Nachkriegsliteratur 4

von Günter Scholdt -- PDF der Druckfassung aus Sezession 110/ Oktober 2022

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Zwei spek­ta­ku­lä­re Kon­tro­ver­sen um Tho­mas Mann und Ernst Jün­ger beweg­ten die Nach­kriegs­li­te­ra­tur von Beginn an mit nach­hal­ti­gen Kon­se­quen­zen für den Ruf der Inne­ren Emi­gran­ten gene­rell, beson­ders für die­je­ni­gen, die die­se Bezeich­nung zu Recht und als Aus­zeich­nung tra­gen: Stemm­ten sie sich doch gegen eine gänz­li­che Tota­li­sie­rung des öffent­li­chen Lebens, indem sie (ver­schlüs­selt) Dis­sens artikulierten.

Tho­mas Mann jedoch atta­ckier­te sie in sei­nem State­ment vom 28. Sep­tem­ber 1945 mit wenig bedach­ten Wor­ten pau­schal: »Es mag Aber­glau­be sein, aber in mei­nen Augen sind Bücher, die von 1933 bis 1945 in Deutsch­land über­haupt gedruckt wer­den konn­ten, weni­ger als wert­los und nicht gut in die Hand zu neh­men. Ein Geruch von Blut und Schan­de haf­tet ihnen an; sie soll­ten alle ein­ge­stampft werden.«

Die­ses Urteil, publi­ziert unter dem Titel »War­um ich nicht nach Deutsch­land zurück­ge­he«, reagier­te auf zwei viel­be­ach­te­te offe­ne Brie­fe von Wal­ter von Molo und Frank Thiess. Molo hat­te am 4. August 1945 die anrüh­ren­de Bit­te an Mann aus­ge­spro­chen: »Ihr Volk, das nun­mehr seit einem Drit­tel­jahr­hun­dert hun­gert und lei­det, hat im inners­ten Kern nichts gemein mit den Mis­se­ta­ten und Ver­bre­chen […]. Wir müs­sen end­lich […] das Gemein­sa­me, Ver­bin­den­de, nicht wei­ter oder neu das Tren­nen­de suchen, denn Haß und pau­scha­le Her­ab­set­zung und unrich­tig abge­kürz­te Geschichts­be­trach­tun­gen zu ver­gäng­li­chen Zwe­cken sind unfrucht­bar und füh­ren zu Kata­stro­phen; das haben wir doch in unse­rer Lebens­span­ne in schreck­li­cher Art erfah­ren. Kom­men Sie bald wie ein guter Arzt, der nicht nur die Wir­kung sieht, son­dern die Ursa­che der Krank­heit sucht und die­se vor­nehm­lich zu behe­ben bemüht ist.«

Thiess wie­der­um defi­nier­te am 18. August die Posi­ti­on der daheim­ge­blie­be­nen Schrift­stel­ler: »Auch ich bin oft gefragt wor­den, war­um ich nicht emi­griert sei, und konn­te immer nur das­sel­be ant­wor­ten: Falls es mir gelän­ge, die­se schau­er­li­che Epo­che (über deren Dau­er wir uns frei­lich alle getäuscht hat­ten) leben­dig zu über­ste­hen, wür­de ich dadurch der­art viel für mei­ne geis­ti­ge und mensch­li­che Ent­wick­lung gewon­nen haben, daß ich rei­cher an Wis­sen und Erle­ben dar­aus her­vor­gin­ge, als wenn ich aus den Logen und Par­terre­plät­zen des Aus­lands der deut­schen Tra­gö­die zuschau­te. Es ist nun ein­mal zwei­er­lei, ob ich den Brand mei­nes Hau­ses selbst erle­be oder ihn in der Wochen­schau sehe, ob ich sel­ber hun­ge­re oder vom Hun­ger in den Zei­tun­gen lese, ob ich den Bom­ben­ha­gel auf deut­sche Städ­te lebend über­ste­he oder mir davon berich­ten lasse.«

