Selbstbegrenzung, Selbstbehauptung

im Gespräch mit Professor Heinz Theisen

Götz Kubitschek

Götz Kubitschek leitet den Verlag Antaios

Sezes­si­on: Herr Pro­fes­sor Thei­sen, Sie haben im März das Buch Selbst­be­haup­tung vor­ge­legt, unmit­tel­bar also, nach­dem der Ukrai­ne­kon­flikt sich zum Ukrai­ne­krieg aus­ge­wach­sen hat­te. Sie schrei­ben dar­in über eine For­de­rung, die Sie bereits im Unter­ti­tel for­mu­lie­ren: war­um Euro­pa und der Wes­ten sich begren­zen müs­sen. Was ist der Ukrai­ne­krieg? Der Beginn der Begren­zung des Wes­tens oder das Gegen­teil davon?

 

Heinz Thei­sen: Mit der Fra­ge nach der Ukrai­ne stel­len sie die gleich die schwie­rigs­te Fra­ge über­haupt. Hier pral­len alle wich­ti­gen Kate­go­rien auf­ein­an­der. Zunächst trägt die west­li­che Selbst­ent­gren­zung schwe­re Mit­schuld an dem Krieg. Das Zie­hen der Ukrai­ne nach Wes­ten muß­te zum Zer­rei­ßen des Lan­des füh­ren. Den­noch ist der Angriffs­krieg Ruß­lands ver­bre­che­risch und die Selbst­be­haup­tung der Ukrai­ne hero­isch. Sie trägt sogar zur Ein­sicht in die Not­wen­dig­keit von Selbst­be­haup­tung bei deut­schen Pazi­fis­ten bei. Aller­dings erfolg­te deren Kon­ver­si­on der­art unvor­be­rei­tet, daß die selbst­schä­di­gen­de Sank­ti­ons­po­li­tik Deutsch­lands wie­der­um eher ein Bei­trag zur Selbst­auf­ga­be denn zur Selbst­be­haup­tung ist. Die Ungarn, wo ich gera­de zu Gast bin, waren hier klü­ger. Soli­da­ri­tät ja, Sank­tio­nen nein. Sie machen sich aber auch kei­ne Illu­sio­nen über den olig­ar­chi­schen Cha­rak­ter der Ukrai­ne, und sie roman­ti­sie­ren den Krieg nicht nach Gut und Böse. In den Grau­be­rei­chen lie­gen auch allein die Chan­cen auf einen Waffenstillstand.

 

Sezes­si­on: Sie den­ken Selbst­be­haup­tung und eine Begren­zung aus Ein­sicht in die Gefah­ren von Über­deh­nung zusam­men. Gibt es gelun­ge­ne his­to­ri­sche Bei­spie­le für die­ses Tandem?

 

Heinz Thei­sen: Das nahe­lie­gen­de Bei­spiel ist die Schweiz. Nach eini­gen miß­glück­ten Über­grif­fen auf die Nach­bar­schaft beschlos­sen die Eid­ge­nos­sen, bei sich zu blei­ben und dafür ihre Gren­zen um so erbit­ter­ter zu ver­tei­di­gen. Auch die Neu­tra­li­täts­po­li­tik der Schweiz gehört zu die­ser klu­gen Selbst­be­gren­zung, denn ohne die­se wäre sie irgend­wann von einer Groß­macht geschluckt wor­den, nach­dem sie zuvor auf eine fal­sche Kar­te gesetzt hat­te. Im Grun­de hät­te sich Euro­pa in einer mul­ti­po­la­ren Welt so posi­tio­nie­ren sol­len wie die Schweiz im mul­ti­po­la­ren Eu­ropa. Aber dafür ist es nach dem Ukrai­ne­krieg wohl zu spät.

 

Sezes­si­on: Was bedeu­te­te das – zu spät? Für wie lan­ge ist es zu spät? Wir alle den­ken ja nicht in Kate­go­rien eines Endes der Geschich­te, nicht wahr? Was erwar­tet uns in Euro­pa und beson­ders in Deutsch­land also nun? Und was kön­nen die­je­ni­gen tun, die auch in fast aus­sichts­lo­ser Lage noch über Selbst­be­haup­tun­gen nachdenken?

