Alain de Benoist hat neulich in der Jungen Freiheit über das geschrieben, was er den neuen Antikolonialismus nennt. Er sieht die Kolonialisierungsprozesse, die historisch von Europa ausgegangen sind, wieder auf Europa zurückschlagen.
Die Vorstellung als solche ist nicht neu und drängt sich freilich auf: Schon in einer von Heiner Müllers Zukunftsvisionen arbeiten sich die Peripherien wie ein Mahlstrom durch die Zentren. »Nach der früheren Kolonialisierung geht es nun darum, durch Masseneinwanderung in umgekehrter Richtung zu kolonialisieren.« (1) Man kann hier in einem sehr weiten, eher symbolischen Sinn von Kolonialisierung sprechen, aber die Idee einer bloßen Richtungsumkehr trifft, so suggestiv sie auch ist, die aktuellen Abläufe nicht genau. Der Begriff deckt entscheidende Faktoren nicht ab. Wir haben es nicht mit einem »einfachen« Vorgang der Gegenkolonialisierung zu tun, was deutlich wird, wenn man einen Blick auf eine der gängigen Definitionen von »Kolonie«, »Kolonialisierung« und »Kolonialismus« wirft.
Bei Kolonien handelt es sich demnach um »im Zuge des Kolonialismus unterworfene meist überseeische Territorien, deren Eroberung meist eine zielgerichtete Form der Ausbeutung vorsah, wobei man Handels‑, Siedlungs- und Rohstoffkolonien unterscheidet«; bei Kolonialismus um eine »Politik des Erwerbs und der Ausbeutung auswärtiger, ›überseeischer‹ Gebiete i. d. Regel durch europäische Staaten. Kolonialismus beinhaltet die territoriale Machterweiterung eines Staates (Kolonialmacht) durch den Aufbau und die langfristig angelegte militärische, wirtschaftliche und/oder politische Kontrolle der unterworfenen Bevölkerung (Imperialismus).« (2) Demgegenüber bezeichnet Kolonialisierung »die Unterwerfung eines Territoriums einschließlich der dort lebenden Bevölkerung als Kolonie«.
Man erkennt sofort, daß der aktuelle Vorgang der Flutung europäischer Länder mit Migranten aus den unterschiedlichsten Weltgegenden damit kaum etwas gemein hat. Es fehlt der Aspekt der militärischen Eroberung, es fehlen der Aspekt der Machterweiterung durch einen Handlungsträger und jede Form von Aufbau oder Zielgerichtetheit. Ist die Kolonialmacht ein starkes und im eigenen Interesse handelndes Großsubjekt, so kann bei der derzeitigen Lage davon keine Rede sein.
Expansionswillige Staaten versuchen nicht, die europäischen Länder in Kolonien zu verwandeln, sondern deren Staatlichkeit wird durch die ungeregelte Zuwanderung unterspült und zersetzt. Dieser Prozeß scheint im wesentlichen subjektlos, auch wenn es einen mächtigen möglichen Profiteur (die USA) und mächtige Unterstützerinstitutionen gibt (EU, UNO). Die vielen einzelnen, die versuchen, davon zu profitieren, sind dagegen keine historischen Subjekte, sondern Objekte einer Politik, die ihnen die Gelegenheit dazu geboten und sie gleichzeitig ihrer Wurzeln beraubt hat.
Viel eher als um eine Gegenkolonisierung handelt es sich um einen Vorgang der Selbstkolonialisierung. Anders als beim »klassischen« Kolonialismus nimmt nicht eine bestimmte Macht ein Territorium in Anspruch; statt dessen strömen einfach »alle möglichen« Menschen herbei. Anstelle einer klar identifizierbaren, gewissermaßen »scharf konturierten« Kolonialmacht zeigt sich ein Gewirr unterschiedlicher Stränge an Interessen und »Mitbringseln« (Traditionen, Überzeugungen, Glauben, Küchen, Verwandtschaftsbeziehungen usw.).
