Zwei spektakuläre Kontroversen um Thomas Mann und Ernst Jünger bewegten die Nachkriegsliteratur von Beginn an mit nachhaltigen Konsequenzen für den Ruf der Inneren Emigranten generell, besonders für diejenigen, die diese Bezeichnung zu Recht und als Auszeichnung tragen: Stemmten sie sich doch gegen eine gänzliche Totalisierung des öffentlichen Lebens, indem sie (verschlüsselt) Dissens artikulierten.
Thomas Mann jedoch attackierte sie in seinem Statement vom 28. September 1945 mit wenig bedachten Worten pauschal: »Es mag Aberglaube sein, aber in meinen Augen sind Bücher, die von 1933 bis 1945 in Deutschland überhaupt gedruckt werden konnten, weniger als wertlos und nicht gut in die Hand zu nehmen. Ein Geruch von Blut und Schande haftet ihnen an; sie sollten alle eingestampft werden.«
Dieses Urteil, publiziert unter dem Titel »Warum ich nicht nach Deutschland zurückgehe«, reagierte auf zwei vielbeachtete offene Briefe von Walter von Molo und Frank Thiess. Molo hatte am 4. August 1945 die anrührende Bitte an Mann ausgesprochen: »Ihr Volk, das nunmehr seit einem Dritteljahrhundert hungert und leidet, hat im innersten Kern nichts gemein mit den Missetaten und Verbrechen […]. Wir müssen endlich […] das Gemeinsame, Verbindende, nicht weiter oder neu das Trennende suchen, denn Haß und pauschale Herabsetzung und unrichtig abgekürzte Geschichtsbetrachtungen zu vergänglichen Zwecken sind unfruchtbar und führen zu Katastrophen; das haben wir doch in unserer Lebensspanne in schrecklicher Art erfahren. Kommen Sie bald wie ein guter Arzt, der nicht nur die Wirkung sieht, sondern die Ursache der Krankheit sucht und diese vornehmlich zu beheben bemüht ist.«
Thiess wiederum definierte am 18. August die Position der daheimgebliebenen Schriftsteller: »Auch ich bin oft gefragt worden, warum ich nicht emigriert sei, und konnte immer nur dasselbe antworten: Falls es mir gelänge, diese schauerliche Epoche (über deren Dauer wir uns freilich alle getäuscht hatten) lebendig zu überstehen, würde ich dadurch derart viel für meine geistige und menschliche Entwicklung gewonnen haben, daß ich reicher an Wissen und Erleben daraus hervorginge, als wenn ich aus den Logen und Parterreplätzen des Auslands der deutschen Tragödie zuschaute. Es ist nun einmal zweierlei, ob ich den Brand meines Hauses selbst erlebe oder ihn in der Wochenschau sehe, ob ich selber hungere oder vom Hunger in den Zeitungen lese, ob ich den Bombenhagel auf deutsche Städte lebend überstehe oder mir davon berichten lasse.«
Die Apologeten Manns, die heute die erdrückende Germanistenmehrheit bilden, haben detailliert erörtert, wieso der Nobelpreisträger nicht versöhnlicher reagierte und damit seine Schärfe, Selbstbezogenheit und mangelnde Großmut erklärt. Nun lag im Zungenschlag von Thiess – der die Exilexistenz auf Theaterlogen reduzierte oder sich zur Formulierung verstieg, »es war schwerer, sich hier seine Persönlichkeit zu wahren«, aber wir »erwarten dafür keine Belohnung, daß wir Deutschland nicht verließen« – ja gewiß etwas Herausforderndes. Doch mit gleicher Einfühlungsbereitschaft wäre auch die Empörung vieler Innerer Emigranten zu analysieren. Denn sie versteht sich ja nicht etwa aus der Phobie Ewiggestriger gegenüber einem prominenten exilierten Hitler-Gegner, sondern vornehmlich aus seinen Vorwürfen.
