Große Feier- und Gedenktage in der Sowjetunion wurden zur Erinnerung an die Oktoberrevolution 1917 oder später anläßlich des Sieges im Zweiten Weltkrieg 1945 zelebriert, letzterer wird bis heute begangen.
Der Gründungstag des Staates, der »Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken«, hingegen spielte im öffentlichen Gedächtnis eine nachgeordnete Rolle. Mag sein, daß die Vorgänge des 30. Dezember 1922 zu wenig Potential für eine publikumswirksame und heldenschwere Präsentation im Dienste der Identifikation mit dem sozialistischen Staat bereit hielten, dennoch beginnt die Geschichte der UdSSR formell mit diesem Tag und nicht bereits 1917, wie gern und erfolgreich suggeriert wurde.
Zunächst handelte es sich um vier »Sozialistische Sowjetrepubliken«, die sich zur Union zusammenschlossen – Rußland, die Ukraine, Weißrußland sowie die Transkaukasische Föderation, bestehend aus Aserbaidschan, Armenien und Georgien. Spitzfindige weisen gern darauf hin, daß bereits der Name des Staatsgebildes – Sowjetunion – von Anfang an im Widerspruch zu seiner Verfaßtheit stand, denn nicht basisdemokratische Räte, Sowjets, waren bestimmend, sondern allein die Spitzen der Kommunistischen Partei.
Unionsrepubliken wie Usbekistan, Turkmenistan, Tadschikistan und Kirgistan kamen bald hinzu, Umstrukturierungen fanden statt, von 1956 bis zur Auflösung der Sowjetunion gab es 15 Unionsrepubliken, wozu auch die im Zuge des Zweiten Weltkrieges vereinnahmten baltischen Staaten zählten, die mit dem Ende des Zarenreichs Selbständigkeit erlangt hatten.
In Form der Sowjetunion hatten die Bolschewiki das zerfallene Zarenreich unter ihrer Herrschaft bemerkenswert zielstrebig und rasch wiederhergestellt, wenn auch nicht in der ursprünglichen Ausdehnung. Der Zerfall hatte mit der Februarrevolution von 1917 und der erzwungenen Abdankung Nikolaus’ II. begonnen. Die provisorische Regierung war kaum durchsetzungsfähig, den fatalen wirtschaftlichen Entwicklungen konnte sie nichts entgegensetzen und über allem lastete zudem der für Rußland wenig vorteilhaft verlaufende Erste Weltkrieg.
Die zum Reich gehörenden Nationen, die Binnenkolonien, lösten sich. Mit dem Putsch vom 25. Oktober 1917 (der »Oktoberrevolution«; nach Gregorianischem Kalender am 7. November), der Einsetzung des »Rates der Volkskommissare« als Regierung und den beiden programmatischen Dekreten (»Über den Frieden« und »Über den Boden«) ergriffen die Bolschewiki in Rußland die Macht und behaupteten sie: Die verfassunggebende Versammlung, in der die konkurrierende »Sozialrevolutionäre Partei« über die Mehrheit verfügte, wurde Anfang Januar 1918 auseinandergetrieben.
Mit dem Frieden von Brest-Litowsk im März 1918 schied Rußland aus dem Ersten Weltkrieg aus. Unter den Bolschewiki, die jetzt nicht mehr als »Sozialdemokratische Arbeiterpartei«, sondern als »Kommunistische Partei« firmierten, war dieser einer Kapitulation gleichkommende Friedensvertrag umstritten. Mit dem im Frühsommer 1918 in Gang gesetzten Bürgerkrieg konnten die Bolschewiki ihre Stellung festigen und ausbauen. Erfolgsfaktoren waren die effektiv operierende, von Leo Trotzki unter Rückgriff auf zaristische Offiziere aufgebaute Rote Armee sowie die Uneinigkeit der Gegner. Zudem ließ die kommunistische Führung sämtliche nichtbolschewistischen Akteure konsequent bekämpfen, wandte also auch nach innen ein konsequentes Freund-Feind-Schema an.
Bezüglich der Ziele der Bolschewiki konnte sich die Bilanz sehen lassen. Das Baltikum blieb zwar für Rußland vorerst verloren, Polen und Finnland hatten die staatliche Souveränität erlangt. Aber ansonsten, so der Osteuropa-Historiker Manfred Hildermeier, »sammelten die Bolschewiki im Laufe des Bürgerkrieges alle Territorien wieder ein, die sich aus der großrussischen Hegemonie gelöst hatten. Die nationale Emanzipation, die 1917 kaum weniger Triumphe gefeiert hatte als die soziale, wurde annulliert.«
Die »Annullierung« erfolgte nicht, weil die Selbständigkeitsbestrebungen aufgegeben worden wären, sondern weil erfolgreich vermittelt werden konnte, daß diese gerade an der Seite des von den Bolschewiki beherrschten Sowjetrußlands umgesetzt werden könnten. Dessen Führer, Wladimir Iljitsch Lenin, hatte die theoretische Grundlage geschaffen, um die nationalen Bewegungen der marxistischen und damit seiner eigenen Ideologie dienstbar zu machen – unter zeitweiliger Hintanstellung des Internationalismus.