Die Apo­lo­ge­ten Manns, die heu­te die erdrü­cken­de Ger­ma­nis­ten­mehr­heit bil­den, haben detail­liert erör­tert, wie­so der Nobel­preis­trä­ger nicht ver­söhn­li­cher reagier­te und damit sei­ne Schär­fe, Selbst­be­zo­gen­heit und man­geln­de Groß­mut erklärt. Nun lag im Zun­gen­schlag von Thiess – der die Exil­exis­tenz auf Thea­ter­lo­gen redu­zier­te oder sich zur For­mu­lie­rung ver­stieg, »es war schwe­rer, sich hier sei­ne Per­sön­lich­keit zu wah­ren«, aber wir »erwar­ten dafür kei­ne Beloh­nung, daß wir Deutsch­land nicht ver­lie­ßen« – ja gewiß etwas Her­aus­for­dern­des. Doch mit glei­cher Ein­füh­lungs­be­reit­schaft wäre auch die Empö­rung vie­ler Inne­rer Emi­gran­ten zu ana­ly­sie­ren. Denn sie ver­steht sich ja nicht etwa aus der Pho­bie Ewig­gest­ri­ger gegen­über einem pro­mi­nen­ten exi­lier­ten Hit­ler-Geg­ner, son­dern vor­nehm­lich aus sei­nen Vorwürfen.

Wenn frü­he­re Kol­le­gen dem Nobel­preis­trä­ger in der Fol­ge also reser­viert begeg­ne­ten, hat­te auch er zur Ent­frem­dung einen wesent­li­chen Bei­trag geleis­tet. Denn die ihn jetzt kri­ti­sier­ten, waren nicht nur gewen­de­te Nazis mit schlech­tem Gewis­sen, son­dern meist Autoren, die im Drit­ten Reich erheb­lich gelit­ten hat­ten, wie Leo Weis­man­tel, Wil­helm Hau­sen­stein oder Erich Käst­ner, der auf Manns Äuße­rung hin einen bei­ßend iro­ni­schen Arti­kel schrieb: »Betrach­tun­gen eines Unpo­li­ti­schen«. Ber­gen­gruen wie­der­um, ansons­ten ein Bewun­de­rer des Roman­ciers, ver­glich des­sen BBC-Radio­an­spra­chen mit Rat­schlä­gen eines »wohl­wei­sen Gene­ral­stabs­of­fi­ziers«, der peri­odisch »aus der Etap­pe« anrief und uns die Lage erklär­te mit »Ver­hal­tens­maß­re­geln von einer Ahnungs­lo­sig­keit, über die jeder Front­sol­dat lachte.«

Übri­gens fie­len Manns pri­va­te Äuße­run­gen in jener Zeit über die Deut­schen noch viel böser und destruk­ti­ver aus und ent­hüll­ten, aller sen­ti­men­ta­ler Rück­be­zü­ge an Jugend, Kul­tur und Spra­che zum Trotz, einen Autor, der nach der gewalt­sa­men offi­zi­el­len Aus­bür­ge­rung zeit­wei­se eine inne­re voll­zo­gen hat­te. Die Stim­mung zu Hau­se wie­der­um ver­rät etwa eine auf­schluß­rei­che Umfra­ge der US-Besat­zungs­be­hör­den in Bayern.

Befragt wur­den neue poli­ti­sche, wirt­schaft­li­che und kul­tu­rel­le Ent­schei­dungs­trä­ger, also kei­nes­wegs Alt-Nazis, wie sie es denn mit den Emi­gran­ten all­ge­mein und beson­ders mit Tho­mas Mann hiel­ten. Die Mehr­heit votier­te gegen ihn, weil sie bei ihm wenig Ver­ständ­nis des­sen erkann­ten, was vor Ort pas­siert war. Auch gegen Pri­vi­le­gi­en für die Rück­kehr von Exi­lan­ten wand­ten sie sich. Wer dazu von sich aus kei­ne Nei­gung einer Zuge­hö­rig­keit zum deut­schen Volk ver­spü­re, möge lie­ber drau­ßen bleiben.

Inso­fern ent­sprach Frank Thiess’ Ent­geg­nung, abge­se­hen von gewis­sen Zuspit­zun­gen, einem Trend, bevor man im Rah­men der Goe­the-­Fei­ern 1949 eine Dees­ka­la­ti­on des Tho­mas-Mann-Streits ein­lei­te­te. Inzwi­schen avan­cier­te Mann längst zum über­le­bens­gro­ßen Muster­autor der Epo­che, wäh­rend der einst renom­mier­te Erzäh­ler und Essay­ist Thiess, der (nach kur­zer Anpas­sungs­pha­se) auch im Drit­ten Reich mit Wer­ken wie Das Reich der Dämo­nen Cou­ra­ge gezeigt hat­te, zur exem­pla­ri­schen Per­so­na non gra­ta der BRD-Ger­ma­nis­tik verfiel.

