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Daß die deutsche Literatur nach NS- und Besatzungsherrschaft wieder aus der Politisierung entlassen wurde, ist eine Halbwahrheit. Denn die Befreiung von der offiziellen Zensur mündete bald in eine kommodere, aber letztlich kaum weniger bindende für alle, die Erfolg haben wollten oder wenigstens unbehelligt zu bleiben wünschten. Themen wie Liebe, Alter, Glück oder Einsamkeit waren weitgehend frei.
Doch wo etwa die jüngste Vergangenheit hineinspielte, sah es anders aus. Als in den 1950ern die Prämierung von Hans Baumanns Drama Im Zeichen der Fische seiner NS-Verstrickung wegen revidiert wurde (vgl. Folge 3 meiner Serie in Sezession 109), beklagte der Tagesspiegel vom 4. November 1959 den Kotau der Jury vor der Politik: »Nur vor dem Forum der Literatur, nicht aber vor dem der Biographie des Autors« sei zu entscheiden. »Die Jury aber hat sich auf Argumente zurückgezogen, die die Basis in Frage stellen, von der aus wir die Auszeichnung von Männern wie Pasternak und Quasimodo verteidigten. Sie hat – verschreckt, verängstigt und am eigenen Urteil irre geworden – die Politik über die Kunst gestellt. Sie hat damit dem Protest einen schlechten Dienst erwiesen, den wir tagtäglich gegen die Verquickung von Literatur und Politik in der Zone erheben.«
Acht Jahre später hielt Joachim Fernau seinem unerbittlichen Kritiker Peter Wapnewski vor: »Sobald ein Kunstrichter verrät, daß er aus der näheren Kenntnis des Lebens des Autors sich des geringsten nachteiligen Zuges wider ihn bedient«, werde er »das Verächtlichste, was er werden kann: Anschwärzer, Pasquillant. Diese Sätze stammen von Lessing.« Sie galten allerdings längst nicht mehr. Denn Urteile über Autoren resultierten häufig aus biographischer Fahndung oder der nach verfänglichen »Stellen«. Dem entsprach die flächendeckende Inthronisation der Ideologiekritik als Interpretationsmethode.
Gleichzeitig nabelte sich die akademische Zunft von früheren Autoritäten ab. Auf dem Münchner Germanistentag 1966 »bewältigten« Eberhard Lämmert und Karl Otto Conrady ihre Germanistenväter. Und seit Dezember desselben Jahres tobte der Züricher Literaturstreit mit fatalen Folgen für den Ruf Emil Staigers, des Großmeisters der Werkimmanenz (vgl. Günter Scholdt: »Ein Vorspiel nur«, in: Sezession 27). Die Chance zur Polemik bot seine Rede vom 17. Dezember 1966 gegen belletristische Spekulanten auf Leserwünsche nach dem Häßlichen und sozial Abweichenden, der man naziaffine Zensurgelüste unterstellte.
Daß sich die »Gruppe 47« 20 Jahre nach ihrer Gründung auflöste, widerspricht nicht ihrer weiteren Wirksamkeit. Eher war sie, nach Etablierung ihrer Kriterien, schlicht überflüssig geworden. Und seit dem linken Marsch durch die Institutionen reproduzieren die Literarhistoriker meist nur noch entsprechende Wertungen. Eine genuin ästhetische Literaturkritik – falls es sie je ganz gegeben hat – existiert also kaum noch. Die Spielräume wurden statt dessen durch Volkspädagogik begrenzt. Zur immer penetranteren NS-»Bewältigung« als dominanter Aufgabe der Nachkriegsautoren kamen inzwischen Wokeness-Erziehungsziele hinzu. Und jenseits dieser Vorgaben wartet kein vom Mainstream honoriertes belletristisches Heil.
