Der Terminus der »Querfront« feiert in der Konvergenz der Krisen, die wir derzeit erleben, Hochkonjunktur: Demonstranten, Politiker und Autoren unterschiedlicher politischer Provenienz werden mit diesem Stempel markiert.
Evident erscheint, daß die Einstufung als »Querfront« in der Regel keiner Eigenbezeichnung entspricht. Das Etikett stammt vom politischen Gegner, um Phänomene zu klassifizieren und angreifbar zu machen, bei denen die altbewährte politische Topographie überfordert bzw. nicht anwendbar ist: Wenn heute die »Nachdenkseiten« um Albrecht Müller, Compact um Jürgen Elsässer, das Grüppchen »Aufstehen« um Sahra Wagenknecht, der Demokratische Widerstand um Anselm Lenz oder gar die »Neue Rechte« als Ganzes unisono für »Querfront« gehalten werden, verdeutlicht das die Problematik.
Denn wenn alle diese Akteure »Querfront« sind, bleibt der Begriff inhaltsleer. Er verkommt zur Waffe des linksliberalen Mainstreams, um sich mit den Inhalten der Geschmähten nicht auseinandersetzen zu müssen. Mit »Querfrontern« spricht man nicht; man ächtet sie im Rahmen des entgrenzten »Kampfes gegen rechts«, indem man sie in den nebulösen Komplex »Rechtsextremismus« eingemeindet.
Man muß auf diesem Terrain von einem regelrechten Verfall einer Begrifflichkeit sprechen, da »Querfront« nicht immer diese inhaltslose Phrase gewesen ist. Hierfür empfiehlt es sich, die historischen Urgründe der Theorie und der Praxis von »Querfront«-Bestrebungen näher anzusehen (das wird ausführlicher im kaplaken-Band Querfront von 2017 versucht). Diese Urgründe liegen in den Trümmern der Weimarer Republik, als Gewerkschaften, Militärs und der antikapitalistische Flügel der NSDAP Ende 1932 versuchten, eine Kanzlerschaft Adolf Hitlers und dessen Zusammengehen mit der feudalen und großindustriellen »Reaktion« durch ein quer zu den Fronten liegendes Bündnis zu stoppen.
Bekanntgeworden als die historische Querfront-Konzeption ist demzufolge besagter Versuchsballon vor exakt 90 Jahren. Wenn heute Lebende dies als reine Taktiererei innerhalb radikalrechter Kreise interpretieren, unterschätzen sie die Sprengkraft dieser avisierten Querfront, deren Versuch der bundesdeutsche Historiker Axel Schildt in einem Essay über »Militärische Ratio und Integration der Gewerkschaften« (1986) als »eines der spektakulärsten Kapitel dieser von allerlei Geheimdiplomatie gesättigten Zeit« bezeichnet hat.
Zusammenfassen läßt sich die Lage im Sommer und Herbst 1932 mit dem Ziel Kurt von Schleichers und der Reichswehrführung, dem Mehrheitsflügel der NSDAP unter Hitler, Goebbels und Göring die Macht im Staate zu verweigern und ihnen einen relevanten Teil ihrer Basis zu entziehen. Da deren Partei bereits ein nicht zu negierender Faktor im politischen System geworden war, versuchte man, aus der nationalsozialistischen Bewegung heraus den verbliebenen »linken« Flügel um Gregor Strasser – der originäre linke Flügel um dessen Bruder Otto Strasser war bereits im Juli 1930 ausgetreten (»Die Sozialisten verlassen die NSDAP«) – von der Partei zu lösen, um mit der Reichswehr und kooperationsbereiten Gewerkschaftern eine quer zu den alten politischen Strukturen verlaufende »Front« zu formieren.
An der Bereitschaft des Heeres und relevanter NS-Linker bestand weniger Zweifel als an jener der Gewerkschaften. Diese waren mit sozialistischen Parteien verbandelt und sollten aus diesem Bündniszwang befreit werden. Insbesondere Carl Rothe, ein Aktivposten aus dem an Carl Schmitt und Werner Sombart geschulten »Tatkreis«, erarbeitete die programmatischen Querfront-Konturen in seiner Schrift Die Front der Gewerkschaften (Jena 1932), regelmäßig zudem in der Zeitschrift des Kreises, Die Tat. Sie war eine der bedeutendsten politischen Periodika der Weimarer Republik und arbeitete systematisch an einer Rechts-links-Synthese – mithin an einer ideellen Querfront.
Die Tat, bereits 1909 von Nietzscheanern gegründet, wurde 1929 von Hans Zehrer übernommen. Um sie herum formierte sich ebenjener »Tatkreis«, als dessen bekannteste Akteure Zehrer selbst, Ferdinand Fried und Giselher Wirsing galten. Sie arbeiteten am Ausbau eines generationsspezifischen Bewußtseins, aus dem heraus die konservativ-revolutionäre Transformation der Verhältnisse folgen sollte. Man unterhielt in alle relevanten Milieus rechts und links persönliche Kontakte, befürwortete die Querfrontidee Kurt von Schleichers und Gregor Strassers und erarbeitete in kohärenter Art und Weise einen konservativen »nationalen Sozialismus« ohne den Rassenmaterialismus und die biologistische Verstiegenheit der Hitler-Leute. So wurde man zum »Sammelplatz der jüngeren nationalen Bewegung« (Ernst Robert Curtius) und erreichte im Herbst 1932 – dem Höhepunkt der Querfront-Idee – die Auflagenhöchstzahl von 30 000 Exemplaren.