Die zwei­te Kon­tro­ver­se betraf Ernst ­Jün­ger, des­sen erheb­li­che lite­ra­ri­sche Oppo­si­ti­on im Drit­ten Reich (Das aben­teu­er­li­che Herz. Zwei­te Fas­sung, Auf den Mar­mor-Klip­pen, Der Frie­de und vie­les ande­re) sich lang­sam auch in der Main­stream-Phi­lo­lo­gie her­um­ge­spro­chen hat. Ohne­hin räumt die aktu­el­le Ger­ma­nis­tik inzwi­schen dem (auch im Deut­schen Lite­ra­tur­ar­chiv  Mar­bach ver­ehr­ten) Autor den Klas­si­ker­sta­tus ein. Jahr­zehn­te zuvor kul­ti­vier­ten sei­ne Geg­ner jedoch viel­fach das Bild eines schand­ba­ren Bel­li­zis­ten und Vor­läu­fers der NS-Dik­ta­tur, den es ein für alle­mal lite­r­ar­his­to­risch zu beer­di­gen gel­te. Vom »Bewältigungs«-Lager trenn­te ihn zudem sei­ne demons­tra­ti­ve Wei­ge­rung, den Ent­na­zi­fi­zie­rungs­fra­ge­bo­gen aus­zu­fül­len, wor­auf er bis 1949 Publi­ka­ti­ons­ver­bot erhielt.

In Jah­re der Okku­pa­ti­on (1958) cha­rak­te­ri­siert er die­se Maß­nah­me, die als Sym­ptom moder­ner Mas­sen­füh­rung auch sein Kon­zept vom Wald­gang der letz­ten Frei­en beein­fluß­te: »Rück­keh­rend fand ich auf mei­nem Schreib­tisch einen lan­gen Fra­ge­bo­gen des Arbeits­am­tes für mei­nen Haus­stand vor. ›Fal­sche Anga­ben wer­den durch die Gerich­te der Mili­tär­re­gie­rung ver­folgt.‹ Jetzt haben sie einen neu­en Herrn. Ich wuß­te wohl, daß man der­glei­chen bei­be­hal­ten wür­de, das Instru­ment ist zu bequem. Die Regie­run­gen lösen sich wie Glie­der eines Band­wurms ab; ihr Kopf, ihr intel­li­gi­bler Cha­rak­ter bleibt bestehen. Jede baut eine Rei­he von neu­en Zel­len an das Gefäng­nis an.«

In die­ser Hal­tung wur­de Ernst Jün­ger (neben Ernst von Salo­mon) zum Sprach­rohr einer Autoren­grup­pe, die sich ähn­lich drang­sa­liert sah, dar­un­ter sein Bru­der Fried­rich Georg, Ger­hard ­Nebel, Gott­fried Benn oder Carl Schmitt. ­Mar­gret ­Boveri (Ame­ri­ka-Fibel, 1946) und Cas­par von Schrenck-­Not­zing (Cha­rak­ter­wä­sche, 1965) übten gleich­falls Kri­tik. Sig­mund Graff schrieb die Sati­re ­Goe­the vor der Spruch­kam­mer (1951), in der sich der alt gewor­de­ne Dich­ter­fürst vor einem ima­gi­nä­ren Wohl­fahrts­aus­schuß ver­ant­wor­ten muß.