Kolonialmächte hinterließen häufig materielle und immaterielle Spuren, etwa in der Infrastruktur der kolonialisierten Länder, in ihrem Bildungs- und Erziehungssystem, in der Weitergabe technischer Fertigkeiten, in der Etablierung einer Einzelsprachen überwölbenden Amtssprache usw. Der »klassische« Kolonialismus etablierte (wenn auch teilweise rigide und aus moralischer Sicht ungerechte) Formen administrativer und staatlicher Ordnung – europäische Länder dagegen werden durch die illegale Zuwanderung tendenziell destabilisiert. Ein Beispiel von vielen sind die Auseinandersetzungen zwischen Hindus und Moslems, die im September in Leicester stattfanden und zu deren Aufklärung eine Untersuchungskommission eingesetzt werden mußte.
Ethnische Verdrängung ist also keine Kolonisierung (was die Lage nicht besser macht): Im Gegenteil könnte man sagen, daß der Begriff diese chaotisch verlaufenden Ersetzungsprozesse unnötig aufwertet. So viel Unglück der Kolonialismus auch angerichtet hat, er stellt auch eine kollektive und institutionelle Leistung dar, was man von der ungeregelten Massenzuwanderung nicht behaupten kann.
Für die laufenden Vorgänge sollte daher eine neue Bezeichnung gefunden werden. Eine Zeitlang war der Begriff »fuzzy logic« (im Sinne von »unscharfer Logik«) in Mode, den sich das Feuilleton in der üblichen Weise aneignete, weil er zu irgendwelchen zeitgeistigen Konzepten zu passen schien. Ich schlage »Fuzzy Colonialism« vor – das ist nicht zu hundert Prozent ernst gemeint, aber um unübersichtliche Prozesse mit »unscharfen Rändern« handelt es sich jedenfalls. Und sie produzieren unerwartete potentielle Problemlagen.
Ein aktuelles Beispiel ist die Wahl des Inders Rishi Sunak zum britischen Premier. Man kann diese nicht sinnvoll als Beispiel für eine fortschreitende (Gegen)Kolonialisierung Großbritanniens beschreiben. Die Unterschiede liegen auf der Hand: Sunak tritt in eine bestehende Position in einem europäischen politischen System ein, die strukturell keine Veränderung dadurch erfährt. Es ist gut möglich, daß er britischer sein wird als die meisten Briten in dieser Position. Man kann sogar vermuten, daß britische Interessen bei ihm besser aufgehoben sein werden als bei einem indigenen Briten, weil ihm der ewige weiße Selbsthaß abgeht.
Wir haben es daher bei der Übernahme solcher Positionen auch nicht mit einer »Houellebecqschen Situation« zu tun, also dem in Unterwerfung geschilderten Fall der Umformung eines Staates durch eine (im Falle des Romans muslimische) Machtübernahme. Und Sunak ist damit nicht allein, denn auch andere Politiker indischer Herkunft zeigen sich als in einer Weise handfest, die einen einheimischen, vorsichtig gesprochen, in Verruf bringen würde.
Es gibt keinen Grund, an der Aufrichtigkeit dieser Haltung zu zweifeln. Und trotzdem lösen sich kulturelle Bruchlinien nicht in Rauch auf. »Mit Rishi Sunak ergibt sich theoretisch eine kuriose Konstellation in Britannien. Laut der ungeschriebenen Verfassung berät der Premier den König bei der Benennung von Bischöfen der Church of England. Ein Hindu wählt also künftig die christlichen anglikanischen Bischöfe auf der Insel aus? Erwartet wird, daß Sunak diese Aufgabe an den Vizepremier delegieren wird.« (3) Kolonialismus? Eher nein. Fuzzy? Ganz bestimmt.
