Fleischlos

von Simon Kießling -- PDF der Druckfassung aus Sezession 111/ Dezember 2022

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Neben der Mas­sen­mi­gra­ti­on, der Ener­gie­wen­de­po­li­tik und der LGBTQ-Agen­da ist der Vege­ta­ris­mus / Vega­nis­mus eines der mis­sio­na­risch auf­ge­la­de­nen, von glo­ba­len Eli­ten eif­rig ange­kur­bel­ten Uni­ver­sal­pro­jek­te unse­rer Zeit.

Die mas­si­ve Redu­zie­rung des welt­wei­ten Fleisch­kon­sums, die den Aus­stoß kli­ma­schäd­li­cher Gase ver­rin­gern und die Auf­hei­zung der Erde ein­däm­men soll, nimmt unter den Nach­hal­tig­keits­zie­len der diver­sen supra­na­tio­na­len Orga­ni­sa­tio­nen eine her­vor­ge­ho­be­ne Stel­lung ein. Längst geben sich auch die deut­schen Grü­nen nicht mehr mit einem Veggie­day pro Woche zufrieden.

In einem Posi­ti­ons­pa­pier vom 30. August 2022 stell­te die grü­ne Frak­ti­on in der Bre­mi­schen Bür­ger­schaft fest, daß »Ernäh­rung kei­ne Pri­vat­sa­che mehr« sei und daß neben die Ener­gie­wen­de eine »Ernäh­rungs­wen­de« tre­ten müs­se. Um sicher­zu­stel­len, daß der Ver­zehr von Eiern, Fleisch und Milch­pro­duk­ten mög­lichst zeit­nah um 75 Pro­zent zurück­geht, sol­len Men­sen, Kan­ti­nen und Weih­nacht­märk­te über Quo­ten­re­ge­lun­gen ver­pflich­tet wer­den, vor­wie­gend pflanz­li­che Kost bzw. fleisch­freie Nah­rung anzu­bie­ten. (1)

Dabei gibt es durch­aus gute und stich­hal­ti­ge Grün­de, die Fleisch­pro­duk­ti­on zurück­zu­schnei­den: Denn die Haltungs‑, Trans­port- und Schlach­tungs­ver­fah­ren, derer sich die inten­si­vier­te Vieh­wirt­schaft bedient, sind längst indus­tri­ell fabrik­mä­ßig durch­ge­tak­tet und bewir­ken eine rück­sichts­lo­se Ver­nut­zung tie­risch-krea­tür­li­chen Lebens. Und doch besitzt der groß­an­ge­leg­te, von mäch­ti­gen Ein­fluß­grup­pen bewor­be­ne und abver­lang­te Vege­ta­ris­mus / Vega­nis­mus noch eine wei­ter gehen­de, grö­ße­re gesell­schaft­lich-poli­ti­sche Dimension.

Was aber besagt es über unse­re Epo­che als geschicht­li­che Situa­ti­on, daß sie die Men­schen der fleisch­li­chen Nah­rung zu ent­wöh­nen und im gro­ßen Stil auf eine fleisch­lo­se, vege­ta­ri­sche / vega­ne Diät hin­zu­len­ken ver­sucht? Was steht über die Beschaf­fen­heit und den Cha­rak­ter einer künf­ti­gen Welt zu ver­mu­ten, in der der Neue Mensch sich pflanz­lich ernährt, um Kör­per und See­le zu hei­len und den Pla­ne­ten Erde zu ret­ten, wäh­rend der Fleisch­esser als der Alte Mensch für Leid und Umwelt­zer­stö­rung ver­ant­wort­lich zeich­net? Um die­sen Fra­gen nach­zu­ge­hen, wird zunächst ein kur­zer Abriß der Geschich­te des Vege­ta­ris­mus / Vega­nis­mus gegeben.

