Thomas E. Schmidt: Große Erwartungen

Im ersten Teil seines Buches gelingt Thomas E. Schmidt eine in der Sache so treffende wie überhaupt gewitzte Darstellung der Boomer-Generation West, der Jahrgänge 1955 bis 1969.

Heino Bosselmann

Heino Bosselmann studierte in Leipzig Deutsch, Geschichte und Philosophie für das Lehramt an Gymnasien.

Inter­es­sant zunächst das Emp­fin­den des Schat­tens, der von Krieg und Nach­krieg her auf die Gegen­wart des Her­an­wach­sen­den fällt. Noch waren in den Sech­zi­gern und Sieb­zi­gern die Kriegs­ver­sehr­ten in ihren Roll­stüh­len unter­wegs: »Der Krieg war mein Nicht­sein, und sie, die Inva­li­den, waren des­sen böse Geister.«

Schmidt möch­te die­se Ver­gan­gen­heit, die­ses »Vor-45«, als eine Art deut­sches Alter­tum iden­ti­fi­zie­ren: zwar kaum ver­gan­gen, aber schon »von der Gegen­wart durch eine unüber­wind­li­che Schran­ke abge­trennt«. Gewis­ser­ma­ßen ein mythisch-düs­te­res Zeit­al­ter, bereits nach weni­gen Jah­ren den Nach­ge­bo­re­nen unvor­stell­bar fremd. Nach­kriegs­deutsch­land igno­rier­te, ver­dräng­te, tabui­sier­te. Trotz poli­ti­scher Tur­bu­len­zen in der Erwach­se­nen­welt erleb­ten die Boo­mer ihre Kind­heit in Gebor­gen­heit: »Geburts­ta­ge wer­den andau­ernd gefei­ert, wie denn der Fami­li­en­ver­band auch bestän­dig anwächst. Am Nach­mit­tag gibt es Erd­beer­tor­te, am Abend lau­ert wie­der der ekli­ge Herings­sa­lat. Es trifft sich immer wie­der der­sel­be Kreis aus Omas und Opas, Schwes­tern, Brü­dern, Tan­ten und Onkeln, Cou­si­nen und Cousins.«

Die Väter arbei­te­ten Voll­zeit und rauch­ten »Ern­te 23«. Aus all den oran­ge­nen Schach­teln bau­te der jun­ge Schmidt Bur­gen. Die­se Bie­der­mei­er­lich­keit wur­de von einem »Schutz­staat« beschirmt: »Nichts Heroi­sches möge in die neue Zeit mehr hin­ein­ra­gen. […] Die Bun­des­re­pu­blik war modern, frei­heit­lich und libe­ral – und trotz­dem ent­wi­ckel­te sie sich eigen­tüm­lich innen­ge­wandt, fast wie ein skan­di­na­vi­sches Land.« Dazu pas­send der Kin­der­se­gen der demo­gra­phisch star­ken Jahr­gän­ge: »Immer zusam­men, immer im Rudel, fast alle mit Geschwis­tern, inmit­ten stram­peln­der, sich schlän­geln­der Kin­der­lei­ber, in allen Ver­wahr­an­stal­ten als Her­de behandelt.«

Wäh­rend die Vor­gän­ger­ge­ne­ra­ti­on, die eigent­li­chen Acht­und­sech­zi­ger, reni­tent motz­ten und als »Halb­star­ke« ihre Mopeds auf­heu­len lie­ßen, wur­den die Boo­mer West zu den Hät­schel­kin­dern und Beob­ach­tungs­ob­jek­ten der so neu­en wie fata­len Päd­ago­gik der Sieb­zi­ger. Zwar gab es noch jene Leh­rer, die »Schnur­ren aus dem Ruß­land­feld­zug erzäh­len oder sich in ihr Stu­ka-Cock­pit zurück­t­räu­men« woll­ten, aber prä­gend wur­den »die neu­en Inge­nieu­re der Men­schen­for­mung, aber sie sind jetzt gute Jugend­füh­rer die mit dem rich­ti­gen Men­schen­bild im Gepäck.«

Daß der Autor dies der­ar­tig undif­fe­ren­ziert gut­heißt, ist offen­bar nicht nur sein Pro­blem, son­dern über­haupt das der geschützt nach­wach­sen­den Intel­lek­tu­el­len. »Wir ler­nen das Argu­men­tie­ren und Debat­tie­ren.« Wie artig doch! Und das bleibt jahr­zehn­te­lang die Haupt­sa­che: »Wie demo­kra­ti­siert man eine Gesell­schaft, die dar­auf besteht, bereits demo­kra­tisch zu sein, und die um des Wohl­stands wil­len an kapi­ta­lis­ti­schen Besitz­ver­hält­nis­sen fest­hält?« Unten also Kapi­ta­lis­mus, min­des­tens noch sozia­le Markt­wirt­schaft –auf daß wei­ter alle hedo­nis­ti­schen Bedürf­nis­se befrie­digt wer­den –, oben aber eine Art sozia­lis­ti­scher Über­bau­him­mel der Teilhabeseligkeit.

