte und Philosophie zu tun haben wird, daß Felsch ein untrügliches Gespür für Inszenierung besitzt, daß Genuß, Information und Denkarbeit sich glücklich vereinen. Wie er das nun historische »deutsch-französische Gipfeltreffen« in Royaumont im Juli 1964 arrangiert, wo wesentliche, für Jahrzehnte richtungsweisende Weichen der Nietzsche-Rezeption gestellt werden sollten, das läßt das Herz eines jeden Nietzsche-Lesers höher schlagen.
Anwesend sind drei maßgebliche Fraktionen: die alte, bestandswahrende Garde der kritischen und konservativen Nietzscheaner – Löwith, Wahl, Marcel und in abwesender Anwesenheit auch Heidegger –, die noch wenig bekannten französischen Linksnietzscheaner – allen voran Foucault und Deleuze – und mittendrin die beiden Editoren, die vielleicht schon ahnten, daß ihre philologische Lesart der Gewalt der Differenz nicht wird widerstehen können.
Die Konstellation widerspricht schon damals Habermas’ Verdikt, daß von Nietzsche »nichts Ansteckendes« mehr ausgehe. Im Gegenteil: Nietzsche ist gerade dabei abzuheben. Deleuze, Derrida, Blanchot, Nancy, Barthes und andere Vertreter des sogenannten Postmodernismus entdecken im vermeintlichen Nazi-Philosophen die ersehnte Werkzeugkiste, aus der man sich in »wilder Exegese« frei bedienen kann, den man »benutzen, verzerren, mißhandeln und zum Schreien bringen« (Foucault) soll. Das Paradox: Diese Methode hat nicht nur bedeutende Nietzsche-Interpretationen hervorgebracht, etwa Deleuze’ Nietzsche und die Philosophie, sie hat die Philosophie über Jahre befruchtet.
Den Editoren waren solche Auswüchse suspekt. Montinari, der sich als unstete Person der KP Italiens angeschlossen hatte, um durch die Ereignisse 1956 parteipolitisch heimatlos zu werden, und Colli, der klassische Gelehrte und Gräzist, lange Jahre Lehrer und Mentor des jüngeren Montinari, hatten ganz andere Ideen. Sie wollten Nietzsche wertfrei edieren und zwar auf Punkt und Komma. Dessen Nachlaß jedoch lagerte im ostdeutschen Weimar und wurde dort wie gefährliches Frachtgut behandelt. Lukács hatte das letztgültige Verdikt gesprochen, und Harich achtete wie ein Rumpelstilzchen auf Einhaltung des historischen Urteils.
Montinari aber gelang es, nicht nur die DDR, sondern auch das Archiv zu infiltrieren und in jahrelangen Exerzitien jedes Wort Nietzsches zu entziffern, zu kontextualisieren und wieder verfügbar zu machen. Schon lange war bekannt, daß Nietzsches Schwester vor Manipulationen nicht zurückgeschreckt hatte, auch um den Denker den Nationalsozialisten anzudienen; vor allem das sogenannte Hauptwerk Der Wille zur Macht fiel wieder in sich zusammen – allerdings hatte es bereits Heideggers tiefsinnige Auslegungen inspiriert und schon damit ein eigenes Existenzrecht erworben.
Als Colli und Montinari allzu früh den typischen Archiv-Exitus im Dienste Nietzsches erlitten, da gingen sie mit der bitteren Einsicht, daß just ihre akribische Arbeit zum Tod des Autors in der Hyperinterpretation der Differenz-Exzesse beigetragen hatte, denn gerade die Idee, auch seinen Nachlaß aus Zetteln, Notizen, Kladden und Heften zu veröffentlichen, ermöglichte die Dekonstruktion erst. Schließlich konnte Derrida aufgrund ihrer Akribie mit guten Gründen sagen: »Die Gesamtheit von Nietzsches Text ist vielleicht, in höchstem Maße, vom Typ ›ich habe meinen Regenschirm vergessen‹«.
Felsch vollbringt das Kunststück, diese komplexe Editions- und Wirkungsgeschichte in ihrer weltgeschichtlichen, philosophiehistorischen und biographischen Verwirrung über Raum und Zeit zu einem konzisen Text zu verweben, der unter die Rubrik »spannend erzählt« zu rechnen ist. Über allem wird deutlich: Nietzsche war, ist und wird ein offenes Schlachtfeld bleiben.
Und mitten hinein, akademisch ungeschützt, stürzt sich Julien Rochedy mit seiner in Frankreich ungemein erfolgreichen und sehr kundig ins Deutsche übertragenen (Nietzsche – der Zeitgemäße, Dresden 2022) Ausgabe.