Wenn frühere Kollegen dem Nobelpreisträger in der Folge also reserviert begegneten, hatte auch er zur Entfremdung einen wesentlichen Beitrag geleistet. Denn die ihn jetzt kritisierten, waren nicht nur gewendete Nazis mit schlechtem Gewissen, sondern meist Autoren, die im Dritten Reich erheblich gelitten hatten, wie Leo Weismantel, Wilhelm Hausenstein oder Erich Kästner, der auf Manns Äußerung hin einen beißend ironischen Artikel schrieb: »Betrachtungen eines Unpolitischen«. Bergengruen wiederum, ansonsten ein Bewunderer des Romanciers, verglich dessen BBC-Radioansprachen mit Ratschlägen eines »wohlweisen Generalstabsoffiziers«, der periodisch »aus der Etappe« anrief und uns die Lage erklärte mit »Verhaltensmaßregeln von einer Ahnungslosigkeit, über die jeder Frontsoldat lachte.«
Übrigens fielen Manns private Äußerungen in jener Zeit über die Deutschen noch viel böser und destruktiver aus und enthüllten, aller sentimentaler Rückbezüge an Jugend, Kultur und Sprache zum Trotz, einen Autor, der nach der gewaltsamen offiziellen Ausbürgerung zeitweise eine innere vollzogen hatte. Die Stimmung zu Hause wiederum verrät etwa eine aufschlußreiche Umfrage der US-Besatzungsbehörden in Bayern.
Befragt wurden neue politische, wirtschaftliche und kulturelle Entscheidungsträger, also keineswegs Alt-Nazis, wie sie es denn mit den Emigranten allgemein und besonders mit Thomas Mann hielten. Die Mehrheit votierte gegen ihn, weil sie bei ihm wenig Verständnis dessen erkannten, was vor Ort passiert war. Auch gegen Privilegien für die Rückkehr von Exilanten wandten sie sich. Wer dazu von sich aus keine Neigung einer Zugehörigkeit zum deutschen Volk verspüre, möge lieber draußen bleiben.
Insofern entsprach Frank Thiess’ Entgegnung, abgesehen von gewissen Zuspitzungen, einem Trend, bevor man im Rahmen der Goethe-Feiern 1949 eine Deeskalation des Thomas-Mann-Streits einleitete. Inzwischen avancierte Mann längst zum überlebensgroßen Musterautor der Epoche, während der einst renommierte Erzähler und Essayist Thiess, der (nach kurzer Anpassungsphase) auch im Dritten Reich mit Werken wie Das Reich der Dämonen Courage gezeigt hatte, zur exemplarischen Persona non grata der BRD-Germanistik verfiel.
Die zweite Kontroverse betraf Ernst Jünger, dessen erhebliche literarische Opposition im Dritten Reich (Das abenteuerliche Herz. Zweite Fassung, Auf den Marmor-Klippen, Der Friede und vieles andere) sich langsam auch in der Mainstream-Philologie herumgesprochen hat. Ohnehin räumt die aktuelle Germanistik inzwischen dem (auch im Deutschen Literaturarchiv Marbach verehrten) Autor den Klassikerstatus ein. Jahrzehnte zuvor kultivierten seine Gegner jedoch vielfach das Bild eines schandbaren Bellizisten und Vorläufers der NS-Diktatur, den es ein für allemal literarhistorisch zu beerdigen gelte. Vom »Bewältigungs«-Lager trennte ihn zudem seine demonstrative Weigerung, den Entnazifizierungsfragebogen auszufüllen, worauf er bis 1949 Publikationsverbot erhielt.
In Jahre der Okkupation (1958) charakterisiert er diese Maßnahme, die als Symptom moderner Massenführung auch sein Konzept vom Waldgang der letzten Freien beeinflußte: »Rückkehrend fand ich auf meinem Schreibtisch einen langen Fragebogen des Arbeitsamtes für meinen Hausstand vor. ›Falsche Angaben werden durch die Gerichte der Militärregierung verfolgt.‹ Jetzt haben sie einen neuen Herrn. Ich wußte wohl, daß man dergleichen beibehalten würde, das Instrument ist zu bequem. Die Regierungen lösen sich wie Glieder eines Bandwurms ab; ihr Kopf, ihr intelligibler Charakter bleibt bestehen. Jede baut eine Reihe von neuen Zellen an das Gefängnis an.«
In dieser Haltung wurde Ernst Jünger (neben Ernst von Salomon) zum Sprachrohr einer Autorengruppe, die sich ähnlich drangsaliert sah, darunter sein Bruder Friedrich Georg, Gerhard Nebel, Gottfried Benn oder Carl Schmitt. Margret Boveri (Amerika-Fibel, 1946) und Caspar von Schrenck-Notzing (Charakterwäsche, 1965) übten gleichfalls Kritik. Sigmund Graff schrieb die Satire Goethe vor der Spruchkammer (1951), in der sich der alt gewordene Dichterfürst vor einem imaginären Wohlfahrtsausschuß verantworten muß.