Selbst Ver­tre­ter außer­halb des rech­ten Lagers wie Wolf­gang Bor­chert wehr­ten sich gegen die­se Art Gehirn­wä­sche (was wie­der­um dem Retro­spek­tiv­mo­ra­lis­ten Jan Phil­ipp Reemts­ma als Beleg dafür dien­te, wie wenig der Ver­fas­ser von Drau­ßen vor der Tür zur anti­fa­schis­ti­schen Nach­kriegs­iko­ne tau­ge): »Solan­ge die Ziga­ret­ten­stum­mel frem­der Mili­tär­mäch­te auf der Stra­ße lie­gen […] und solan­ge ich 16seitige Fra­ge­bo­gen aus­fül­len muß, um in einer Zeit­schrift gedruckt zu wer­den, solan­ge ist es sinn­los, über Demo­kra­tie und per­sön­li­che Frei­heit zu diskutieren.«

Gegen Jün­ger beson­ders ent­brann­ten regel­rech­te Medi­en­kam­pa­gnen. Eine Mus­te­rung der Ham­bur­ger Aka­de­mi­schen Rund­schau vom Juli 1947 wies bereits 40 State­ments pro und con­tra auf. Ins­ge­samt notier­te Karl O. Pae­tel zwi­schen 1945 und 1951 rund 900 deutsch­spra­chi­ge Äuße­run­gen über Jün­ger – dar­un­ter Tho­mas Mann, der ihn als »geis­ti­gen Weg­be­rei­ter und eis­kal­ten Wol­lüst­ling der Bar­ba­rei« den natio­nal­so­zia­lis­ti­schen »Schin­dern« zurech­ne­te. Bert Brecht, Erik Reger und Wolf­gang Wey­rauch zähl­ten zu den pro­mi­nen­ten Anklägern.

Die Atmo­sphä­re kenn­zeich­ne­ten Schlag­zei­len wie »Das intel­lek­tu­el­le Raub­tier Ernst Jün­ger« (Karl Schnog). Kurt ­Hil­ler nann­te ihn einen »Ver­herr­li­cher des Mas­sen­mor­des l’art pour l’art« und »unvor­nehms­ten Schrei­ber, der je dru­cken ließ.« Nach Paul Ril­la ver­kün­de­te er »das Evan­ge­li­um von Ausch­witz«. Wolf­gang Harich sah in sei­nem »ver­fau­len­den«, »ins Bes­tia­li­sche ent­ar­te­ten Intel­lekt« einen Anste­ckungs­herd, den es aus Hygie­ne­grün­den aus­zu­glü­hen gel­te. Und Peter de Men­dels­sohn unter­stell­te ihm in »Gegen­strah­lun­gen« (1949) neben peku­niä­rer Unred­lich­keit, daß er ihn zwar »nicht ver­gast« habe, aber »sein Rit­ter-Pöbel-Staat mit Erd­bee­ren in Bur­gun­der« habe ihn »über kurz oder lang außer Lan­des getrie­ben«. Erich Kuby oder Karl­heinz Desch­ner übten den denun­zia­to­ri­schen Schul­ter­schluß auch sti­lis­tisch, letz­te­rer mit dem Dik­tum: »Pro­sa wie aus einem ober­bay­ri­schen Land­rats­amt. Brei auf Stelzen.«

Auf sei­ten Jün­gers for­mier­ten sich etwa ­Alfred Andersch, Ernst Nie­kisch, Karl Korn, K. O. Pae­tel, Armin Moh­ler, Carl Zuck­may­er, K. L. Tank, Ste­fan And­res sowie Ger­hard Nebel. Des­sen Jün­ger-Stu­die von 1949 bilan­zier­te, die Dis­kus­si­on habe nichts erbracht als »win­di­ges Geschwätz«. »Man war zwei Jah­re lang wirk­lich an Köter gemahnt, die ihrem Bedürf­nis, die Sockel der Monu­men­te anzu­pis­sen, nicht wider­ste­hen kön­nen.« Man­che Aus­ein­an­der­set­zun­gen gli­chen in der Tat Straf­ex­pe­di­tio­nen. Schon der Ton­fall befrem­det, mit dem man zu Autoren-denk­mal­stür­zen aufrief.

Natür­lich klang der 68er-Slang wahr­lich nicht bes­ser. Für Ger­hard Zwe­renz war Jün­ger »ein gro­ßer, geis­ti­ger Mobi­li­sa­tor für Hit­lers Armeen«, für Hans Heinz Holz ein »schil­lern­der Para­sit. Ein Kon­ser­va­ti­ver ist kein Den­ker«, für Nico­laus Som­bart ein über­schätz­ter »Epi­go­ne Nietz­sches und Bau­de­lai­res«. Das Inter­es­se der fran­zö­si­schen Lin­ken an ihm beru­he auf Miß­ver­ständ­nis­sen: »Viel­leicht hal­ten sie ihn sogar für schwul, was ihn unter einem ande­ren Gesichts­punkt inter­es­sant macht. […] Wenn sie wüß­ten, daß der Ästhe­ti­zis­mus Jün­gers dem Per­fek­tio­nis­mus Eich­manns näher steht als der Artis­tik ­Coc­teaus, wür­den sie ihn mei­den, wie einen räu­di­gen Hund.«