Die Geschich­te des Vege­ta­ris­mus im Wes­ten beginnt mit dem Vor­so­kra­ti­ker Pytha­go­ras (ca. 570 – 510 v. Chr.) und der von ihm initi­ier­ten Schu­le der Pytha­go­re­er. Als ers­ter euro­päi­scher Den­ker ver­tritt Pytha­go­ras die Theo­rie der Reinkar­na­ti­on, wonach die See­le nach dem Tode in tie­ri­scher oder mensch­li­cher Ver­kör­pe­rung eine neue phy­sisch-mate­ri­el­le Gestalt annimmt. Wer Tie­re tötet und ver­zehrt, mor­det eine mensch­li­che See­le, die in einem Tier­kör­per Zuflucht gesucht hat, und wird mit an Sicher­heit gren­zen­der Wahr­schein­lich­keit zum Kan­ni­ba­len. Pytha­go­ras zufol­ge stellt der Kos­mos eine alles Leben­di­ge ver­bin­den­de, nach mathe­ma­ti­schen Geset­zen auf­ge­bau­te und geord­ne­te, uni­ver­sal zusam­men­klin­gen­de Ein­heit dar.

Auch die mensch­li­che Lebens­welt ist dem­nach nicht durch demo­kra­ti­sche Dis­kur­se und Ent­schei­dungs­pro­zes­se der Polis­bür­ger, son­dern durch eine wis­sen­schaft­lich prä­zi­se Anwen­dung der rich­ti­gen Zah­len­ver­hält­nis­se ein­zu­rich­ten. Das stren­ge, pytha­go­rei­sche Ver­bot des Ver­zehrs nicht nur von Fleisch, son­dern auch von Boh­nen geht nach Spen­cer auf den Umstand zurück, »daß die Boh­ne bei Abstim­mun­gen als Wahl­mar­ke in Gebrauch war. Sich des Ver­zehrs von Boh­nen zu ent­hal­ten bezeich­ne­te inso­fern zugleich die Absicht, sich auch der Poli­tik kon­se­quent zu ent­hal­ten.« (2)

Epi­kur (341 – 271 v. Chr.) ist der Phi­lo­soph der See­len­ru­he, der inne­ren Frei­heit und der Selbst­ge­nüg­sam­keit. Statt auf äuße­re Ehren oder Reich­tü­mer kommt es ihm allein auf das indi­vi­du­el­le Bewußt­sein, die per­sön­li­chen Emp­fin­dun­gen an. Als höchs­te Lust gilt ihm ein Leben, das weit­ge­hend frei von kör­per­li­chen Schmer­zen und see­li­schen Beun­ru­hi­gun­gen bleibt. Dabei ist der ein­zel­ne nicht wie im klas­si­schen grie­chi­schen Staats­ver­ständ­nis der Polis unter­ge­ord­net und auf deren Zwe­cke und Anfor­de­run­gen aus­ge­rich­tet, son­dern in ers­ter Linie als auto­no­mes Sub­jekt kon­sti­tu­iert. Epi­kur zieht sich aus der Stadt in den »Gar­ten« zurück, um abseits des Getrie­bes ein »Leben im Ver­bor­ge­nen« im Krei­se von Freun­den zu füh­ren, die sich der Staats­ge­schäf­te bewußt ent­hal­ten. Dort hält man eine mage­re, pflanz­lich-natür­li­che Diät aus Cerea­li­en, Brot, Gemü­se, Nüs­sen, Was­ser und Obst, die die Lei­den­schaf­ten dämpft und der Selbst­be­schei­dung för­der­lich ist.

Ovid und der Dich­ter­kreis des frü­hen Kai­ser­rei­ches prei­sen das Ide­al eines ein­fa­chen Lie­bes- und Lebens­glücks in idyl­li­scher, heil­sa­mer Natur, wo indi­vi­du­el­le Frei­heit und ero­ti­sche Erfül­lung mehr als der alt­rö­mi­sche, rigi­de mos mai­orum gel­ten. Nach dem Unter­gang der Repu­blik und der Errich­tung des Prin­zi­pats hört das öffent­lich-poli­ti­sche Leben auf, die Ener­gien der Bür­ger zu absor­bie­ren; das alte Pri­mat eines Lebens im Diens­te des Staa­tes ent­fällt; an sei­ne Stel­le tre­ten die Ver­gnü­gun­gen der »Ars ­ama­to­ria«. Aus Mythen und Sagen schöp­fend, erwächst unter dem Schirm des Augus­tus ein Gol­de­nes Zeit­al­ter, das der Lie­be, den Musen und der Kunst gewid­met ist.