Selbst Vertreter außerhalb des rechten Lagers wie Wolfgang Borchert wehrten sich gegen diese Art Gehirnwäsche (was wiederum dem Retrospektivmoralisten Jan Philipp Reemtsma als Beleg dafür diente, wie wenig der Verfasser von Draußen vor der Tür zur antifaschistischen Nachkriegsikone tauge): »Solange die Zigarettenstummel fremder Militärmächte auf der Straße liegen […] und solange ich 16seitige Fragebogen ausfüllen muß, um in einer Zeitschrift gedruckt zu werden, solange ist es sinnlos, über Demokratie und persönliche Freiheit zu diskutieren.«
Gegen Jünger besonders entbrannten regelrechte Medienkampagnen. Eine Musterung der Hamburger Akademischen Rundschau vom Juli 1947 wies bereits 40 Statements pro und contra auf. Insgesamt notierte Karl O. Paetel zwischen 1945 und 1951 rund 900 deutschsprachige Äußerungen über Jünger – darunter Thomas Mann, der ihn als »geistigen Wegbereiter und eiskalten Wollüstling der Barbarei« den nationalsozialistischen »Schindern« zurechnete. Bert Brecht, Erik Reger und Wolfgang Weyrauch zählten zu den prominenten Anklägern.
Die Atmosphäre kennzeichneten Schlagzeilen wie »Das intellektuelle Raubtier Ernst Jünger« (Karl Schnog). Kurt Hiller nannte ihn einen »Verherrlicher des Massenmordes l’art pour l’art« und »unvornehmsten Schreiber, der je drucken ließ.« Nach Paul Rilla verkündete er »das Evangelium von Auschwitz«. Wolfgang Harich sah in seinem »verfaulenden«, »ins Bestialische entarteten Intellekt« einen Ansteckungsherd, den es aus Hygienegründen auszuglühen gelte. Und Peter de Mendelssohn unterstellte ihm in »Gegenstrahlungen« (1949) neben pekuniärer Unredlichkeit, daß er ihn zwar »nicht vergast« habe, aber »sein Ritter-Pöbel-Staat mit Erdbeeren in Burgunder« habe ihn »über kurz oder lang außer Landes getrieben«. Erich Kuby oder Karlheinz Deschner übten den denunziatorischen Schulterschluß auch stilistisch, letzterer mit dem Diktum: »Prosa wie aus einem oberbayrischen Landratsamt. Brei auf Stelzen.«
Auf seiten Jüngers formierten sich etwa Alfred Andersch, Ernst Niekisch, Karl Korn, K. O. Paetel, Armin Mohler, Carl Zuckmayer, K. L. Tank, Stefan Andres sowie Gerhard Nebel. Dessen Jünger-Studie von 1949 bilanzierte, die Diskussion habe nichts erbracht als »windiges Geschwätz«. »Man war zwei Jahre lang wirklich an Köter gemahnt, die ihrem Bedürfnis, die Sockel der Monumente anzupissen, nicht widerstehen können.« Manche Auseinandersetzungen glichen in der Tat Strafexpeditionen. Schon der Tonfall befremdet, mit dem man zu Autoren-denkmalstürzen aufrief.