Nicht nur die spe­zi­fi­sche Reiz­fi­gur Jün­ger ent­fes­sel­te sol­che ver­ba­le Dras­tik. Auch ande­re Autoren traf es, wie Hans Caros­sa, der bei deut­li­cher Reser­ve gegen­über Hit­lers Regime klei­ne­re offi­zi­el­le Anpas­sun­gen voll­zog. Sei­ne acht­ba­re, selbst­kri­ti­sche Auto­bio­gra­phie Unglei­che Wel­ten (1951) wird bis heu­te als beschö­ni­gen­de Apo­lo­gie her­ab­ge­setzt. Der Kri­ti­ker Hans­ge­org Mai­er, Karl­heinz Desch­ner und Her­mann Kes­ten atta­ckier­ten ihn, letz­te­rer unter dem Titel »Der Lump in der Lite­ra­tur«. Und Jean Amé­ry zog 1981 in Ober­leh­rer­po­se Bilanz: »Ich glau­be, wir kön­nen uns heu­te Hans Caros­sa und sein Dich­ten spa­ren.« Spä­ter wur­de sogar Gün­ter Eich ein­schlä­gig abge­kan­zelt: »Stramm­ste­hen für Goeb­bels, Geld und Urlaub« (Frank Olbert in der FAZ vom 30. Okto­ber 1993).

Auch Ernst Wie­chert, zu Leb­zei­ten einer der meist­ge­le­se­nen Autoren, blieb nicht ver­schont. Sein Haupt­werk im Drit­ten Reich, Das ein­fa­che Leben, kon­zi­piert als sehn­suchts­vol­le lite­ra­ri­sche Kon­tra­fak­tur zur erschre­cken­den Gegen­wart, in der der Aus­stieg ins Pri­va­te eine ver­stan­de­ne Polit­geste war, wur­de 1961 von Franz Schonau­er kri­tisch ver­nich­tet. Mit die­sem fata­len Doku­ment öffent­li­chen Ver­sa­gens habe der ver­ant­wor­tungs­lo­se Dich­ter das mora­li­sche Bewußt­sein des Bür­gers im »Rau­schen der gro­ßen Wäl­der« ein­ge­schlä­fert. Das Erschei­nen die­ses Romans zu Beginn des Zwei­ten Welt­kriegs erwei­se sich als gro­tes­kes »Sym­ptom der intel­lek­tu­el­len Ver­dum­mung« einer »vita contemplativa«.

Sogar das Aus­land ach­te­te Wie­chert als NS-Ver­folg­ten (er saß für eini­ge Mona­te in Buchen­wald eine Art Erzie­hungs- und Ein­schüch­te­rungs­haft ab) und als mora­li­sches Gewis­sen der Deut­schen. Nicht so Lite­r­ar­his­to­ri­ker, von Georg Lukács über Theo­dor Ador­no bis Ralf Schnell, die sei­ne schrift­stel­le­ri­sche Exis­tenz auf irra­tio­nal-quie­tis­ti­sche Zeit­flucht redu­zier­ten, teils sogar dem Natio­nal­so­zia­lis­mus ver­wandt. Schließ­lich stan­den sein spe­zi­fi­scher Kon­ser­va­ti­vis­mus und gera­de die im Drit­ten Reich durch Mut erwor­be­ne Auto­ri­tät einem rigo­ro­sen Neu­an­fang im Wege.