Benoist geht zudem davon aus, daß »in Europa der Rückgriff auf die Kolonialität völlig ins Leere läuft, da die Kolonialisierung nur ein kurzes Intermezzo in der Geschichte der Europäer war, nämlich von den 1880er bis zu den 1960er Jahren«. Diese Annahme ist unverständlich bzw. sie wird nur verständlich, wenn man den unmittelbar folgenden Satz mitliest: »Was die Sklaverei betrifft, die von allen Völkern praktiziert wurde, so wurde sie nur von den Weißen abgeschafft; in vielen Ländern Schwarzafrikas und des Nahen Ostens wird sie hingegen noch heute praktiziert.«
Benoists Argumentation zielt damit angesichts der ausschließlich negativen Besetzung des Kolonialismus-Begriffs auf ein Herunterspielen seiner Bedeutung für die europäische Geschichte ab, wie der nachgeschobene Satz über die Sklaverei zeigt, der zwar inhaltlich richtig ist, aber hier eben nur apologetischen Zwecken dient. Das ist jedoch problematisch. Erstens ist der angesetzte Zeitraum unverständlich: Man läßt mit guten Gründen die Geschichte der Kolonialisierungen mit dem 15. , spätestens mit dem 16. Jahrhundert beginnen. Die koloniale Ausdehnung fällt mit der europäischen Erfolgsgeschichte der Neuzeit zusammen. Zweitens war es ebendiese Fähigkeit zur Expansion, die die Position Europas in den Augen der übrigen Welt definiert hatte.
Diese Sonderstellung ist zwar weitgehend Vergangenheit, aber: »Der ›postkoloniale‹ Kampf gegen die gefühlte Dominanz des ›Weißen‹ ist […] sehr verständlich, denn er gründet in der Tatsache, daß ›weiße‹ Praktiken, Objekte, Errungenschaften und Probleme die ganze Welt durchsetzt haben. Es gibt keine Kultur, die davon unberührt geblieben wäre, während das umgekehrt nicht gilt.« (4) Eine Machtposition, auch eine vergangene, läßt sich nicht leugnen und zum Verschwinden bringen. Das werden schon diejenigen, die von dem Verweis darauf und dem europäischen Masochismus profitieren, nicht zulassen.
Einen Präzedenzfall für die Vorwurfsorgien des Post / Antikolonialismusdiskurses schuf Edward Said (1935 – 2003) mit seinem Orientalism (1978). Der Begriff »Orientalismus« bezeichnet »den« europäischen Blick auf den Orient, den Said für so monolithisch hält, daß er ihn schon im 14. Jahrhundert (!) am Werk sieht. Er beschreibt ihn als herrschaftsorientierte Projektion, die er in Teilen auch ist. Aber eben in Teilen, nicht in Bausch und Bogen.
»For any European during the nineteenth century – and I think one can say this almost without qualification – Orientalism was […] a system of thruths, truths in Nietzsche’s sense of the word. It is therefore correct that every European, in what he could say about the Orient, was consequently a racist, an imperialist, and almost totally ethnocentric.« (5) (Für jeden Europäer des 19. Jahrhunderts – und ich meine, das kann man ziemlich ungeschützt so sagen – war Orientalismus ein System von Wahrheiten, von Wahrheiten, wie Nietzsche sie begriff. Daher trifft es zu, daß jeder Europäer, was auch immer er über den Orient äußerte, automatisch rassistisch, imperialistisch und nahezu ausnahmslos ethnozentrisch war.)
Das ist, ungeachtet der faszinierenden Quellen, die Said auffährt, absurd. Insbesondere der Vorwurf des flächendeckenden Ethnozentrismus ist mit postmoderner Blindheit geschlagen, denn der projektive Charakter der Wahrnehmung des Fremden ist alles andere als eine westliche Spezialität. Im Gegenteil ist die westliche Kultur wohl die einzige, die die Möglichkeit, die intellektuellen Mittel und den Willen entwickelt hat, aus dieser Projektion herauszutreten. »Es waren Europäer, die eine Institution schufen, die der Überwindung kulturell gebundener Vorlieben für das je Eigene und der Etablierung einer objektiven Sichtweise dienen sollte, eine Institution, in der selbstverständliche Hinsichtnahmen (›Vor-Urteile‹) in Frage gestellt und für Behauptungen Belege verlangt wurden, die einer kritischen Überprüfung standhalten mußten.« (6)
Diese Institution ist die Wissenschaft. Daß gerade die Geistes- und Sozialwissenschaften, insbesondere Geschichtswissenschaft und Ethnologie, diesen Anspruch allzu oft nicht einlösen konnten, macht die Zielstellung nicht weniger effektiv: Der Anspruch setzt eine Norm, die eingeklagt werden kann, was Wissensfortschritte durch ständige Selbstkorrektur möglich macht.
