Vor 100 Jahren wurde die UdSSR formiert

von Erik Lommatzsch -- PDF der Druckfassung aus Sezession 111/ Dezember 2022

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Gro­ße Fei­er- und Gedenk­ta­ge in der Sowjet­union wur­den zur Erin­ne­rung an die Okto­ber­re­vo­lu­ti­on 1917 oder spä­ter anläß­lich des Sie­ges im Zwei­ten Welt­krieg 1945 zele­briert, letz­te­rer wird bis heu­te begangen.

Der Grün­dungs­tag des Staa­tes, der »Uni­on der Sozia­lis­ti­schen Sowjet­re­pu­bli­ken«, hin­ge­gen spiel­te im öffent­li­chen Gedächt­nis eine nach­ge­ord­ne­te Rol­le. Mag sein, daß die Vor­gän­ge des 30. Dezem­ber 1922 zu wenig Poten­ti­al für eine publi­kums­wirk­sa­me und hel­den­schwe­re Prä­sen­ta­ti­on im Diens­te der Iden­ti­fi­ka­ti­on mit dem sozia­lis­ti­schen Staat bereit hiel­ten, den­noch beginnt die Geschich­te der UdSSR for­mell mit die­sem Tag und nicht bereits 1917, wie gern und erfolg­reich sug­ge­riert wurde.

Zunächst han­del­te es sich um vier »Sozia­lis­ti­sche Sowjet­re­pu­bli­ken«, die sich zur Uni­on zusam­men­schlos­sen – Ruß­land, die Ukrai­ne, Weiß­ruß­land sowie die Trans­kau­ka­si­sche Föde­ra­ti­on, bestehend aus Aser­bai­dschan, Arme­ni­en und ­Geor­gi­en. Spitz­fin­di­ge wei­sen gern dar­auf hin, daß bereits der Name des Staats­ge­bil­des – Sowjet­uni­on – von Anfang an im Wider­spruch zu sei­ner Ver­faßt­heit stand, denn nicht basis­de­mo­kra­ti­sche Räte, Sowjets, waren bestim­mend, son­dern allein die Spit­zen der Kom­mu­nis­ti­schen Partei.

Uni­ons­re­pu­bli­ken wie Usbe­ki­stan, Turk­me­ni­stan, Tadschi­ki­stan und Kir­gi­stan kamen bald hin­zu, Umstruk­tu­rie­run­gen fan­den statt, von 1956 bis zur Auf­lö­sung der Sowjet­uni­on gab es 15 Uni­ons­re­pu­bli­ken, wozu auch die im Zuge des Zwei­ten Welt­krie­ges ver­ein­nahm­ten bal­ti­schen Staa­ten zähl­ten, die mit dem Ende des Zaren­reichs Selb­stän­dig­keit erlangt hatten.

In Form der Sowjet­uni­on hat­ten die Bol­sche­wi­ki das zer­fal­le­ne Zaren­reich unter ihrer Herr­schaft bemer­kens­wert ziel­stre­big und rasch wie­der­her­ge­stellt, wenn auch nicht in der ursprüng­li­chen Aus­deh­nung. Der Zer­fall hat­te mit der Febru­ar­re­vo­lu­ti­on von 1917 und der erzwun­ge­nen Abdan­kung Niko­laus’ II. begon­nen. Die pro­vi­so­ri­sche Regie­rung war kaum durch­set­zungs­fä­hig, den fata­len wirt­schaft­li­chen Ent­wick­lun­gen konn­te sie nichts ent­ge­gen­set­zen und über allem las­te­te zudem der für Ruß­land wenig vor­teil­haft ver­lau­fen­de Ers­te Weltkrieg.

Die zum Reich gehö­ren­den Natio­nen, die Bin­nen­ko­lo­nien, lös­ten sich. Mit dem Putsch vom 25. Okto­ber 1917 (der »Okto­ber­re­vo­lu­ti­on«; nach Gre­go­ria­ni­schem Kalen­der am 7. Novem­ber), der Ein­set­zung des »Rates der Volks­kom­mis­sa­re« als Regie­rung und den bei­den pro­gram­ma­ti­schen Dekre­ten (»Über den Frie­den« und »Über den Boden«) ergrif­fen die Bol­sche­wi­ki in Ruß­land die Macht und behaup­te­ten sie: Die ver­fas­sung­ge­ben­de Ver­samm­lung, in der die kon­kur­rie­ren­de »Sozi­al­re­vo­lu­tio­nä­re Par­tei« über die Mehr­heit ver­füg­te, wur­de Anfang Janu­ar 1918 auseinandergetrieben.