In die­ser Ära der Huma­ni­tät, der Zivi­li­sa­ti­on und des uni­ver­sa­len Frie­dens ist kein Platz mehr für das Töten und Ver­spei­sen der Mit­ge­schöp­fe, die der Mord­lust und den Krie­gen zugrun­de lie­gen: »Laßt, ihr Sterb­li­chen ab, durch frev­li­ge Spei­se die Lei­ber euch zu ent­wei­hen. […] Gaben in Fül­le beschert die ver­schwen­de­ri­sche Erde zu mil­der Natur und Kost, die Blut nicht hei­schet und Tötung. Welch ein ver­mes­se­nes Tun im Flei­sche das Fleisch zu ver­sen­ken und den begehr­li­chen Leib mit ver­schlun­ge­nem Lei­be zu ­mäs­ten.« (3)

Die Katha­rer sind die bedeu­tends­te Ket­zer­be­we­gung des Mit­tel­al­ters, die sich zwi­schen dem 11. und 13. Jahr­hun­dert vor allem in Süd­frank­reich, aber auch in Nord­ita­li­en vor­über­ge­hend eta­bliert. Sie ver­tre­ten einen radi­ka­len Dua­lis­mus, der alles Irdisch-Mate­ri­el­le für unrein erach­tet. Wäh­rend das Reich des Geis­tig-Intel­li­gi­blen von einem güti­gen Schöp­fer­gott erschaf­fen wur­de, hat sich ein böses Prin­zip in die kör­per­lich-mate­ri­el­le Welt gegos­sen. Die Katha­rer leh­nen die Welt, ihre Ein­rich­tun­gen (Eigen­tum, Ehe, Staat) und alle irdi­schen Ver­gnü­gun­gen ab. Statt an der Welt teil­ha­ben zu wol­len, nimmt man eine pas­siv-feind­se­li­ge Hal­tung ihr gegen­über ein und zieht sich in ein Leben in Armut zurück, das dem Gebet, der Aske­se und der For­de­rung gewid­met ist, den »Erwähl­ten« oder »Voll­kom­me­nen« unbe­ding­ten Gehor­sam zu leisten.

Zen­tral ist die Ableh­nung der Sexua­li­tät, kommt durch die Zeu­gung doch eine neue Kör­per­lich­keit und Mate­ria­li­tät in die Welt. Dar­aus lei­ten sich stren­ge Spei­se­vor­schrif­ten ab: Fleisch­li­che Nah­rung sowie über­haupt alles, was von der Fort­pflan­zung und Ver­bin­dung der Geschlech­ter her­rührt, ist kon­se­quent zu mei­den. Jedes Mal, wenn der Mensch fleisch­li­che Nah­rung zu sich nimmt, ver­stärkt er die kör­per­lich-mate­ri­el­len Antei­le in sich und wirkt sei­ner intrin­si­schen Bestim­mung ent­ge­gen, sich aus der Gefan­gen­schaft der Mate­rie in das Reich der Geis­tig­keit (Imma­te­ria­li­tät und Kör­per­lo­sig­keit) zu erheben.

Die Fabi­an Socie­ty ist die ein­fluß­reichs­te poli­tisch-intel­lek­tu­el­le Denk­fa­brik im spät- und nach­vik­to­ria­ni­schen Eng­land; sie ver­tritt eine auto­ri­tä­re Ver­si­on des Sozia­lis­mus von oben, der nicht an die Selbst­or­ga­ni­sa­ti­on der Mas­sen appel­liert, son­dern von einer exper­to­kra­ti­schen Eli­te gelei­tet wer­den soll, die an die wis­sen­schaft­li­che Metho­de glaubt. Geor­ge Ber­nard Shaw, die her­aus­ra­gen­de Gestalt der Fabier, ver­traut nicht dem par­la­men­ta­ri­schen Sys­tem, das er als eine Ver­an­stal­tung der Phra­seo­lo­gie und des lee­ren Gere­des abtut.