Natürlich klang der 68er-Slang wahrlich nicht besser. Für Gerhard Zwerenz war Jünger »ein großer, geistiger Mobilisator für Hitlers Armeen«, für Hans Heinz Holz ein »schillernder Parasit. Ein Konservativer ist kein Denker«, für Nicolaus Sombart ein überschätzter »Epigone Nietzsches und Baudelaires«. Das Interesse der französischen Linken an ihm beruhe auf Mißverständnissen: »Vielleicht halten sie ihn sogar für schwul, was ihn unter einem anderen Gesichtspunkt interessant macht. […] Wenn sie wüßten, daß der Ästhetizismus Jüngers dem Perfektionismus Eichmanns näher steht als der Artistik Cocteaus, würden sie ihn meiden, wie einen räudigen Hund.«
Nicht nur die spezifische Reizfigur Jünger entfesselte solche verbale Drastik. Auch andere Autoren traf es, wie Hans Carossa, der bei deutlicher Reserve gegenüber Hitlers Regime kleinere offizielle Anpassungen vollzog. Seine achtbare, selbstkritische Autobiographie Ungleiche Welten (1951) wird bis heute als beschönigende Apologie herabgesetzt. Der Kritiker Hansgeorg Maier, Karlheinz Deschner und Hermann Kesten attackierten ihn, letzterer unter dem Titel »Der Lump in der Literatur«. Und Jean Améry zog 1981 in Oberlehrerpose Bilanz: »Ich glaube, wir können uns heute Hans Carossa und sein Dichten sparen.« Später wurde sogar Günter Eich einschlägig abgekanzelt: »Strammstehen für Goebbels, Geld und Urlaub« (Frank Olbert in der FAZ vom 30. Oktober 1993).
Auch Ernst Wiechert, zu Lebzeiten einer der meistgelesenen Autoren, blieb nicht verschont. Sein Hauptwerk im Dritten Reich, Das einfache Leben, konzipiert als sehnsuchtsvolle literarische Kontrafaktur zur erschreckenden Gegenwart, in der der Ausstieg ins Private eine verstandene Politgeste war, wurde 1961 von Franz Schonauer kritisch vernichtet. Mit diesem fatalen Dokument öffentlichen Versagens habe der verantwortungslose Dichter das moralische Bewußtsein des Bürgers im »Rauschen der großen Wälder« eingeschläfert. Das Erscheinen dieses Romans zu Beginn des Zweiten Weltkriegs erweise sich als groteskes »Symptom der intellektuellen Verdummung« einer »vita contemplativa«.
Sogar das Ausland achtete Wiechert als NS-Verfolgten (er saß für einige Monate in Buchenwald eine Art Erziehungs- und Einschüchterungshaft ab) und als moralisches Gewissen der Deutschen. Nicht so Literarhistoriker, von Georg Lukács über Theodor Adorno bis Ralf Schnell, die seine schriftstellerische Existenz auf irrational-quietistische Zeitflucht reduzierten, teils sogar dem Nationalsozialismus verwandt. Schließlich standen sein spezifischer Konservativismus und gerade die im Dritten Reich durch Mut erworbene Autorität einem rigorosen Neuanfang im Wege.
Ohnehin war der Konflikt mit einer desillusionierten jüngeren Generation, die mit seinem hohen Ton nichts mehr anfangen konnte, wohl nahezu zwangsläufig. Der Ruf parodierte ihn als Träger einer Kunstauffassung, der Trösten als letztes Ziel galt. Man verspottete seine antimoderne Rückkehr zur Natur und Leitbegriffe wie Liebe und Herz, Schicksal, Demut, Erfüllung, Saat und Ernte, von Wiecherts Stadt- oder demutsvollem Frauenbild zu schweigen. Sein Pathos erschien den Kritikern als salbungsvoll-pseudoreligiöse Larmoyanz, was teils auch die Beurteilung seines KZ-Berichts Der Totenwald einbezog.
Als Protagonist der Naturlyrik geriet Wilhelm Lehmann ins Fadenkreuz der Kritik, ein Dichter, der exakte biologische Beobachtung mit der Mythen- und Märchenwelt verknüpfte. Noch 2005, als er längst vergessen war, spottete Hans Christoph Buch über dessen »botanisierende Kraut- und Rübenlyrik« als »Absage an die Zeitläufte und Rückzug in blumenumrankte Innerlichkeit«. Der Germanist Uwe‑K. Ketelsen ging noch weiter und deutete das Gedicht »Signale« gar als Zeugnis menschlicher Verstümmelung durch Empathieverlust: »In der Inhumanität der Zeit ist ein Dichter inhuman geworden.« Welcher Vorwurf!