 

Heinz Thei­sen: Im gesam­ten Ukrai­ne­kon­flikt, der ja weit hin­ter den Krieg zurück­reicht, hat die EU gezeigt, daß sie nicht ein­mal auf ihrem Kon­ti­nent zu einer Ord­nungs­po­li­tik in der Lage ist. Auch die euro­päi­schen NATO-Mit­glie­der haben sich den impe­ria­len Lau­nen der USA unter­wor­fen und müs­sen in der Regel die Fol­gen von deren Schei­tern tra­gen. Die Euro­pä­er sind nur Objek­te der Welt­mäch­te. In der der­zei­ti­gen geis­ti­gen und struk­tu­rel­len Ver­fas­sung ist in der Tat alles zu spät. Wenn aber erst die wirt­schaft­li­chen Fol­gen des Schei­terns umfas­send fühl­bar gewor­den sind, in den nächs­ten Jah­ren, stellt sich die ent­schei­den­de Fra­ge: Raf­fen wir uns auf zu einem »Euro­pa, das schützt« (Macron), mit dezen­tra­ler Viel­falt nach innen und Ein­heit nach außen, ange­fan­gen beim gemein­sa­men Grenz­schutz? Die Aus­sicht besteht im Ler­nen aus dem Schei­tern. Dafür kön­nen wir geis­ti­ge Vor­be­rei­tun­gen tref­fen, ins­be­son­de­re im Bereich der kul­tu­rel­len Zusam­men­ge­hö­rig­keit. Die kul­tu­rel­le Selbst­be­haup­tung ent­spre­chen­der Min­der­hei­ten lohnt sich auch, wenn alles ande­re den Bach run­ter­ge­hen sollte.

 

Sezes­si­on: Es ist natür­lich wich­tig, kon­struk­tiv zu sein in Lagen, in denen das Schei­tern so offen zuta­ge liegt. Aber auch jetzt gibt es euro­päi­sche Natio­nen, die ihren Schnitt machen. Wich­tig dabei ist: Sie machen die­sen Schnitt nicht für Eu­ropa, son­dern für sich selbst. Den­ken Sie an Polen, das der­zeit in einer Mischung aus Mus­ter­va­sall und Land­hun­ger auf­tritt und aus die­ser Potenz her­aus von Deutsch­land Repa­ra­tio­nen in Höhe von 1,6 Bil­lio­nen Euro for­dert. Wo bleibt da Europa?

Heinz Thei­sen: Die­sem trau­ri­gen Bei­spiel las­sen sich wei­te­re anfü­gen. Vor allem der aktu­el­le Streit zwi­schen Ita­li­en, Frank­reich und Deutsch­land über die Ber­gung und die Auf­nah­me von ille­ga­len Migran­ten im Mit­tel­meer. Auch dabei sind die Staa­ten so zer­strit­ten, daß sie kom­plett hand­lungs­un­fä­hig sind und sich nur noch gegen­sei­tig zu belas­ten ver­su­chen. Hier spitzt sich aber auch die ent­schei­den­de Zukunfts­fra­ge nach den offe­nen Gren­zen Euro­pas zu: Sie liegt als Zank­ap­fel zwi­schen den soge­nann­ten Glo­ba­lis­ten und den Pro­tek­tio­nis­ten. Bleibt Euro­pa »welt­of­fen« bis zur Selbst­auf­ga­be, wie es ins­be­son­de­re die deut­sche Regie­rung anzu­stre­ben scheint, oder gewin­nen die Kräf­te die Ober­hand, die Euro­pa für einen schüt­zens­wer­ten Raum hal­ten, der sein Eige­nes bewah­ren will. Den­ken wir an die Wahl­er­geb­nis­se in Schwe­den und Ita­li­en, so schei­nen letz­te­re doch nach und nach vorzurücken.

 

Sezes­si­on: Wo ist denn Ihrer Mei­nung nach die­ser Selbst­be­haup­tungs­wil­le in Euro­pa so weit vor­ge­rückt, so stark gewor­den, daß er zu wir­ken beginnt?

 

Heinz Thei­sen: In Ungarn, wo ich gera­de als Gast des Mathi­as-Cor­vi­nus-Col­le­gi­ums eini­ge Vor­trä­ge gehal­ten habe, rann­te ich mit die­ser For­de­rung offe­ne Türen ein. Man könn­te die gan­ze Poli­tik Orbáns unter die­se Über­schrift stel­len. Zuerst kommt die Selbst­be­haup­tung des Natio­nal­staats in Euro­pa, dann die Euro­pas in der Welt. Bei­de müs­sen sich auf ihre wesent­li­chen Auf­ga­ben und die­se dann auf ihr Ter­ri­to­ri­um begren­zen. Bei­de Akteu­re, der Natio­nal­staat und die EU, müs­sen sich dabei ergänzen.