Statt des Klas­sen­kamp­fes und der Revo­lu­ti­on von unten im Marx­schen Sin­ne soll es den star­ken, zu Über­men­schen ver­klär­ten Per­sön­lich­kei­ten oblie­gen, den Staat nach Grund­sät­zen der Ratio­na­li­tät zu len­ken und ein Zeit­al­ter der Gewalt­lo­sig­keit ein­zu­läu­ten, das sich der fleisch­li­chen Nah­rung ent­hält. Erst eine vege­ta­risch / vegan gewor­de­ne Zivi­li­sa­ti­on wird jenes Reich der Mode­ra­ti­on, der Ver­stän­dig­keit und der wohl­ge­ord­ne­ten, fried­li­chen Zusam­men­ar­beit ent­ste­hen las­sen, das der poli­tisch gewen­de­te Puri­ta­nis­mus Shaws und der Fabier imaginiert.

In den Jah­ren vor dem Ers­ten Welt­krieg wird der Mon­te Veri­tà zum Sied­lungs- und Wall­fahrts­ort für Lebens­re­for­mer und »Natur­men­schen« aus allen Tei­len Euro­pas. Das freie­re, gesün­de­re, natur­na­he, spi­ri­tu­el­le Leben, das die Aus­stei­ger erstre­ben, umfaßt ins­be­son­de­re eine streng »vege­ta­bi­le« Ernäh­rung. Das »nur dem Augen­blick geweih­te, selbst­ge­nüg­sa­me Leben« der »Ver­kün­der einer neu­en Zeit« kop­pelt sich von der Vor­stel­lung ab, Teil eines poli­tisch agie­ren­den Ver­ban­des zu sein. Das Dasein in ursprüng­li­cher Sinn­lich­keit und Nackt­heit ist ahis­to­risch-apo­li­tisch als eine Exis­tenz ohne Geset­ze, poli­ti­sche Kör­per­schaf­ten oder Auto­ri­tä­ten angelegt.

Der Fokus auf das sub­jek­ti­ve Bewußt­sein, die per­sön­li­che Auto­no­mie und ein Leben in Über­ein­stim­mung mit sich selbst bie­tet kei­nen Raum mehr für die alten, gemein­schafts­bil­den­den Zusam­men­hän­ge des ­Staa­tes und der Nati­on. Dabei wirkt sich der radi­ka­le Indi­vi­dua­lis­mus bis in die Speise­praxis aus: »Neben der Redu­zie­rung des Zube­rei­tungs­auf­wands bie­tet die vege­ta­ri­sche bzw. vega­ne Küche noch einen wei­te­ren gro­ßen Vor­teil: die Mög­lich­keit der Indi­vi­dua­li­sie­rung der Nah­rungs­auf­nah­me. Schlich­ter gesagt, gemein­sa­me Mahl­zei­ten wer­den über­flüs­sig. Wo Kochen nicht mehr heißt, kom­ple­xe Menü­fol­gen zu kom­po­nie­ren, und Essen nicht mehr dar­in besteht, die­se in vor­ge­setz­ter Zusam­men­set­zung und Rei­hen­fol­ge zu kon­su­mie­ren, ent­fällt auch die Not­wen­dig­keit, zur sel­ben Zeit am sel­ben Tisch zu sit­zen.« (4)