Wäh­rend sich der ers­te Teil des Buches lite­ra­risch wert­voll liest, läßt sich Schmidt im zwei­ten dazu hin­rei­ßen, nur mehr aus sei­ner Ich-Per­spek­ti­ve zu schrei­ben und sich zum Spre­cher der Boo­mer-Kohor­te auf­zu­wer­fen, indem er sein poli­ti­sches Cre­do im Namen aller verkündet.

Man liest selbst­ge­fäl­li­ge Geschich­ten von intel­lek­tu­el­len Steh­par­tys: Schmidt im poin­tier­ten Gespräch mit den Gro­ßen der Zeit, mit Sieg­fried Unseld, Jür­gen Haber­mas, spä­ter mit Ger­hard Schrö­der. Dazu aller­lei Anek­döt­chen im eit­len Memoi­ren­ton, die eine unan­ge­neh­me Arro­ganz des Recht­ha­be­ri­schen vermitteln.

Und das signi­fi­kan­te »Mea cul­pa!«: Wir Gegen­wär­ti­gen als Speer­spit­ze unheil­vol­ler Ent­wick­lung, die Lebens­zie­le im gro­ßen wie klei­nen schon län­ger­fris­tig völ­lig falsch und sogar Ursa­che für ein gene­rel­les Demen­ti unse­rer Kul­tur. Der wei­ße Mann, so Schmidt, sei ver­ant­wort­lich für den Sün­den­fall der Frühmoderne.

Der Rest ist poli­ti­sche Pro­gram­ma­tik: Schmidt beschwärmt die Dekon­struk­ti­on als sei­ne Lebens­in­spi­ra­ti­on im Sin­ne einer »blü­hen­den, mun­ter fort­mä­an­dern­den Ana­ly­tik der Kul­tur«, mehr noch »als Frei­heits­leh­re«, die die Gesell­schaft end­lich von der Illu­si­on befrei­te, »sie sei von Natur aus so, wie sie war, und besit­ze eine fest gefüg­te Iden­ti­tät.« Über­haupt alles Iden­ti­tä­re und sowie­so das Natio­na­le, all­ge­mein jede Iden­ti­fi­ka­ti­ons­mög­lich­keit gilt ihm als gefährlich.

Statt des­sen: »Die Welt als Sum­me von Bedeu­tungs­mög­lich­kei­ten anzu­se­hen, sie zuerst von­ein­an­der zu tren­nen, um sie wie­der zusam­men­zu­set­zen, nahm sich im Über­schwang fast wie ein Pro­gramm für eine neue Zivil­ge­sell­schaft aus.« Das gip­felt in dem Resü­mee: »Wir stan­den auf der rich­ti­gen Sei­te der Geschichte.«

Das Geschenk der deut­schen Ein­heit bringt Schmidt fol­ge­rich­tig ins Schlin­gern; letzt­lich stört sie, denn die Fra­ge nach der Nati­on »wur­de von uns zwar auf­ge­wor­fen, debat­tiert, am Ende aber lie­gen­ge­las­sen. […] Der Auf­ruf zur Neu­grün­dung der Bun­des­re­pu­blik im akti­ven Voll­zug eines links­li­be­ra­len Kon­sen­ses war für uns in Wirk­lich­keit so wenig anzie­hend wie das erneu­er­te Nationalgefühl.«

Nicht nur alles vorm Grund­ge­setz Gesche­he­ne, son­dern ins­ge­samt die deut­sche Nati­on gehört nach Auf­fas­sung des Autors einem Alter­tum an, das bes­ser ver­ges­sen wer­den sollte.

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Tho­mas E. Schmidt: Gro­ße Erwar­tun­gen. Die Boo­mer, die Bun­des­re­pu­blik und ich, Ham­burg: Rowohlt 2022. 256 S., 23 €

 

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Heino Bosselmann

Heino Bosselmann studierte in Leipzig Deutsch, Geschichte und Philosophie für das Lehramt an Gymnasien.

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