Vom Wahl­sieg Melo­nis in Ita­li­en erhofft ­Orbán sich eine Stär­kung die­ser Poli­tik. Aber auch in Skan­di­na­vi­en bewegt sich etwas. In Däne­mark haben die Sozi­al­de­mo­kra­ten das Asyl­recht so geän­dert, daß sie dar­über ihren Sozi­al­staat zu ret­ten hof­fen. An die­ser Stel­le geht dann rech­te in lin­ke Poli­tik über. Wenn jetzt auch noch Libe­ra­le bemer­ken, daß sie den Rechts­staat vor den For­de­run­gen der Scha­ria behaup­ten müs­sen, wären wir wie­der einen Schritt wei­ter. Die Stra­te­gie der Selbst­be­haup­tung durch Selbst­be­gren­zung scheint mir geeig­net, die alten ideo­lo­gi­schen Fron­ten nach und nach aufzubrechen.

 

Sezes­si­on: Nun sind wir in Deutsch­land nicht bei Wünsch-dir-was, son­dern in einem Land, das sei­ne Selbst­in­fra­ge­stel­lung auf die Spit­ze getrie­ben hat, indem es die Umer­zie­hungs­er­zäh­lung von der »wider­leg­ten Nati­on« ver­in­ner­licht hat und stren­ger aus­legt als die frü­he­ren Geg­ner. Zum Besteck der Selbst­be­haup­tung ande­rer euro­päi­scher Natio­nen gehört auch die Mög­lich­keit, Deutsch­land mora­lisch zu erpres­sen. Was schla­gen Sie zur Hei­lung die­ser Bruch­stel­le vor?

 

Heinz Thei­sen: Unse­re poli­ti­sche Klas­se hat im Glo­ba­lis­mus die pas­sen­de Ideo­lo­gie zur Selbst­in­fra­ge­stel­lung gefun­den. In die­ser ist die »Eine Mensch­heit« an die Stel­le der eige­nen Gesell­schaf­ten und Natio­nal­staa­ten, ja letzt­lich auch an die Stel­le des »Einen Got­tes« getre­ten. Mit der her­kömm­li­chen Inter­es­sen­ra­tio­na­li­tät ist das alles nicht zu begrei­fen, aber es ist natür­lich sehr gut ausnutzbar.

Über­wind­bar wären die­se Hal­tun­gen in einem euro­päi­schen Kul­tur­be­wußt­sein, in dem die natio­na­len Iden­ti­tä­ten bewahrt und zugleich auf einer wei­te­ren Stu­fe auf­ge­ho­ben wer­den. Und in einer Rekon­struk­ti­on der bür­ger­li­chen Denk­hal­tung, eige­ne und ande­re Inter­es­sen in ein Ver­hält­nis der Gegen­sei­tig­keit zu set­zen. Um die ersatz­re­li­giö­se Schuld­kul­tur, die auch ande­re Natio­nen im soge­nann­ten Post­ko­lo­nia­lis­mus ken­nen, zu erset­zen, brau­chen wir zudem auch eine kul­tur­christ­li­che Leit­kul­tur, mit der wir unse­re eige­ne Kul­tur von ande­ren Kul­tu­ren über­haupt wie­der unter­schei­den ler­nen. Auch in Isra­el sind nicht alle Juden gläu­big, aber geeint in der gemein­sa­men Selbst­be­haup­tung gegen­über anderen.

Sezes­si­on: Es geht also um Geschichts­po­li­tik, um eine ande­re Erzäh­lung, an die, wo nicht stolz, so doch mit Zufrie­den­heit ange­knüpft wer­den könnte?

 

Heinz Thei­sen: In den USA gab es lan­ge Zeit in jeder Schu­le den Grund­kurs »Wes­tern Civi­liza­ti­on«. Der wur­de dann im Zuge des Kul­tur­re­la­ti­vis­mus abge­schafft. Des­halb wuß­ten dann spä­ter die­je­ni­gen, die aus Afgha­ni­stan oder dem Irak eine Demo­kra­tie machen woll­ten, nicht, daß sol­che Struk­tu­ren kul­tu­rel­le Vor­be­din­gun­gen erfor­dern. Ohne ein Mini­mum an Geschichts- und Kul­tur­ken­nt­nis­sen ver­ste­hen die Men­schen auch nicht ihre Posi­ti­on und ihre Inter­es­sen in den inter­kul­tu­rel­len Begeg­nun­gen des All­tags. Und wie soll Inte­gra­ti­on in eine Kul­tur, die sich selbst nicht kennt, mög­lich sein?

 

Götz Kubitschek

Götz Kubitschek leitet den Verlag Antaios

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