Der Leser schaut per Buchcover in die Revolvermündung eines Comic-Nietzsche im Hawaiihemd. Wo Felsch seine Fußnoten bündeln muß, um sie nicht übermächtig werden zu lassen, da verzichtet Rochedy auf jeglichen Nachweis. Mit entschiedener Geste wischt er zweierlei ohne Begründung beiseite: alle bisherigen philosophischen Abarbeitungen an Nietzsches Werk, ganz ausdrücklich den gesamten postmodernen Diskurs, und die Frage nach der Authentizität der Texte. Was gedruckt wurde, nimmt Rochedy wortwörtlich, inklusive des umstrittenen Der Wille zur Macht; alles intellektuelle Feilschen habe nur vom Wesentlichen abgelenkt. Hier wird der Anspruch gestellt, den eigentlichen Nietzsche wieder freizuhauen.
Seine Herangehensweise ist ein Dreisprung. Über eine kurze persönliche Annäherung und ein etwas umfänglicheres biographisches Abschreiten des Lebens Nietzsches, anhand dessen bereits die Grundgedanken in ihrer Entwicklung vorgestellt werden, widmet er sich dem Kern seiner Argumentation, dem Willen zur Macht, und führt aus diesem die wichtigsten begrifflichen Fäden in die Zeitgemäßheit. Letzteres bedeutet den Versuch, die Moderne in ihren Auswüchsen, ihrer Dekadenz, ihrer Selbstverleugnung mit Nietzsches Denkfiguren zu erschließen und begreifbar zu machen.
In dieser Lesart steht er natürlich rechts, werden seine inneren Widersprüche und sein Perspektivismus weitestgehend ignoriert, wird auf Kritik verzichtet, wird er gebrauchsfertig gemacht, wieder zum Dynamit. Im Zentrum steht das Appellative der Philosophie Nietzsches. Daraus ergibt sich auch die bevorzugte Zielgruppe – das Layout erscheint nun sinnvoll –, nämlich der junge, dynamische, wissens- und tatenhungrige Leser, der gelesene Werke nicht habituell in Bücherregale einsortiert, sondern sich noch Handlungsanweisungen erhofft.
Das sollte den belesenen Kenner nicht abschrecken, denn das Buch enthält tatsächlich ganz originelle Interpretationen. Am Anfang stand also der Schmerz. Die Qual seines Leibes in Lebensenergie, Kraft und Klarheit umgedeutet zu haben beweist die Außergewöhnlichkeit des Menschen Nietzsche. Aus dieser Affirmation heraus gehen ihm die großen Bilder auf, in die Rochedy schlaglichtartig hineinleuchtet. Die lichtvolle Einsicht – so definierte Husserl die Evidenz – in den Tod Gottes, den Nietzsche nicht will, aber begreift, läßt ihn nach alternativen Daseins- und Seinsmöglichkeiten suchen.
Die »Ewige Wiederkehr des Gleichen« sei als Ethikum oder als Psychotrick falsch verstanden – man müsse diese Formel metaphysisch, wenn nicht gar ontologisch fassen. Der Mensch könne nur leben in der Gewißheit seiner Ewigkeit, alles andere führe in den Nihilismus, also die Verneinung des Eigenen, die Verneinung des Lebens zugunsten eines Glaubens an bessere Welten, und wenn Gott diese nicht mehr gewähren kann, dann muß der Mensch sich selbst befähigen. Amor fati und Wiederkehr geben ihm das Rüstzeug.
Die Begründung dafür findet Nietzsche im Willen zur Macht, diesem universellen Prinzip, der »Lebensenergie« alles »lebenden Existenten«. Ihm ist nicht zu entgehen, alles ist Wille zur Macht, die »metaphysische Essenz alles Lebendigen«, auch seine Inversionen und Perversionen der ressentimentbeladenen Klassen, die ihren Haß hinter den hehren Idealen verbergen.
Nietzsche wird hier zurechtgehämmert und der Gewinn gibt der groben Methode recht. Denn es gelingt, nicht nur die Absurditäten einer selbstgeschwächten, woken und politisch korrekten Klasse letzter Menschen auf dem Weg in den Selbstmord Europas, in die Sklavenmoral, und ihre subtilen Manöver – etwa die Vertauschung der Kategorien »böse« und »schlecht« – aufzuzeigen oder typische Mißverständnisse oberflächlicher Nietzsche-Lektüren kenntlich zu machen, er kann auch in der Aristokratisierung, im Krieger-Werden, im Übermensch-Werden aktiv Wege aus der Misere zeigen, um schließlich grandios in Nietzsches berühmtem, überlegenem Lachen zu enden.
Natürlich könnte der Philister tausend Haken einschlagen. Die Akademie wird dieses Buch ignorieren, aber Rochedy stellt weder sich noch Nietzsche in die akademische Arena, er positioniert sich nicht exegetisch, sondern er will den Leser überhaupt erst zum Streit befähigen, ein Vorverständnis schaffen. Das ist geglückt, man muß dieses Buch begrüßen! Ein sachkundiges Lektorat hätte dennoch kleinere Fehler eliminieren können und bei der freien Wiedergabe der Texte wäre ein Quellenverzeichnis hilfreich gewesen.