In Mensch und Tech­nik (1931) notiert Oswald Speng­ler über den Unter­schied zwi­schen den pflan­zen­fres­sen­den und den fleisch­fres­sen­den Tie­ren: »Ein Pflan­zen­fres­ser ist sei­nem Schick­sal nach ein Beu­te­tier und sucht sich die­sem Ver­häng­nis durch kampf­lo­se Flucht zu ent­zie­hen. Ein Raub­tier macht Beu­te. Das eine Leben ist in sei­nem inners­ten Wesen defen­siv, das ande­re ist offen­siv […]. Die höhe­ren Pflan­zen­fres­ser wer­den neben dem Gehör vor allem durch die Wit­te­rung beherrscht, die höhe­ren Raub­tie­re aber herr­schen durch das Auge. Die Wit­te­rung ist der eigent­li­che Sinn der Ver­tei­di­gung. Das Auge der Raub­tie­re aber gibt ein Ziel. Schon dadurch, daß die Augen­paa­re der gro­ßen Raub­tie­re wie beim Men­schen auf einen Punkt der Umge­bung fixiert wer­den kön­nen, gelingt es, das Beu­te­tier zu ban­nen. […] Das Welt­bild ist die vom Auge beherrsch­te Umwelt. Ein unend­li­ches Macht­ge­fühl liegt in die­sem wei­ten ruhi­gen Blick.« (5)

Nun wäre es mit Sicher­heit zu ein­fach, aus den Speng­ler­schen Unter­schei­dun­gen zu schlie­ßen, daß die Kar­ni­vo­ren unter den Men­schen beru­fen sind, Herr­schaft aus­zu­üben, wäh­rend es den Her­bi­vo­ren zukommt, sich zu unter­wer­fen und beherr­schen zu las­sen. Und doch fällt auf, daß die geschicht­lich her­vor­ge­tre­te­nen Groß­vor­ha­ben des Vege­ta­ris­mus / Vega­nis­mus ein durch­gän­gig poli­tik­fer­nes Moment auf­wei­sen. Sie wen­den sich von den Ein­rich­tun­gen des bür­ger­schaft­lich ver­faß­ten Staa­tes expli­zit ab. Ihnen man­gelt die Bereit­schaft, sich im Modus des Poli­ti­schen aktiv beja­hend auf die Welt zu beziehen.

Statt die­ser als spre­chend und han­delnd zusam­men­wir­ken­des Kol­lek­tiv den Stem­pel auf­drü­cken und das Gesetz vor­schrei­ben zu wol­len, nei­gen sie dazu, sich aus der Welt zurück­zu­zie­hen und eine ver­nei­nen­de Hal­tung ihr gegen­über ein­zu­neh­men. Ihnen geht es weni­ger dar­um, Macht zu ent­fal­ten, die aus dem Zusam­men­wir­ken der Bür­ger im öffent­lich-poli­ti­schen Raum ent­steht, um sich in der Rea­li­tät der Welt zu behaup­ten und sie for­ma­tiv zu gestal­ten. Sie ver­ste­hen sich dezi­diert nicht als eine poli­ti­sche, in der über­lie­fer­ten (staat­lich-volk­li­chen) Geschich­te ste­hen­de und han­deln­de Einheit.

In der Tat deu­tet vie­les dar­auf hin, daß zwi­schen der Pra­xis des Fleisch­ver­zehrs und der Her­aus­bil­dung eines genu­in poli­ti­schen Rau­mes ein enger Kon­nex besteht. Mit Blick auf die stein­zeit­li­chen Jäger- und Samm­ler­ge­sell­schaf­ten stellt Colin Spen­cer fest, daß »der Ver­zehr von Fleisch eine Kon­ven­ti­on, ein Teil der Struk­tur des gesell­schaft­li­chen Lebens wur­de, an die Spit­ze der Ver­zehr­pra­xis trat und als fei­er­lich began­ge­ne Mahl­zeit von Dog­men und Ritua­len umge­ben war. […] Jäger- und Samm­ler­ge­sell­schaf­ten tei­len durch­weg das Fleisch mit allen Mit­glie­dern der Grup­pe, nicht jedoch die pflanz­li­che Nah­rung, die anschei­nend nur von den­je­ni­gen ver­zehrt wird, die sie auch gesam­melt haben.« (6)