Dabei hatte Lehmann lediglich die bedrängenden zeitgenössischen Polit- und Kriegsschrecken mit dem Wunsch nach einer heilsamen Natur kontrastiert. Es ging ihm um psychische Kompensation, bei der ein beruhigender Vogelruf selbst bedrängende soldatische Todesschreie vergessen läßt, um seelisches Atemholen also, das für Stunden von politisch-militärischen Alpdrücken befreite. Welche bigotte Chance zur Entrüstung! Aber schließlich befehdeten die (68er)-Werber für eine durchweg politisierte Literatur im Prinzip ja ein ganzes lyrisches Genre. Helmut Lethen etwa sprach von der »stillen Hetze der Naturlyrik«, und Arnfrid Astel, ein Radiojournalist und Lyriker, gab zu bedenken: »Das Gedicht / geht über Leichen. / Es handelt von Blumen.«
In die Mühle germanistischer Abstufung geriet bald auch Hermann Kasacks bedeutender Roman Die Stadt hinter dem Strom (1947), ein zunächst rundum gelobter, heute vergessener Bestseller, der in seiner grandiosen Bildwelt eines Totenreichs Kafka würdig beerbt. Kasack wurde zum Verhängnis, daß er in einer keineswegs zentralen Passage die mörderische Katastrophe der jüngsten Vergangenheit tröstend in einen kosmischen Zusammenhang einbettete. Was angesichts der Gesamtleistung des Werks allenfalls eine skeptische Anmerkung verdiente, bot bald Anlaß zur fundamentalen ästhetisch-moralischen Abrechnung.
Man sprach von »historischem und literarischem Versagen« (Ehrhard Bahr) oder rügte, der Autor mache es »dem Bildungsbürger leicht, die ›schwere Zeit der Prüfung‹ als ›braunes Unwetter‹ schnellstens zu vergessen, um sich kontemplativ mit dem Leid des Menschen im Allgemeinen zu befassen« (Siegfried Klimasch). Nach Lothar Baier habe »ein großer Teil des deutschen Bildungsbürgertums« in ihm »einen genuinen Interpreten seiner Realitätsflucht« gefunden. Und so weiter.
Ausgegliedert aus dem literarischen Kosmos wurden auch Otto Flake oder Peter Bamm. Irgendeine Halbheit in dunkler Zeit oder ein »falsches« Weltbild lieferten die ästhetisch getarnten Vorwände. Anderen hielt man Kalligraphie, Eskapismus, archaisch-agrarische Regression vor. Gesellschaft stach Natur, Religion war nicht mehr gefragt, was zu Lasten von Stefan Andres, Rudolf Alexander Schröder, Jochen Klepper, Werner Bergengruen oder Elisabeth Langgässer ausschlug. Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, daß die »Wiedererzieher« nicht nur NS-Ideologie aus dem Kulturleben ausfiltern wollten, sondern die ganze vorige Literaturgeneration dazu. Und da störten die störrischen Alten einfach: Polit- oder Marxismus-Skeptiker, religiös gebunden oder auf klassische Literaturtradition eingeschworen. Je undifferenzierter man vorging, um so effektiver gelang deren Exorzismus.
Selbst Autoren mit jüdischen Wurzeln oder Familienkontakten waren betroffen, sofern sie sich nicht deutlich durch Widerstand ausgezeichnet hatten oder in ihren Nachkriegswerken dem offiziellen Reeducation-Kurs anpaßten. Exemplarisch galt dies für Bergengruen, dessen Familie unter den Rassengesetzen gelitten hatte, oder Bruno E. Werner, der sich trotz einer jüdischen Mutter unter Inkaufnahme einiger Konzessionen in Deutschland gehalten hatte. Sein 1943 begonnener, 1947 erschienener (Schlüssel-)Roman Die Galeere stieß denn auch keineswegs auf die Rezeption, die seiner Gesamtleistung entspricht. Und noch bei der Neuauflage 2019 blamierten sich nachgeborene Kritiker durch hämische Bemerkungen zur angeblich erfundenen »Inneren Emigration« (Lothar Struck, Peter Meisenberg).
