Ist die rot-grün-gelbe Regierung nun die Niederlage »des Bürgerlichen«, weil grüne »Revoluzzer« den Takt vorgeben? Hätte es nicht eine »bürgerliche« Gegenmehrheit aus (wiederum) Gelben, Schwarzen und Blauen gegeben, wie etwa am Berliner Hohenzollerndamm hervorgehoben wird? Oder verhält es sich ganz anders, und die Ampel ist die Koalition des neuen Bürgertums in der Bundesrepublik – klimaideologisch, kosmopolitisch, kreativ?
Wer letzteren Standpunkt bekräftigen möchte, findet nun in einer (radikal) linken Analyse Untermauerung seines Verdachts. Denn Markus Metz (Jg. 1958) und Georg Seeßlen (Jg. 1948) schauen sich die tragende Bevölkerungsgruppe der BRD – das vielschichtige Kleinbürgertum als »eine Klasse, die nicht eine ist« – aus der Nähe an. Ihre Typologie des bundesdeutschen Kleinbürgers arbeitet mit dem Werkzeugkasten marxistischer Klassenanalyse, ohne in vulgärlinkes Ressentiment abzudriften. Zwar verspotten sie »die« Kleinbürger dafür, aufgrund ihrer klassenpolitischen Ortlosigkeit dazu zu tendieren, »zwischen Größenwahn und Minderwertigkeitsgefühlen zu taumeln«, jedoch gemeinden sie sich als Autoren selbst ins kleinbürgerliche Feld mit ein – das »Wir« steckt nicht nur im Buchtitel, sondern auch in der Analyse.
Vieles, was darin von »links« formuliert wird, dürfte auf Mißfallen bei »rechten« Lesern stoßen. Ebenso vieles aber hilft besagten nichtlinken Lesern bei dem Vorhaben, das neue BRD-Kleinbürgertum besser kennenzulernen. Zu nennen wäre etwa die Bedeutung der Tatsache, daß die Kleinbürger jene Klasse formieren, »die auch die kleinsten Veränderungen in Staat und Gesellschaft zuerst zu spüren« bekommt. Das erklärt, weshalb in jeder Krisensituation Kleinbürger zum umkämpften Objekt werden. Sie verfügen weder über wirklichen Reichtum noch über wirkliche politische Macht, sind aber als quantitativer Faktor in der Bundesrepublik das Zünglein an der Waage.
Ein Teil des vielförmigen Kleinbürgertums ist dabei überwiegend grün – die Beamtenschaft. Metz’ und Seeßlens Hinweis darauf, daß sich dieser Staat mit dem loyalen Beamten einen »idealen Kleinbürger geschaffen« habe, der die »Verbindung von Staat und Gesellschaft« verkörpere und in privilegierter Stellung verharre, läßt sich elektoral mit der überdurchschnittlichen Grünen- (und SPD-)Nähe der Beamtenschaft koppeln. Dieser »Beamten-Pakt« (Metz / Seeßlen) bedeutet freilich nicht, daß alle Kleinbürger Beamte sind (und alle Beamten rotgrün). Es gibt jene Formen des Kleinbürgertums, die krisenbelasteter sind als die krisenverschonten Beamten, und just diese Klientel ist für die politische Opposition bedeutsam.
Metz und Seeßlen stellen heraus, daß eine Problemkonstellation für die Herrschenden entstehe, wenn jene Kleinbürger »bemerken, daß dies nicht mehr ›ihr‹ Staat ist«. Und eben dies vollzieht sich ja mindestens in Teilen während der letzten drei BRD-Krisenschübe (Migrationskrise 2015 ff., Coronakrise 2020 ff., Energiekrise 2022 ff.). Es komme in bestimmten Gesellschaftsbereichen zu einer »Entfremdung zwischen Kleinbürgertum und Staat«, die dadurch an Bedeutung gewinne, daß sich die Lebens- und Arbeitsumstände der Kleinbürger schnell verändern.
Die Autoren skizzieren mögliche Reaktionsmuster kleinbürgerlicher Milieus auf diese Transformationsprozesse: Für uns relevant ist ihre Befürchtung, es bilde sich in zugespitzten Krisenzeiten eine neue Form der »konservativen Revolution«, in der die »Lust am Kaputtmachen« des verworfenen Etablierten »durch eine Aussicht auf neue Prosperität und neue Stabilität legitimiert« werde. Das ist nicht der Fall bei jener Fraktion des Kleinbürgertums, die sich im »Kind von Neoliberalismus und Ökologie« namens »grünlinksliberaler Spießer« verdichtet; staatsbejahend, klimabewegt und progressiv gepolt, kann es als die bürgerliche Ampel-Klientel beschrieben werden. Die andere Hauptfraktion des Kleinbürgertums hingegen – standortorientiert, heimatbewußt, strukturell konservativ – schließt nach diversen Enttäuschungen mit dem Bestehenden ab und wird zur gärenden Masse.
Die Schlüsselfrage dabei ist, ob diese Masse realpolitisch aktivierbar wird. Die Autoren des Buches fürchten: »In den schlechten Zeiten wandert das Kleinbürgertum nach rechts.« Der Autor dieser Rezension hofft, daß dies tatsächlich so ist.
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Markus Metz, Georg Seeßlen: Wir Kleinbürger 4.0. Die neue Koalition und ihre Gesellschaft, Berlin: Edition Tiamat 2021. 282 S., 20 €
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