Der kol­lek­ti­ve Ver­zehr von Fleisch ist dem­nach für die Bil­dung einer poli­ti­schen Gemein­schaft kon­sti­tu­tiv. Der stein­zeit­li­che Jäger- und Samm­ler­ver­band, der am Feu­er zusam­men­kommt und das gemein­sam gejag­te Tier ver­zehrt, ist gewis­ser­ma­ßen die Urform der Polis. Die Sor­ge um den Zusam­men­halt der Grup­pe, die Aus­spra­che über ihre Belan­ge, die Gewäh­rung von Schutz, die Eta­blie­rung gemein­schafts­bil­den­der Kul­tur­prak­ti­ken, die Aus­bil­dung von Hier­ar­chien und die For­mie­rung kol­lek­ti­ver Macht hän­gen unmit­tel­bar mit der Zutei­lung der Res­sour­ce Fleisch (als Ursi­tua­ti­on) zusam­men. Die kol­lek­tiv-pro­gram­ma­ti­sche Abkehr vom Fleisch­kon­sum stellt inso­fern einen sub­ver­si­ven Angriff auf den Bestand des Poli­ti­schen, der Staat­lich­keit über­haupt dar.

Die heu­ti­ge, groß­an­ge­leg­te Hin­len­kung auf den Vege­ta­ris­mus / Vega­nis­mus reprä­sen­tiert ein Indiz, daß die Kraft der über­lie­fer­ten poli­ti­schen Ver­ge­mein­schaf­tung schwin­det. Sie deu­tet dar­auf hin, daß der Staat als For­mat der bür­ger­schaft­li­chen Selbst­re­gie­rung durch Aus­spra­che, Dis­kurs und Unter­re­dung an Auto­ri­tät ver­liert. Das Welt­bild des Vege­ta­ris­mus / Vega­nis­mus geht seit jeher von einer (kos­mi­schen) Ver­floch­ten­heit alles Leben­di­gen aus. Die­ses bil­det eine har­mo­ni­sche Ein­heit, in der für ein­zel­ne, eth­nisch-ter­ri­to­ri­al begrenz­te, ihre Geschi­cke im Wege der Unter­re­dung aus­han­deln­de Son­der­ge­mein­schaf­ten kein Bedarf mehr besteht. Inso­fern in der Den­kungs­art des Vege­ta­ris­mus / Vega­nis­mus alle beseel­ten Lebe­we­sen Teil eines fried­lich ein­träch­ti­gen Gan­zen sind, ent­fällt jene ele­men­ta­re Unter­schei­dung zwi­schen Freund und Feind, ohne die nach Carl Schmitt der Begriff und die Sphä­re des Poli­ti­schen kei­nen Sinn ergeben.

In die­sem Zusam­men­hang wich­tig ist zudem der Hin­weis Speng­lers auf die spe­zi­fi­sche, »per­spek­ti­vi­sche« Form des Welt­be­zugs, die aus der für die fleisch­fres­sen­den Tie­re typi­schen »Art des Sehens« erwächst: »Das Fixie­ren der nach vorn und par­al­lel gerich­te­ten Augen ist aber gleich­be­deu­tend mit dem Ent­ste­hen der Welt in dem Sin­ne, wie der Mensch sie hat, als Welt vor sei­nen Bli­cken, als Welt nicht nur des Lichts und der Far­ben, son­dern vor allem der per­spek­ti­vi­schen Ent­fer­nung, des Rau­mes und der in ihm statt­fin­den­den Bewe­gung. […] Pflan­zen­fres­ser, z. B. Huf­tie­re, haben dage­gen seit­wärts gerich­te­te Augen, von denen jedes einen ande­ren, unper­spek­ti­vi­schen Ein­druck hat.« (7)