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Gleichwohl verzichtet die Literaturkritik nicht auf ästhetische Bemäntelung. Allerdings sind die Kriterien inzwischen derart politisiert, daß scheinbar Kunsturteile spricht, wer ideologisch Unerwünschtes wegbeißt. Eine klassisch zirkuläre Autosuggestion literarischer Meinungstoleranz. Und so frohlockt man darüber, daß die früher angeblich künstlerisch Überschätzten längst aus dem Kanon verschwunden sind, während man hinter den Kulissen alles dafür getan hat, daß genau dies passierte. Ein Peter Wapnewski etwa begnügte sich, als er Fernau attackierte, nicht mit politischen Vorwürfen. Vielmehr unterstellte er zudem »Unbildung«, »schauderhaften Geschmack«, »Instinktlosigkeit« und »Geschichtsfälschung«.
Auch der Münchner Komparatistikprofessor Werner Ross drapierte seine abfälligen Urteile etwa über Kasack, Fernau oder Bergengruen ästhetisch und machte dadurch die Autoren für ihre literarhistorische Ausgrenzung letztlich selbst verantwortlich. »Es wäre ungerecht«, schrieb er doppelzüngig zu Bergengruens 100. Geburtstag, dessen Talent an seinen »wie unter Wiederholungszwang geschriebenen Reimereien zu messen, die damals freilich ein dringendes Bedürfnis nach Sinngebung und Seinsverklärung abdeckten. Aber er selbst hat es sich doch eingebrockt, wenn am Ende von diesen oft glücklich gefundenen, wunderbar leicht zusammenklingenden Versen nichts übrigblieb als die ›affirmative‹ Formel von der heilen Welt.« Die mangelnde Aufgeschlossenheit des Rezipienten geht so zu Lasten des Autors.
Das gilt auch für den damaligen Bestsellerautor Karlheinz Deschner, der Stilkritik an der älteren Garde mit ähnlichem Fanatismus trieb, wie er christliche Kirchengeschichte praktisch auf Kriminalstorys reduzierte. Dabei sind etliche seiner Monita eher schriftstellerische Eigenheiten oder Neuschöpfungen als Sprachverstöße, und ihre Kritik fällt in erheblichem Maß auf den Beckmesser zurück. Ähnliches belegt der sprachkritische Furor, mit dem Hans Magnus Enzensberger oder Walter Jens die »jahrelange Überschätzung« Gerd Gaisers beklagten, teils als Mischung politischer Motive mit Konkurrenzneid.
Und wie verräterisch absichtlich erweisen sich Marcel Reich-Ranickis Urteile, mit denen er Bergengruen für obsolet, Wiechert für uninteressant weltfremd, Johannes Mario Simmel durch seine NS-Kritik für reputabel und Gaiser für erledigt erklärte. Je nach Laune konzedierte er letzterem dabei Qualitäten oder sprach sie ihm ab. Gestand er 1963 in Der Fall Gerd Gaiser immerhin noch in »manchen Episoden der Sterbenden Jagd« und kleineren Erzählungen »eine außerordentliche Intensität der Darstellung« zu, polterte er 2008, er werde »nicht noch einmal diese meist ziemlich scheußlichen Bücher« lesen. 2010 wiederum nannte er ihn einen Nazi, der »leider nicht ganz unbegabte Bücher« geschrieben habe. Usw. ad libitum.
Weniger spektakuläre Dekanonisierungen betrafen Peter Bamm, Fred von Hoerschelmann und gar Carl Zuckmayer. Sie folgten scheinbar formalästhetischen Zeitgeist-Dekreten, wonach plötzlich »Opas Theater« oder nichtexperimentelle Hörspiele, die Geschichten erzählten und Charaktere vertieften, keine soziale Relevanz mehr besäßen. Auch die feinsinnige Glosse verschwand umgehend vom Tagesplan, wo heitere Belehrung als Verdrängung galt.
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Zur Durchsetzung neuerer Literatur- und Gesellschaftsvorstellungen dienten Buchverrisse, die fast den Charakter von Musterprozessen hatten. Wer irgendwie in verfänglicher Beziehung zur NS-Offizialkunst stand, wurde meist bereits in den 1970er Jahren literaturgeschichtlich erledigt. Indem man die moralischen Anforderungen für das Verhalten im Dritten Reich immer höher schraubte, gelang es, auch das Gros der Inneren Emigranten zu eliminieren. Da dies meist ältere Autoren betraf, taugten die Kriterien zusätzlich im Konkurrenzkampf der Generationen um Marktanteile.