Ohne­hin war der Kon­flikt mit einer des­il­lu­sio­nier­ten jün­ge­ren Gene­ra­ti­on, die mit sei­nem hohen Ton nichts mehr anfan­gen konn­te, wohl nahe­zu zwangs­läu­fig. Der Ruf par­odier­te ihn als Trä­ger einer Kunst­auf­fas­sung, der Trös­ten als letz­tes Ziel galt. Man ver­spot­te­te sei­ne anti­mo­der­ne Rück­kehr zur Natur und Leit­be­grif­fe wie Lie­be und Herz, Schick­sal, Demut, Erfül­lung, Saat und Ern­te, von Wie­cherts Stadt- oder demuts­vol­lem Frau­en­bild zu schwei­gen. Sein Pathos erschien den Kri­ti­kern als sal­bungs­voll-pseu­do­re­li­giö­se Lar­moy­anz, was teils auch die Beur­tei­lung sei­nes KZ-Berichts Der Toten­wald einbezog.

Als Prot­ago­nist der Natur­ly­rik geriet ­Wil­helm Leh­mann ins Faden­kreuz der Kri­tik, ein Dich­ter, der exak­te bio­lo­gi­sche Beob­ach­tung mit der Mythen- und Mär­chen­welt ver­knüpf­te. Noch 2005, als er längst ver­ges­sen war, spot­te­te Hans ­Chris­toph Buch über des­sen »bota­ni­sie­ren­de Kraut- und Rüben­ly­rik« als »Absa­ge an die Zeit­läuf­te und Rück­zug in blu­men­um­rank­te Inner­lich­keit«. Der Ger­ma­nist Uwe‑K. Ket­el­sen ging noch wei­ter und deu­te­te das Gedicht »Signa­le« gar als Zeug­nis mensch­li­cher Ver­stüm­me­lung durch Empa­thie­ver­lust: »In der Inhu­ma­ni­tät der Zeit ist ein Dich­ter inhu­man gewor­den.« Wel­cher Vorwurf!

Dabei hat­te Leh­mann ledig­lich die bedrän­gen­den zeit­ge­nös­si­schen Polit- und Kriegs­schrecken mit dem Wunsch nach einer heil­sa­men Natur kon­tras­tiert. Es ging ihm um psy­chi­sche Kom­pen­sa­ti­on, bei der ein beru­hi­gen­der Vogel­ruf selbst bedrän­gen­de sol­da­ti­sche Todes­schreie ver­ges­sen läßt, um see­li­sches Atem­ho­len also, das für Stun­den von poli­tisch-mili­tä­ri­schen Alp­drü­cken befrei­te. Wel­che bigot­te Chan­ce zur Ent­rüs­tung! Aber schließ­lich befeh­de­ten die (68er)-Werber für eine durch­weg poli­ti­sier­te Lite­ra­tur im Prin­zip ja ein gan­zes lyri­sches Gen­re. Hel­mut Lethen etwa sprach von der »stil­len Het­ze der Natur­ly­rik«, und Arn­frid Astel, ein Radio­jour­na­list und Lyri­ker, gab zu beden­ken: »Das Gedicht / geht über Lei­chen. / Es han­delt von Blumen.«

In die Müh­le ger­ma­nis­ti­scher Abstu­fung geriet bald auch Her­mann Kasacks bedeu­ten­der Roman Die Stadt hin­ter dem Strom (1947), ein zunächst rund­um gelob­ter, heu­te ver­ges­se­ner Best­sel­ler, der in sei­ner gran­dio­sen Bild­welt eines Toten­reichs Kaf­ka wür­dig beerbt. Kasack wur­de zum Ver­häng­nis, daß er in einer kei­nes­wegs zen­tra­len Pas­sa­ge die mör­de­ri­sche Kata­stro­phe der jüngs­ten Ver­gan­gen­heit trös­tend in einen kos­mi­schen Zusam­men­hang ein­bet­te­te. Was ange­sichts der Gesamt­leis­tung des Werks allen­falls eine skep­ti­sche Anmer­kung ver­dien­te, bot bald Anlaß zur fun­da­men­ta­len ästhe­tisch-mora­li­schen Abrechnung.

Man sprach von »his­to­ri­schem und lite­ra­ri­schem Ver­sa­gen« (Ehr­hard Bahr) oder rüg­te, der Autor mache es »dem Bil­dungs­bür­ger leicht, die ›schwe­re Zeit der Prü­fung‹ als ›brau­nes Unwet­ter‹ schnells­tens zu ver­ges­sen, um sich kon­tem­pla­tiv mit dem Leid des Men­schen im All­ge­mei­nen zu befas­sen« (Sieg­fried Kli­ma­sch). Nach Lothar Bai­er habe »ein gro­ßer Teil des deut­schen Bil­dungs­bür­ger­tums« in ihm »einen genui­nen Inter­pre­ten sei­ner Rea­li­täts­flucht« gefun­den. Und so weiter.