Mit dem Frie­den von Brest-Litowsk im März 1918 schied Ruß­land aus dem Ers­ten Welt­krieg aus. Unter den Bol­sche­wi­ki, die jetzt nicht mehr als »Sozi­al­de­mo­kra­ti­sche Arbei­ter­par­tei«, son­dern als »Kom­mu­nis­ti­sche Par­tei« fir­mier­ten, war die­ser einer Kapi­tu­la­ti­on gleich­kom­men­de Frie­dens­ver­trag umstrit­ten. Mit dem im Früh­som­mer 1918 in Gang gesetz­ten Bür­ger­krieg konn­ten die Bol­sche­wi­ki ihre Stel­lung fes­ti­gen und aus­bau­en. Erfolgs­fak­to­ren waren die effek­tiv ope­rie­ren­de, von Leo Trotz­ki unter Rück­griff auf zaris­ti­sche Offi­zie­re auf­ge­bau­te Rote Armee sowie die Unei­nig­keit der Geg­ner. Zudem ließ die kom­mu­nis­ti­sche Füh­rung sämt­li­che nicht­bol­sche­wis­ti­schen Akteu­re kon­se­quent bekämp­fen, wand­te also auch nach innen ein kon­se­quen­tes Freund-Feind-Sche­ma an.

Bezüg­lich der Zie­le der Bol­sche­wi­ki konn­te sich die Bilanz sehen las­sen. Das Bal­ti­kum blieb zwar für Ruß­land vor­erst ver­lo­ren, Polen und Finn­land hat­ten die staat­li­che Sou­ve­rä­ni­tät erlangt. Aber ansons­ten, so der Ost­eu­ro­pa-His­to­ri­ker Man­fred Hil­der­mei­er, »sam­mel­ten die Bol­sche­wi­ki im Lau­fe des Bür­ger­krie­ges alle Ter­ri­to­ri­en wie­der ein, die sich aus der groß­rus­si­schen Hege­mo­nie gelöst hat­ten. Die natio­na­le Eman­zi­pa­ti­on, die 1917 kaum weni­ger Tri­um­phe gefei­ert hat­te als die sozia­le, wur­de annulliert.«

Die »Annul­lie­rung« erfolg­te nicht, weil die Selb­stän­dig­keits­be­stre­bun­gen auf­ge­ge­ben wor­den wären, son­dern weil erfolg­reich ver­mit­telt wer­den konn­te, daß die­se gera­de an der Sei­te des von den Bol­sche­wi­ki beherrsch­ten Sowjet­ruß­lands umge­setzt wer­den könn­ten. Des­sen Füh­rer, Wla­di­mir Iljitsch Lenin, hat­te die theo­re­ti­sche Grund­la­ge geschaf­fen, um die natio­na­len Bewe­gun­gen der mar­xis­ti­schen und damit sei­ner eige­nen Ideo­lo­gie dienst­bar zu machen – unter zeit­wei­li­ger Hint­an­stel­lung des Internationalismus.

Wie sich die ein­zel­nen Natio­nen dem Sozia­lis­mus näher­ten, soll­te dem­nach jede für sich ent­schei­den – dies sei im Zusam­men­hang mit dem jewei­li­gen sozio­öko­no­mi­schen Ent­wick­lungs­stand zu sehen. Nur die Not­wen­dig­keit der Annä­he­rung an sich stand jen­seits aller Zwei­fel; die­se war, Lenins Ver­ständ­nis nach, his­to­risch beding­te Gesetz­mä­ßig­keit. Fol­ge­rich­tig schu­fen die Bol­sche­wi­ki als neue Behör­de auch ein »Volks­kom­mis­sa­ri­at für Nationalitätenfragen«.

Die Inte­gra­ti­on der »wie­der ein­ge­sam­mel­ten Ter­ri­to­ri­en« regel­te Sowjet­ruß­land zunächst mit­tels Ver­trä­gen. Der ers­te wur­de im Sep­tem­ber 1920 mit dem – prak­tisch erober­ten – Aser­bai­dschan geschlos­sen. Mili­tär­an­ge­le­gen­hei­ten und Finan­zi­el­les soll­ten in die Zustän­dig­keit des grö­ße­ren Ver­trags­part­ners fal­len. Ent­spre­chen­de Ver­trä­ge mit der Ukrai­ne und Weiß­ruß­land folg­ten weni­ge Mona­te spä­ter, ande­re kamen hin­zu. Kon­flikt­po­ten­ti­al gab es aller­dings reich­lich, das – offen­sicht­li­che – Bemü­hen der Bol­sche­wi­ki um einen sozia­lis­ti­schen Gesamt­staat kol­li­dier­te immer stär­ker mit den Unab­hän­gig­keits­vor­stel­lun­gen der Natio­nen. In Mit­tel­asi­en etwa kam es zu Partisanenbewegungen.

Mit dem Ende des Bür­ger­krie­ges und ange­sichts der unbe­frie­di­gen­den Akzep­tanz der Ver­trä­ge erstreb­ten die Bol­sche­wi­ki eine ande­re, abschlie­ßen­de Lösung im Ver­hält­nis zu den nicht­rus­si­schen Natio­nen. An die Spit­ze der ent­spre­chen­den Kom­mis­si­on wur­de Josef Sta­lin gestellt, der sei­ner­seits wenig von einem tat­säch­li­chen Föde­ra­lis­mus hielt und eine Ein­glie­de­rung der Gebie­te in den sowje­ti­schen Staat zu for­cie­ren gedach­te. Dies stieß auf den vehe­men­ten Wider­spruch Lenins, der eine Uni­on von zumin­dest per Ver­ein­ba­rung erkenn­bar gleich­be­rech­tig­ten Repu­bli­ken anstreb­te. In die­sem Sin­ne erfolg­te am 30. Dezem­ber 1922 die Grün­dung der Sowjetunion.