Hinzu kam, daß Hochkaräter wie Oskar Loerke, Jochen Klepper, Josef Weinheber, Albrecht Haushofer und Felix Hartlaub den Krieg nicht überlebt hatten. Bis 1950 starben außerdem Gerhart Hauptmann, Wolfgang Borchert, Hans Fallada, Ricarda Huch, Elisabeth Langgässer und Ernst Wiechert. Das erleichterte die Aussonderung dieser Autorengruppe aus Bibliotheken und Kompendien oder zumindest die Zurückdrängung ihres Einflusses. Cancel culture mit dem guten Gewissen von »Bewältigern« und dem schlechten Effekt, daß die obsiegende neue »Kulturelite« nun weitgehend unter sich war.
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Kanonwürdig blieb (zunächst), wer schnellstens zu neuen politischen Ufern aufgebrochen war: Günter Eich etwa, Alfred Andersch, Wolfgang Koeppen oder Siegfried Lenz. Durch Fokussierung aufs Dritte Reich oder dessen angebliche Kontinuität avancierten Heinrich Böll und Günter Grass zu überlebensgroßen Repräsentanten eines neuen Deutschland und wurden bezeichnenderweise per Nobelpreis gekrönt. Martin Walser erfuhr ähnliche Wertschätzung, solange er sich als vergangenheitspolitisch dressiert zeigte. Wenn Joschka Fischer Auschwitz zum Gründungsmythos der Bundesrepublik erklärte, galt dies für deren Literaturkanon schon früher. Manche Peinlichkeit, wo allzu Beflissene feuilletonistische Bonuspunkte sammelten, nahm man in Kauf.
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Ein vergleichbar rigoroser Maßstab für die Linke trat niemals in Kraft. Sozialistische Texte, auch wo ihr Abgleiten ins Totalitäre partiell mißbilligt wurde, profitierten vom Exilopfer- oder (antikapitalistischen) Utopiebonus. Selbst ungeheuerliche Verstöße gegen Moral und Intellekt wie Heinrich Manns, Blochs, Feuchtwangers, Brechts oder Reglers Apologien der Moskauer »Säuberungen« unter Stalin diskreditierten die Autoren für spätere Schreibkarrieren nicht. Reich-Ranicki verteidigte sogar Ilja Ehrenburg und dessen haßvolle Propagandaartikel im Zweiten Weltkrieg. Etliche systemtreue DDR-Autoren wie Hermann Kant zählte man bis zur Wende zum erweiterten westdeutschen Lesebestand.
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Wenn je sich Levin L. Schückings These von der gezielten Beeinflussung der Wertungsprozesse bestätigte (vgl. Folge 1 meiner Serie in Sezession 107), dann gewiß in der Epoche der (frühen) Bundesrepublik. Denn in konzertierter Aktion verbanden sich gesinnungskonforme Rundfunkredakteure und Publizisten wie Ernst Loewy (Literatur unterm Hakenkreuz), Joseph Wulf (Literatur und Dichtung im Dritten Reich) und Franz Schonauer (Deutsche Literatur im Dritten Reich) mit scharfzüngigen Vertretern der »Gruppe 47«. Allen voran verständigten sich Walter Jens und Reich-Ranicki über Jahrzehnte wöchentlich in langen Telefonaten und steuerten systematisch den Kulturbetrieb.
Frank Schirrmacher, 2014 verstorbener langjähriger Feuilletonchef der FAZ, enthüllte, daß damals ausgehandelt wurde, »wer der literarische und geistige Repräsentant eines neuen Deutschland werden sollte. Jawohl, es gab Absprachen und Strategien, es wurden Geheimgespräche anberaumt und Bewerber sortiert, als ginge es um das höchste Amt im Staate.« Reich-Ranicki habe den (eher durchschnittlichen) Böll zum Starautor hochgeschrieben und ihm zum Nobelpreis verholfen, während »Namen wie Gerd Gaiser etwa, der die Hoffnung einer eher restaurativen Kulturkritik war«, längst aus den Lesebüchern entfernt worden waren.