In dieser Phase bestand das zentrale Ziel der Tat in einer Entkopplung der so starken wie heterogenen Gewerkschaftsbewegung von SPD, KPD und Co. Denn ohne Mitwirkung der in den Gewerkschaften organisierten Arbeiterschaft wäre das »von oben« konzipierte Bündnis aus Tatkreis, NS-Linken und Reichswehrführung ein Rechtsbündnis geblieben. In diesem Sinne zielten zahlreiche publizierte Überlegungen der Tatkreis-Protagonisten darauf ab, Widersprüche in der Arbeiterbewegung zu analysieren und durch korporative Ideen Brücken zu den mit den linken Arbeiterparteien Unzufriedenen zu bauen. Der bereits erwähnte Axel Schildt weist darauf hin, daß die Avancen, die in Richtung der Gewerkschaften formuliert wurden und die im künftigen Staate selbst das Streikrecht und weitere essentielle Gewerkschaftsforderungen aufgegriffen hätten, »durchaus ehrlich gemeint« gewesen sind – also keineswegs bloßer Taktik respektive »faschistischer« Demagogie entsprachen.
Zupasse kam Rothe, Strasser und Co., daß insbesondere der Allgemeine Deutsche Gewerkschaftsbund (ADGB) politisch zerstritten war und daß Millionen Arbeiter ihre Führung als gespalten und ziellos wahrnahmen. Gesprächsversuche von »rechts« wurden im ADGB dabei insbesondere von jungen Arbeiterkadern goutiert. Gewerkschaftsfunktionäre und die Linke in der NSDAP trafen sich in der Ideenmixtur aus Nationalismus und Sozialismus; die Reichswehr witterte vor allem Chancen auf eine massenbasierte Rechts-links-Verknüpfung bei Ausschaltung Hitlers und Thälmanns gleichermaßen und auf eine prägende Rolle ihrer eigenen Spitze.
Es waren dann aber die Akteure des Tatkreises, die, da sie in beide Richtungen vernetzt waren, für Treffen zwischen ADGB-Führern und Gregor Strasser sorgten. Hervorzuheben sind etwa Sondierungsgespräche am 30. Juli und am 9. September 1932, als Strasser und ADGB-Kader in wesentlichen Fragen übereinkamen. Kurz darauf kursierte das Gerücht, es gebe fertige Ministerlisten eines Kabinetts aus Reichswehrgrößen (um Kurt von Schleicher), Gewerkschaftern (um Theodor Leipart) und NS-Linken (um Gregor Strasser). Neben dieser personellen Einigung gab es auch inhaltlich Kongruenzen: Hervorzuheben ist die »Bernauer Rede« Leiparts (14. Oktober 1932), die eine Mischung aus Staats- und Militärbejahung, Sozialismus und Nationalismus beinhaltete.
Allerdings nahm ob dieser offenkundigen Annäherung der Druck des linken Gewerkschaftsflügels sowie der SPD-Loyalisten deutlich zu; Leipart wollte nun nur noch dann mit Strasser zusammengehen, wenn auch die SPD-Wehrverbände des Reichsbanners mitmischten. Zur allgemeinen Überraschung gelang es Leipart, im Reichsbanner Zustimmung zur Kanzlerschaft Schleichers zu gewinnen, und Ende 1932 sprachen sich die Gewerkschaften offiziell für Schleicher aus, während nur wenige SPD-Politiker protestierten.
Daß es trotz dieser verblüffenden Bereitschaft von links dann keine real existierende Querfront gab, lag schlicht daran, daß Hitler von Strassers Bemühungen erfuhr und ihn innerhalb der NSDAP in kürzester Zeit als »Verräter« zu isolieren verstand; ein Funktionär nach dem anderen trennte sich von ihm. Der überrumpelte Strasser wählte hierbei nicht den Weg in die (letzte) Offensive, wie es sein Bruder Otto und antihitleristische Rechtskräfte befürworteten, sondern wich ein wenig zu schockiert über die Vehemenz der Anfeindungen zurück. Er kündigte prompt seinen Rückzug ins Privatleben an.
Diese Führungsschwäche im Moment der potentiellen Entscheidung hinterließ die genuinen Querfront-Befürworter im luftleeren Raum und versetzte der Sache den Todesstoß. Hitler verzieh ihm die Sondierungen mit Schleicher und den Gewerkschaftern freilich nicht; am 30. Juni 1934 wurde Strasser liquidiert. Der Querfront-Begriff überlebte ihn zwar, wird heute aber meist in anderem Sinne genutzt. Auch dies: eine totale Niederlage.