Aus­ge­glie­dert aus dem lite­ra­ri­schen Kos­mos wur­den auch Otto Fla­ke oder Peter Bamm. Irgend­ei­ne Halb­heit in dunk­ler Zeit oder ein »fal­sches« Welt­bild lie­fer­ten die ästhe­tisch getarn­ten Vor­wän­de. Ande­ren hielt man Kal­li­gra­phie, Eska­pis­mus, archa­isch-agra­ri­sche Regres­si­on vor. Gesell­schaft stach Natur, Reli­gi­on war nicht mehr gefragt, was zu Las­ten von Ste­fan ­And­res, ­Rudolf Alex­an­der Schrö­der, Jochen Klep­per, Wer­ner Ber­gen­gruen oder Eli­sa­beth Lang­gäs­ser aus­schlug. Man kann sich des Ein­drucks nicht erweh­ren, daß die »Wie­der­erzie­her« nicht nur NS-Ideo­lo­gie aus dem Kul­tur­le­ben aus­fil­tern woll­ten, son­dern die gan­ze vori­ge Lite­ra­tur­ge­ne­ra­ti­on dazu. Und da stör­ten die stör­ri­schen Alten ein­fach: Polit- oder Mar­xis­mus-Skep­ti­ker, reli­gi­ös gebun­den oder auf klas­si­sche Lite­ra­tur­tra­di­ti­on ein­ge­schwo­ren. Je undif­fe­ren­zier­ter man vor­ging, um so effek­ti­ver gelang deren Exorzismus.

Selbst Autoren mit jüdi­schen Wur­zeln oder Fami­li­en­kon­tak­ten waren betrof­fen, sofern sie sich nicht deut­lich durch Wider­stand aus­ge­zeich­net hat­ten oder in ihren Nach­kriegs­wer­ken dem offi­zi­el­len Ree­du­ca­ti­on-Kurs anpaß­ten. Exem­pla­risch galt dies für Ber­gen­gruen, des­sen Fami­lie unter den Ras­sen­ge­set­zen gelit­ten hat­te, oder Bru­no E. Wer­ner, der sich trotz einer jüdi­schen Mut­ter unter Inkauf­nah­me eini­ger Kon­zes­sio­nen in Deutsch­land gehal­ten hat­te. Sein 1943 begon­ne­ner, 1947 erschie­ne­ner (Schlüssel-)Roman Die Galee­re stieß denn auch kei­nes­wegs auf die Rezep­ti­on, die sei­ner Gesamt­leis­tung ent­spricht. Und noch bei der Neu­auf­la­ge 2019 bla­mier­ten sich nach­ge­bo­re­ne Kri­ti­ker durch hämi­sche Bemer­kun­gen zur angeb­lich erfun­de­nen »Inne­ren Emi­gra­ti­on« (Lothar Struck, Peter Meisenberg).

Spek­ta­ku­lä­rer war 1964 Ador­nos Aus­fall gegen Ber­gen­gruen. Der Star­phi­lo­soph kon­fron­tier­te des­sen (selbst durch das Drit­te Reich uner­schüt­ter­te) Ver­trau­en in eine gött­li­che Ord­nung sar­kas­tisch mit dem Holo­caust. Sein poe­ti­sches Bekennt­nis zur »Hei­len Welt« sei nur wenig »jün­ger als die Zeit, da man Juden, die man nicht gründ­lich genug ver­gast hat­te, lebend ins Feu­er warf, wo sie das Bewußt­sein wie­der­fan­den und schrien.« Der schöp­fungs­blin­de Dich­ter aber ver­neh­me »nichts als Lobgesang«.