Mit dieser Zurücksetzung wurde eine ästhetische Grundentscheidung für die vermeintlich einzig kanonwürdige BRD-Belletristik getroffen. Preisträchtig schreiben hieß: keine Darstellung mehr jenseits der Perspektive der Hauptopfergruppen des Nationalsozialismus, keine Einfühlung in tragische Verstrickungen, die aus dem Wertkonflikt von Patriotismus und der Unterstützung eines verbrecherischen Staates entstanden.
Mochte auch ein Gaiser in subtilen literarischen Sozialstudien der Mentalität der Kriegs- und Nachkriegsgesellschaft erheblich näher sein als ein auf moralische Denunziation ausgehender Koeppen – Verständnis galt als mangelnde Sensibilität und Verharmlosung einer letztlich jahrhundertelangen Misere, für die plötzlich wieder so etwas wie ein (wenn auch nur negativer) Volkscharakter zählte.
Thorsten Hinz (in der Jungen Freiheit, 3. September 2010) kommentierte diese Machenschaften der inoffiziellen Zensoren wie folgt: »Sowenig eine Literaturgeschichte der DDR geschrieben werden kann, ohne SED, Stasi und Zensurbehörden zu berücksichtigen«, gelte dies auch für den Kulturbetrieb der Bundesrepublik. »Ob und in welchem Ausmaß Geheimdienstaktivitäten« auch hier eine Rolle spielten, wäre ein interessantes Forschungsthema. »Die Annahme jedenfalls scheint naiv und bar jeder Lebenswirklichkeit, daß eine der wichtigsten Produktionsstätten des bundesdeutschen Bewußtseins von entsprechender Einflußnahme verschont geblieben sei.«
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In Literatur und Theater zeigt sich also ein vergleichbarer Effekt wie im Verhältnis postdemokratischer Eliten zu populistischen Erwartungen. Denn die in Folge 1 erwähnten hohen Auflagen von Autoren wie Werner Bergengruen, Peter Bamm, Joachim Fernau, Siegfried von Vegesack, Georg Britting oder Eugen Roth, die von zeitgenössischem Leserinteresse zeugen, spielten für die literarhistorischen Kanonisierungsprozesse, die schnell in andere, vermeintlich »kompetentere« Händen gerieten, fast keine Rolle mehr. Bereits 1954 konstatierte der Bestsellerautor Ernst von Salomon: »Noch nie war die Diskrepanz zwischen öffentlicher und der nichtöffentlichen Meinung so groß wie heute.«
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Nun zu den Ausnahmen: An der Deklassierung von Gottfried Benn und Ernst Jünger haben sich ihre Verächter die Zähne ausgebissen. Das lag einerseits an deren überragendem stilistischen oder intellektuellen Rang, andererseits an der Streitbarkeit ihrer Anhänger, die dem Mainstream zum Trotz an ihnen festhielten. Bei Benn kam hinzu, daß er sich äußerst geschickt verteidigte und seine Verstrickung in Doppelleben und im »Berliner Brief« offensiv und provokativ zur Sprache brachte.
Selbst eine Radiodiskussion mit dem Exilanten Peter de Mendelssohn entschied er für sich. Auch harmonierte sein heroisch-nihilistischer Isolationismus mit dem Lebensgefühl vor allem der Nachkriegsjugend in ihrer Tendenz zur absurden Lagemusterung. Bei Jünger wiederum ergab sich ein merkwürdiger Effekt: Viele seiner (68er) Gegner brauchten ihn als Watschenmann, aber bewunderten ihn gar heimlich.
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Nicht immer erfolgten Abwertungen, weil man dreiste autobiographische Fälschungen entdeckt hat. Ein Teil der »Entlarvungen« resultierte aus verschärften »Sensibilitäts«-Normen. So warfen Nachgeborene nun etwa sogar der »Gruppe 47« vor, Paul Celan, dessen »Todesfuge« heute zum lyrischen Memento des Holocaust schlechthin erhoben ist, bei einer mißglückten Lesung schäbig behandelt zu haben. Daß man dessen pathetischen Vortragsstil schlicht als unangemessen antiquiert empfand, genügte nicht zur Erklärung, wo der »Antisemitismus«-Vorwurf (Klaus Briegleb) mittlerweile inflationär kursiert.