Wie sich die einzelnen Nationen dem Sozialismus näherten, sollte demnach jede für sich entscheiden – dies sei im Zusammenhang mit dem jeweiligen sozioökonomischen Entwicklungsstand zu sehen. Nur die Notwendigkeit der Annäherung an sich stand jenseits aller Zweifel; diese war, Lenins Verständnis nach, historisch bedingte Gesetzmäßigkeit. Folgerichtig schufen die Bolschewiki als neue Behörde auch ein »Volkskommissariat für Nationalitätenfragen«.
Die Integration der »wieder eingesammelten Territorien« regelte Sowjetrußland zunächst mittels Verträgen. Der erste wurde im September 1920 mit dem – praktisch eroberten – Aserbaidschan geschlossen. Militärangelegenheiten und Finanzielles sollten in die Zuständigkeit des größeren Vertragspartners fallen. Entsprechende Verträge mit der Ukraine und Weißrußland folgten wenige Monate später, andere kamen hinzu. Konfliktpotential gab es allerdings reichlich, das – offensichtliche – Bemühen der Bolschewiki um einen sozialistischen Gesamtstaat kollidierte immer stärker mit den Unabhängigkeitsvorstellungen der Nationen. In Mittelasien etwa kam es zu Partisanenbewegungen.
Mit dem Ende des Bürgerkrieges und angesichts der unbefriedigenden Akzeptanz der Verträge erstrebten die Bolschewiki eine andere, abschließende Lösung im Verhältnis zu den nichtrussischen Nationen. An die Spitze der entsprechenden Kommission wurde Josef Stalin gestellt, der seinerseits wenig von einem tatsächlichen Föderalismus hielt und eine Eingliederung der Gebiete in den sowjetischen Staat zu forcieren gedachte. Dies stieß auf den vehementen Widerspruch Lenins, der eine Union von zumindest per Vereinbarung erkennbar gleichberechtigten Republiken anstrebte. In diesem Sinne erfolgte am 30. Dezember 1922 die Gründung der Sowjetunion.
Lenin forderte im Anschluß, die Regelungen zugunsten der Autonomie der Einzelstaaten zu erweitern, etwa mit eigenständigen diplomatischen Vertretungen. Maßgeblich waren hier für ihn die großen Dimensionen der von ihm angenommenen weltgeschichtlichen Mission, seine Sorge, daß das Ansehen des Kommunismus »auch nur durch die kleineste Grobheit und Ungerechtigkeit« gegenüber den »eigenen nichtrussischen Völkern« verletzt werde.
Lenin, gesundheitlich stark geschwächt, konnte seine Auffassungen nicht mehr nachdrücklich selbst vertreten. Daß der Zusammenschluß ansonsten eine andere Ausgestaltung angenommen hätte, liegt zumindest im Rahmen des Möglichen. Stalin, der das neugeschaffene Amt des Generalsekretärs der Kommunistischen Partei übernahm, positionierte sich bereits als Nachfolger. Folgenlos blieb Lenins Mahnung an den XII. Parteitag zum Jahreswechsel 1922 / 23, daß Stalin »eine unermeßliche Macht in seinen Händen konzentriert« und daß er es nicht immer verstehen werde, »von dieser Macht vorsichtig genug Gebrauch zu machen«.
In Kraft getreten ist die erste Verfassung der Sowjetunion am 31. Januar 1924. Im »Zentralen Exekutivkomitee des Sowjets der UdSSR« bildete ein »Nationalitätenrat«, der von den Unionsrepubliken und den innerhalb dieser bestehenden Autonomen Republiken sowie Autonomen Regionen beschickt wurde, neben dem »Unionsrat« eine zweite Kammer. In der Praxis wurde von Moskau aus regiert. So übertrug man etwa die Institution des »Rates der Volkskommissare« von der Ebene Sowjetrußlands auf die Unionsebene. Die Bolschewiki, die andere Parteien verboten und selbst innerparteiliche Opposition unterdrückten, ignorierten die bestehenden föderalen Strukturen in politischer Hinsicht.
Dennoch wurde zunächst – einhergehend mit der in der wirtschaftlich zerrütteten Sowjetunion in Gang gesetzten »Neuen Ökonomischen Politik«, die im kleinen Rahmen Privatbesitz zuließ und auf marktkonformen Grundlagen stand – die kulturelle Entfaltung der Nationen ausdrücklich ermöglicht. Mit dem Kurswechsel Ende der 1920er Jahre, dem beginnenden »Stalinismus«, wurde dies allerdings wieder erheblich eingeschränkt.
Bis zur Auflösung der UdSSR mit dem Ende des Jahres 1991 blieb die 1922 geschaffene föderale Struktur, trotz aller Unterdrückung von Eigenmächtigkeiten, erhalten. Die unterbliebene Eingliederung, wie sie Stalin vorgeschwebt hatte, erleichterte die Konstituierung unabhängiger Staaten. Parallelen der Selbständigkeitsbestrebungen der einzelnen Nationen zum Zerfallsprozeß des Jahres 1917 sind unverkennbar. Offenbar erhalten geblieben ist die Perspektive der russischen Führung, die unabhängig von der politischen Ausrichtung die Gesamtheit des unter der Zarenherrschaft entstandenen Reiches im Blick hat.