Saids Buch dient dem postkolonialen Lager bis heute als eine Standarte, um die sich diejenigen versammeln, die »europäisch« mit »schuldhaft« gleichsetzen möchten. Daß Saids Blick parteilich ist, würde ich ihm nicht übelnehmen wollen.
Es ist jedoch bezeichnend, daß, ebenso wie im Fall Homi K. Bhabhas (*1949, ebenfalls ein Vorreiter postkolonialer Studien), seine Anklagen gerade auf dem Weg über westliche Universitäten kanonischen Status erlangen konnten.
Das Problem liegt nicht in Saids Einseitigkeit, sondern eher darin, daß keine differenziertere Beobachtung annähernd soviel Aufmerksamkeit erzeugen konnte und daß ein entschiedener Gegenentwurf meines Wissens gar nicht vorliegt. Wer sich ein Bild vom Spiel der interethnischen Erwartungen, Urteile, Vorurteile und Ressentiments im allgemeinen machen will, der lese einstweilen statt Orientalism zwei andere Bücher: Frank Böckelmanns Die Gelben, die Schwarzen, die Weißen (7) und Die »Wilden« und die »Zivilisierten«. Grundzüge einer Geistes- und Kulturgeschichte der europäisch-überseeischen Begegnung des 2021 verstorbenen Schweizer Kolonialhistorikers Urs Bitterli. (8)
Böckelmanns 1998 erstmals erschienenes und damals von der Friedrich-Ebert-Stiftung ausgezeichnetes Buch dokumentiert auf amüsanteste Weise, wie sich Vertreter der genannten Gruppen gegenseitig wahrnehmen. Erwartungsgemäß sind die dort versammelten Beispiele von jeder Korrektheit kilometerweit entfernt und fallen Weiße nicht durch mehr »Rassismus« auf als gelbe oder schwarze Beobachter. Bitterli wiederum liefert eine differenzierte, reichhaltige und moralinfreie Schilderung der historischen Kulturzusammenstöße, die aufzeigt, wie früh und nachhaltig sich ein negatives und autoaggressives europäisches Selbstverständnis ausbildete.
Abschließend ist zu bemerken, daß ein Gegenbegriff zu »Orientalismus« schmerzlich fehlt. Eine programmatische Gegenperspektive zu Said und Co. ist nicht entwickelt worden – und für ihren Urheber im wissenschaftlichen Betrieb wäre ein solcher Versuch wohl auch einer Kamikaze-Aktion gleichgekommen. Um die Projektionen zu bezeichnen, die auf den »Westen«, auf Europäer und auf Weiße insgesamt angewandt werden, steht ein geeigneter Terminus noch aus. »Okzidentalismus« überzeugt mich nicht. Leservorschläge werden gerne und dankend zur Kenntnis genommen.
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(1) – Alain de Benoist :»Der neue Antikolonialismus. Jetzt in umgekehrter Richtung«, in: Junge Freiheit Nr. 37 vom 9. September 2022.
(2) – »Lemma ›Kolonialismus‹«, auf spektrum.de
(3) – Claudia Hansen: »Ein Hindu in der Downing Street«, in: Die Tagespost vom 3. November 2022.
(4) – Sophie Liebnitz: Antiweiß. Ein Kulturkampf, Schnellroda 2021 (= kaplaken, Bd. 77).
(5) – Edward Said: Orientalism. 25th Anniversary Edition. With an New Preface by the Author, New York 1994.
(6) – Liebnitz: Antiweiß.
(7) – Frankfurt a. M. 1998; erweiterte Neuauflage: Berlin 2018.
(8) – München 1982.