Die simple Frage, warum man Celan überhaupt kontaktiert hatte und das einflußreiche 47er-Mitglied Walter Höllerer danach noch jahrelang mit ihm korrespondierte oder ihn nach Berlin einlud, blieb ungestellt. Und warum wurden andere jüdische Kulturschaffende wie Erich Fried, Wolfgang Hildesheimer, Peter Weiss, Hans Mayer oder Ilse Aichinger zur Tagung gebeten, von Reich-Ranicki ganz zu schweigen? – Die »Gruppe 47« mag manches Fatale verantworten müssen, dieser Verdacht aber geht fehl.
Abwegig erscheinen gewisse neuere Phobien gegenüber Erich Kästner. Einige Biographen und Editoren nehmen es ihm quasi übel, daß er im Dritten Reich trotz Schreibverbots beruflich überlebte und gut verdiente. Statt zu applaudieren, wie er die Reichsschrifttumskammer in riskanten Täuschungsmanövern austrickste und wie viele couragierte Freunde ihm dabei halfen, indem sie statt seiner als angebliche Verfasser zeichneten, senken »Moralisten« die Daumen.
Allen voran Sven Hanuschek in seiner unelegant kompilierten Kästner-Biographie, bestückt mit (vermeintlich) belastenden Zeugnissen. Sein unappetitliches Wühlen in Muttchen-Briefen oder denen diverser Liebschaften entbehrt jeder Distanz zum literarischen Forschungsgegenstand. Darüber hinaus vermanscht er das aktive Sexualleben des Autors mit politischen Urteilen. Und Hermann Kurzke, dem – eigenen Worten zufolge – kein Innerer Emigrant seinem »Herzen wirklich nahe« steht, sekundierte in zwei FAZ-Rezensionen mit sprechenden Titeln wie »Zu glatt und zu schlau« (13. April 1999) und »Der mit den Wölfen heulte« (3. Januar 2001). Hier ein Auszug seiner peinlichen Politschelte:
Kästner war ein Pharisäer. Sein Werk ist auf etliche Lügen gebaut. Es ist zu glatt und zu schlau, noch in der Opposition immer auf der sicheren Seite, dünn bei aller Eleganz. […] Kästner war einer der großen Lieferanten der Unterhaltungsindustrie des Dritten Reiches. Er hat bis 1943 ausgezeichnet verdient […]. Bei Kriegsende war er, als »zwölf Jahre Verbotener«, natürlich gleich wieder auf der Siegerseite. Er war kein Nazi, gewiß nicht, aber ein scheinheiliger Opportunist bisweilen doch ohne Zweifel. Deshalb sind seine Urteile über den Nationalsozialismus so klischeehaft, so unbeteiligt und so dürftig, deshalb gelingt ihm nach 1945 kein bedeutendes Wort über die zwölf Jahre. Er hätte ja über seine Verstrickung reden müssen.
Ein starker Tobak voller Selbstgerechtigkeit: Da beschimpft ein wohlbestallter Ordinarius, der, vom angehimmelten Reich-Ranicki gepusht, als finanzielles Zubrot so manches Publikations- und Vortragshonorar einstrich, einen Schriftsteller, nachdem er als dessen Editor im Rahmen der Werkausgabe zunächst noch tüchtig abgesahnt hat. Es stimmt, Kästner darbte nicht, weil er stets Unterstützer fand – ein couragiertes Schelmenstück, das mir höchste Bewunderung abnötigt. Denn alles Schreiben vollzog sich unter dem Damoklesschwert persönlicher, nicht nur beruflicher Gefährdung. Das wiederum haben die moralistischen Haudraufs Hanuschek, Kurzke oder Anatol Regnier (Jeder schreibt für sich allein) als Fische im Mainstream persönlich nie erlebt.