Spektakulärer war 1964 Adornos Ausfall gegen Bergengruen. Der Starphilosoph konfrontierte dessen (selbst durch das Dritte Reich unerschütterte) Vertrauen in eine göttliche Ordnung sarkastisch mit dem Holocaust. Sein poetisches Bekenntnis zur »Heilen Welt« sei nur wenig »jünger als die Zeit, da man Juden, die man nicht gründlich genug vergast hatte, lebend ins Feuer warf, wo sie das Bewußtsein wiederfanden und schrien.« Der schöpfungsblinde Dichter aber vernehme »nichts als Lobgesang«.
Das war billiger Hohn. Denn in Wirklichkeit hatte Bergengruen lediglich seinen christlichen Glauben im Sinne Hiobs bekräftigt. Doch wie platt die Deutung auch sein mochte, sie erwies sich als Super-GAU für den Ruf des Dichters in Zirkeln, die von nun an den Ton angaben. Und Marcel Reich-Ranicki konnte 2008 »ex cathedra« den Fall abschließen: »Warum sollte man ihn immer wieder drucken? Und wozu sollte man seine verstaubten Werke immer wieder kommentieren?«
Viele dieser Angriffe beendeten schlagartig Literaturkarrieren, zumindest im Bewußtsein der sich neu formierenden Kulturelite. Verlage, Medien oder junge Leser wandten sich über kurz oder lang von ihnen ab. Die Attackierten wiederum befanden sich in einer verzwickten Lage. Wurden sie doch im Lauf der 1960er Jahre überrollt von einer Welle der Verständnisverweigerung und der Rechtfertigungserwartungen durch Jüngere, denen sie vieles nicht (mehr) richtig erklären konnten: etwa, daß es jenseits von Untergrund noch manchen Weg gab, Charakter zu zeigen und literarisches Niveau zu wahren, und daß man fürs schlichte Überleben als Schriftsteller zuweilen Kompromisse und Zweideutigkeiten in Kauf nahm, die (in einem bestimmten Rahmen) nicht zu tadeln sind. Sie hatten in Teilen widerstanden, waren aber in der Regel keine märtyrerhaft gesinnten Helden gewesen. Doch gerade nach solchen starken Vaterfiguren bestand ein Bedürfnis, und nur solche Idole allein hätten verhindert, daß die Daumen sich senkten.
Auch deshalb retuschierten manche ihre Lebensläufe ein wenig, übertrieben zuweilen das Maß an Opposition oder Gefährdung, vereindeutigten Camouflagen, vergaßen auch mal frühere Anfechtungen oder Veröffentlichungen, ergingen sich in verkrampften Apologien und erbrachten somit scheinbar selbst Belege für das nur Sogenannte ihrer dissidenten Existenz. Verdächtigte man sie zu Unrecht der NS-Sympathie oder Mitläuferschaft, reagierten sie ausfallend zum Beispiel gegenüber Exilantenkritik und schlossen so in ihrem Rechtfertigungsdrang den Teufelskreis der Mißverständnisse.
Hinzu kam ein bewußter Trend, den innerdeutschen Beitrag gegen Totalitarismus zu marginalisieren. Noch der leider zu früh verstorbenen Ricarda Huch war es ein wichtiges Anliegen gewesen, daran zu erinnern. Ihre Materialien und Hinweise inspirierten Günther Weisenborn zum Dokumentationsband der innerdeutschen Opposition: Der lautlose Aufstand (1953). Wo die Umerziehung jedoch vorwiegend auf die unbelastete Nachkriegsgeneration setzte, bestand wenig Interesse an einer Aufwertung dieser Autorengruppe, verglichen mit dem höher geschätzten Exil. Die ästhetische Einstufung folgte diesem Vorurteil.
Und so konnte etwa Reich-Ranicki, der kraft eigener Großmut bestenfalls Ehrenemigranten wie Erich Kästner gelten ließ, 1967 konstatieren, »daß die wesentlichen Werke in deutscher Sprache damals außerhalb Deutschlands geschrieben wurden.« Roma locuta causa finita? Mitnichten.