Auf die ent­schei­den­de Bedeu­tung der Per­spek­ti­ve für die Kon­sti­tu­ti­on eines öffent­li­chen Rau­mes weist auch ­Han­nah Are­ndt in ihrem theo­re­ti­schen Haupt­werk Vita acti­va oder Vom täti­gen Leben hin: Are­ndt hebt auf die Plu­ra­li­tät der Anschau­un­gen ab, ohne die ein poli­ti­scher Raum sui gene­ris sich nicht bil­den kann. Ein öffent­li­cher Dis­kurs kann nur ent­ste­hen, wenn die Men­schen die Welt aus unter­schied­li­chen Blick­win­keln betrach­ten und folg­lich genö­tigt sind, sich han­delnd und spre­chend über die Wirk­lich­keit der gemein­sa­men Welt zu ver­stän­di­gen: »Die Wirk­lich­keit des öffent­li­chen Rau­mes erwächst aus der gleich­zei­ti­gen Anwe­sen­heit zahl­lo­ser Aspek­te und Per­spek­ti­ven, in denen ein Gemein­sa­mes sich prä­sen­tiert, und für die es kei­nen gemein­sa­men Maß­stab und kei­nen Gene­ral­nen­ner je geben kann. […] Nur wo Din­ge, ohne ihre Iden­ti­tät zu ver­lie­ren, von Vie­len in einer Viel­falt von Per­spek­ti­ven erblickt wer­den, so daß die um sie Ver­sam­mel­ten wis­sen, daß ein Sel­bes sich ihnen in äußers­ter Ver­schie­den­heit dar­bie­tet, kann welt­li­che Wirk­lich­keit eigent­lich und zuver­läs­sig in Erschei­nung tre­ten. […] Eine gemein­sa­me Welt ver­schwin­det, wenn sie nur noch unter einem Aspekt gese­hen wird; sie exis­tiert über­haupt nur in der Viel­falt ihrer Per­spek­ti­ven.« (8)

So kommt es nicht von unge­fähr, daß die geschicht­lich wirk­sam gewor­de­nen Kol­lek­ti­v­er­schei­nun­gen des Vege­ta­ris­mus / Vega­nis­mus expli­zit unper­spek­ti­visch ange­legt sind und inso­fern der her­bi­vo­ri­schen »Art des Sehens« ent­spre­chen. Anstel­le der Viel­falt der Per­spek­ti­ven ist es bei ihnen stets nur ein Prin­zip – die Har­mo­nie der Zah­len und Zah­len­ver­hält­nis­se, die Kraft der Wis­sen­schaft, die Weis­heit der Erwähl­ten, der Wil­le des Prin­ceps, die Herr­schaft der Exper­ten –, das über die Geschi­cke der Men­schen bestimmt.

Auch eine künf­ti­ge glo­ba­le Gesell­schaft, die den Vege­ta­ris­mus / Vega­nis­mus als ver­pflich­ten­den Kol­lek­tiv­stan­dard durch­setzt, wäre dem­nach nicht mehr per­spek­ti­visch und plu­ral, son­dern gleich­ge­rich­tet har­mo­nisch struk­tu­riert: eine ein­heit­lich ver­faß­te, uni­ver­sa­le Ord­nung, die nicht mehr aus man­nig­fal­ti­gen poli­ti­schen Ein­zel­ge­bil­den besteht und eine Viel­falt der ­Anschau­un­gen nicht län­ger kennt. Es wäre eine uni­ver­sa­le, Kon­for­mi­tät erhei­schen­de Welt, die nur noch einem Herrn gehorcht, in der ein Aus­tausch der Anschau­un­gen und Gedan­ken unnö­tig gewor­den ist, weil nur noch eine legi­ti­me Mei­nung exis­tiert und man rei­nen Gewis­sens eine gemein­sa­me, all­seits für mora­lisch rich­tig erach­te­te Linie verfolgt.

– – –

(1) – »Grü­ne: Bre­mer sol­len sich vegan ernäh­ren«, auf jungefreiheit.de, 31. August 2022.

(2) – Colin Spen­cer: Vege­ta­ria­nism. A Histo­ry, Lon­don 2016, S. 48.

(3) – Ovid: Meta­mor­pho­sen, Liber XV, 75 – 85.

(4) – Ste­fan Boll­mann: Mon­te Veri­tà. 1900 – der Traum vom alter­na­ti­ven Leben beginnt, Mün­chen 2019, S. 133.

(5) – Oswald Speng­ler: Der Mensch und die Tech­nik. Bei­trag zu einer Phi­lo­so­phie des Lebens, Ber­lin 2016, S. 11 f.

(6) – Ebd., S. 31.

(7) – Ebd., S. 12.

(8) – Han­nah Are­ndt: Vita ­acti­va oder Vom täti­gen ­Leben, Mün­chen 1967, S. 56 f.

 

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