Kästner verfaßte ein gut dotiertes Drehbuch zu einem international bewunderten Münchhausen-Film, das sogar einige ideologische Konterbande transportierte, und tat sonst manches im Kampf mit den Behörden, um auch in dunklen Jahren weiterhin schreiben zu können. Aber in seinen Publikationen ist nichts, was er nachträglich bereuen müßte. Und wer wie Heinrich Detering von »Kollaboration« und beim Münchhausen-Film von »Teufelspakt« und einem »nicht abzuwischenden Braunschleier« schwadroniert, verantwortet eine denunziatorische Wortwahl. So weit sollte Hypermoral (»Es gibt kein richtiges Leben im falschen«) nicht verschärft werden, daß in einer Diktatur jeder Unterhaltungstext der Ächtung verfällt.
Kästner, wie fast alle zeitgenössischen Autoren, hat oppositionelle Meriten nach dem Krieg ein wenig aufgebauscht, wobei sich übrigens Bücher füllen ließen mit ebenso leicht widerlegbaren Legenden von unerschrockenen Exilheroen wie etwa Stephan Hermlin. Nachträglich Ergänztes in Notabene 45 läßt Kästner zuweilen etwas »prophetischer« erscheinen. Doch später Hinzugefügtes findet sich bei fast allen Verfassern selbstedierter Tagebücher.
Zuweilen sogar zum Vorteil des Lesers, weil kurze, kryptische oder aus Sicherheitsgründen unausgeführte Notizen nun expliziert werden können. Immerhin wird die Tendenz der Notizen per Ergänzung nicht grundsätzlich verfälscht. Nachkriegsbedingt verstärkt wird lediglich der Groll gegen eine ahnungslos-moralistische Sicht vom Ausland her. Dies wiederum galt der nachgeborenen Orthodoxie nun als Sakrileg.
Als letzter Beleg diene Jan Philipp Reemtsmas Wüten gegen Wolfgang Borchert, besonders gegen dessen »Das ist unser Manifest«. »Helm ab: – Wir haben verloren!« heißt es darin zu Beginn. »Die Kompanien sind auseinandergelaufen. […] Nur die Heere der Toten, die stehn noch. Stehn wie unübersehbare Wälder: dunkel, lila, voll Stimmen. […] In unsern Kochgeschirren holen magere Kinder jetzt Milch. Magere Milch. Die Kinder sind lila vor Frost. Und die Milch ist lila vor Armut. / Wir werden nie mehr antreten auf einen Pfiff hin und Jawohl sagen auf ein Gebrüll. […] Wir werden weinen, scheißen und singen, wann wir wollen. Aber das Lied von den brausenden Panzern und das Lied von dem Edelweiß werden wir niemals mehr singen. Denn die Panzer und die Feldwebel brausen nicht mehr und das Edelweiß, das ist verrottet unter dem blutigen Singsang.«
In diesem Sinne geht es weiter als Bilanz einer Generation, die alles verloren hat. Doch dann wechselt die Tonart, und der Autor empfiehlt, »diese gigantische Wüste, die Deutschland heißt«, zu lieben. Gerade jetzt »wie die Christen ihren Christus: Um sein Leid.« Es folgt eine Auflistung von Gesellschaftsgruppen, die geschlagen und von der Geschichte widerlegt sind in ihrem »gebrochenen Stolz«, ihrem Schwatzen und »verkohlten Heldenkostüm«, ihrer ruinierten (Mutter-)Liebe, ihrer »Not und Demut« und »in all ihrer Erbärmlichkeit«: »Denn das ist Deutschland. Und das wollen wir lieben, wir, mit verrostetem Helm und verlorenem Herzen hier auf der Welt.«
Keine tagespolitische Handlungsanweisung bietet der Text, eher ein Manifest in expressionistischem Geist. (1918, in ähnlicher Lage unter Losern, wollte auch Franz Werfel lyrisch die ganze Welt umarmen: »Mein einziger Wunsch ist, Dir, o Mensch, verwandt zu sein!«) Der Kern dieses Aufrufs liegt in der Aufforderung, der Katastrophe nicht auch noch die große gesellschaftliche Spaltung folgen zu lassen.