Lenin for­der­te im Anschluß, die Rege­lun­gen zuguns­ten der Auto­no­mie der Ein­zel­staa­ten zu erwei­tern, etwa mit eigen­stän­di­gen diplo­ma­ti­schen Ver­tre­tun­gen. Maß­geb­lich waren hier für ihn die gro­ßen Dimen­sio­nen der von ihm ange­nom­me­nen welt­ge­schicht­li­chen Mis­si­on, sei­ne Sor­ge, daß das Anse­hen des Kom­mu­nis­mus »auch nur durch die klei­nes­te Grob­heit und Unge­rech­tig­keit« gegen­über den »eige­nen nicht­rus­si­schen Völ­kern« ver­letzt werde.

Lenin, gesund­heit­lich stark geschwächt, konn­te sei­ne Auf­fas­sun­gen nicht mehr nach­drück­lich selbst ver­tre­ten. Daß der Zusam­men­schluß ansons­ten eine ande­re Aus­ge­stal­tung ange­nom­men hät­te, liegt zumin­dest im Rah­men des Mög­li­chen. Sta­lin, der das neu­ge­schaf­fe­ne Amt des Gene­ral­se­kre­tärs der Kom­mu­nis­ti­schen Par­tei über­nahm, posi­tio­nier­te sich bereits als Nach­fol­ger. Fol­gen­los blieb Lenins Mah­nung an den XII. Par­tei­tag zum Jah­res­wech­sel 1922 / 23, daß Sta­lin »eine uner­meß­li­che Macht in sei­nen Hän­den kon­zen­triert« und daß er es nicht immer ver­ste­hen wer­de, »von die­ser Macht vor­sich­tig genug Gebrauch zu machen«.

In Kraft getre­ten ist die ers­te Ver­fas­sung der Sowjet­uni­on am 31. Janu­ar 1924. Im »Zen­tra­len Exe­ku­tiv­ko­mi­tee des Sowjets der UdSSR« bil­de­te ein »Natio­na­li­tä­ten­rat«, der von den Uni­ons­re­pu­bli­ken und den inner­halb die­ser bestehen­den Auto­no­men Repu­bli­ken sowie Auto­no­men Regio­nen beschickt wur­de, neben dem »Uni­ons­rat« eine zwei­te Kam­mer. In der Pra­xis wur­de von Mos­kau aus regiert. So über­trug man etwa die Insti­tu­ti­on des »Rates der Volks­kom­mis­sa­re« von der Ebe­ne Sowjet­ruß­lands auf die Uni­ons­ebe­ne. Die Bol­sche­wi­ki, die ande­re Par­tei­en ver­bo­ten und selbst inner­par­tei­li­che Oppo­si­ti­on unter­drück­ten, igno­rier­ten die bestehen­den föde­ra­len Struk­tu­ren in poli­ti­scher Hinsicht.

Den­noch wur­de zunächst – ein­her­ge­hend mit der in der wirt­schaft­lich zer­rüt­te­ten Sowjet­uni­on in Gang gesetz­ten »Neu­en Öko­no­mi­schen Poli­tik«, die im klei­nen Rah­men Pri­vat­be­sitz zuließ und auf markt­kon­for­men Grund­la­gen stand – die kul­tu­rel­le Ent­fal­tung der Natio­nen aus­drück­lich ermög­licht. Mit dem Kurs­wech­sel Ende der 1920er Jah­re, dem begin­nen­den »Sta­li­nis­mus«, wur­de dies aller­dings wie­der erheb­lich eingeschränkt.

Bis zur Auf­lö­sung der UdSSR mit dem Ende des Jah­res 1991 blieb die 1922 geschaf­fe­ne föde­ra­le Struk­tur, trotz aller Unter­drü­ckung von Eigen­mäch­tig­kei­ten, erhal­ten. Die ­unter­blie­be­ne Ein­glie­de­rung, wie sie Sta­lin vor­ge­schwebt hat­te, erleich­ter­te die Kon­sti­tu­ie­rung unab­hän­gi­ger Staa­ten. Par­al­le­len der Selb­stän­dig­keits­be­stre­bun­gen der ein­zel­nen Natio­nen zum Zer­falls­pro­zeß des Jah­res 1917 sind unver­kenn­bar. Offen­bar erhal­ten geblie­ben ist die Per­spek­ti­ve der rus­si­schen Füh­rung, die unab­hän­gig von der poli­ti­schen Aus­rich­tung die Gesamt­heit des unter der Zaren­herr­schaft ent­stan­de­nen Rei­ches im Blick hat.

 

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