Das war bil­li­ger Hohn. Denn in Wirk­lich­keit hat­te Ber­gen­gruen ledig­lich sei­nen christ­li­chen Glau­ben im Sin­ne Hiobs bekräf­tigt. Doch wie platt die Deu­tung auch sein moch­te, sie erwies sich als Super-GAU für den Ruf des Dich­ters in Zir­keln, die von nun an den Ton anga­ben. Und Mar­cel Reich-­Ra­ni­cki konn­te 2008 »ex cathe­dra« den Fall abschlie­ßen: »War­um soll­te man ihn immer wie­der dru­cken? Und wozu soll­te man sei­ne ver­staub­ten Wer­ke immer wie­der kommentieren?«

Vie­le die­ser Angrif­fe been­de­ten schlag­ar­tig Lite­ra­tur­kar­rie­ren, zumin­dest im Bewußt­sein der sich neu for­mie­ren­den Kul­ture­li­te. Ver­la­ge, Medi­en oder jun­ge Leser wand­ten sich über kurz oder lang von ihnen ab. Die Atta­ckier­ten wie­der­um befan­den sich in einer ver­zwick­ten Lage. Wur­den sie doch im Lauf der 1960er Jah­re über­rollt von einer Wel­le der Ver­ständ­nis­ver­wei­ge­rung und der Recht­fer­ti­gungs­er­war­tun­gen durch Jün­ge­re, denen sie vie­les nicht (mehr) rich­tig erklä­ren konn­ten: etwa, daß es jen­seits von Unter­grund noch man­chen Weg gab, Cha­rak­ter zu zei­gen und lite­ra­ri­sches Niveau zu wah­ren, und daß man fürs schlich­te Über­le­ben als Schrift­stel­ler zuwei­len Kom­pro­mis­se und Zwei­deu­tig­kei­ten in Kauf nahm, die (in einem bestimm­ten Rah­men) nicht zu tadeln sind. Sie hat­ten in Tei­len wider­stan­den, waren aber in der Regel kei­ne mär­ty­rer­haft gesinn­ten Hel­den gewe­sen. Doch gera­de nach sol­chen star­ken Vater­fi­gu­ren bestand ein Bedürf­nis, und nur sol­che Ido­le allein hät­ten ver­hin­dert, daß die Dau­men sich senkten.

Auch des­halb retu­schier­ten man­che ihre Lebens­läu­fe ein wenig, über­trie­ben zuwei­len das Maß an Oppo­si­ti­on oder Gefähr­dung, ver­eindeu­tig­ten Camou­fla­gen, ver­ga­ßen auch mal frü­he­re Anfech­tun­gen oder Ver­öf­fent­li­chun­gen, ergin­gen sich in ver­krampf­ten Apo­lo­gien und erbrach­ten somit schein­bar selbst Bele­ge für das nur Soge­nann­te ihrer dis­si­den­ten Exis­tenz. Ver­däch­tig­te man sie zu Unrecht der NS-Sym­pa­thie oder Mit­läu­fer­schaft, reagier­ten sie aus­fal­lend zum Bei­spiel gegen­über Exi­lan­ten­kri­tik und schlos­sen so in ihrem Recht­fer­ti­gungs­drang den Teu­fels­kreis der Mißverständnisse.

Hin­zu kam ein bewuß­ter Trend, den inner­deut­schen Bei­trag gegen Tota­li­ta­ris­mus zu mar­gi­na­li­sie­ren. Noch der lei­der zu früh ver­stor­be­nen Ricar­da Huch war es ein wich­ti­ges Anlie­gen gewe­sen, dar­an zu erin­nern. Ihre Mate­ria­li­en und Hin­wei­se inspi­rier­ten Gün­ther Wei­sen­born zum Doku­men­ta­ti­ons­band der inner­deut­schen Oppo­si­ti­on: Der laut­lo­se Auf­stand (1953). Wo die Umer­zie­hung jedoch vor­wie­gend auf die unbe­las­te­te Nach­kriegs­ge­nera­ti­on setz­te, bestand wenig Inter­es­se an einer Auf­wer­tung die­ser Autoren­grup­pe, ver­gli­chen mit dem höher geschätz­ten Exil. Die ästhe­ti­sche Ein­stu­fung folg­te die­sem Vorurteil.

Und so konn­te etwa Reich-Rani­cki, der kraft eige­ner Groß­mut bes­ten­falls Ehren­emi­gran­ten wie Erich Käst­ner gel­ten ließ, 1967 kon­sta­tie­ren, »daß die wesent­li­chen Wer­ke in deut­scher Spra­che damals außer­halb Deutsch­lands geschrie­ben wur­den.« Roma locu­ta cau­sa fini­ta? Mitnichten.

 

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