Was macht Reemtsma daraus? Er sieht in allem nur die »Unfähigkeit oder besser Unwilligkeit, den nötigen Aufbau anders denn als Wiederaufbau zu denken«: »Hitler war man los, von der Volksgemeinschaft wollte man nicht lassen in Trotz und Larmoyanz«: »Und nachdem wir nun also auch den Opa lieben, der im Kreise seiner Enkel von den umgemähten Iwans schwärmen darf – vielleicht waren es ja auch die Kriegsgefangenen, deren Baracke die Soldaten zunächst in Brand steckten, um dann die, die sich retten wollten, auf der Flucht zu erschießen? – nachdem wir also auch diesen Heldengroßvater lieben sollen, wäre ja die Bagage komplett, das ganze Deutschland soll es sein: ›Denn sie sind Deutschland. Und dieses Deutschland sind wir doch selbst. Und dieses Deutschland müssen wir wieder bauen‹, von Hölderlin bis Höß, nein, Pardon, nur bis Baldur von Schirach«.
Das ist so denunziatorisch platt, wie ein Stargermanist von heute eben nur zu formulieren vermag, dem die existentielle Not des Jahrgangstyps Borchert niemals wirklich naheging (vgl. Günter Scholdt: »›… und bin doch selbst ein Schiff in Not!‹«, in: Junge Freiheit, 18. November 2022). In seiner bigotten Engstirnigkeit konnte einer, der Hunger und Mangel nie wirklich fühlen lernte, einer, der das Deutschland-Erbe wie das geistige seines NS-belasteten Vaters ausschlug, um sich mit dessen materiellem zu begnügen, sich Borcherts gewünschte Nachkriegsversöhnung nur als verbrecherische NS-Volksgemeinschaft denken. Seine mit Unterstellungen gespickte Zitatcollage belegt es: Kein Strafgericht bis ins dritte oder vierte Glied wollte dieser Borchert, keine mitleidlose Selbstzerfleischung. Das mußte anrüchig sein.
Verschwiegen hat Reemtsma das Wichtigste. Daß Borchert sich nämlich nicht mit blutigen Verirrungen solidarisierte, sondern mit Geschlagenen im Leid, mit der Erbärmlichkeit ihres zusammengebrochenen Weltbilds, ihrer verlorenen Hoffnungen und mit sinnlosen, wenn nicht gar in Schuld ausschlagenden Opfern. Ihnen galt seine Sympathie, nicht den von Reemtsma herbeiphantasierten erneuten Greueln. Immerhin stand er damit gegen die Säuberungsagenda nachgeborener Orthodoxie, die uns jene noch andauernde gesinnungsschnüffelnde Erziehungsdiktatur beschert hat.
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Folge solcher Kriterien-Übereinkunft ist Uniformität, eine Literaturszene ohne ernsthaften Konterpart, wobei Autoren mit dem vererbten Anspruch von Provokateuren ständig denselben Mainstream in die Kulturkanäle leiten. Die sich so emphatisch auf die kämpferischen Koryphäen der Weimarer Kultur berufen, vergessen, daß jene literarische Blüte nicht zuletzt daher rührte, daß die heutigen Lieblinge von damals nichts weniger als »korrekt« waren.
Nicht nur links gegen rechts, auch untereinander droschen die Brecht, Benn oder Kisch, Tucholsky, Döblin (»Ein Kerl muß eine Meinung haben«) oder Benjamin aufeinander ein wie Hooligans bei Fußballderbys. Fast jeder zweite Rowohlt-Bestseller war im heutigen Sinne anrüchig oder »umstritten«. Nicht betulich gegen »Mißverständnisse« vielfach abgesichert wie gegenwärtig.
Schon ein Botho Strauß galt »Wachsamen« der BRD-Kultur ja als so dubios, daß sich etliche Intellektuelle von seinem Bocksgesang ins Bockshorn jagen ließen. Auch Uwe Tellkamp oder Monika Maron, ja selbst Christian Krachts Imperium verbannte man ins Skandalkataster. Wer gegen den gängigen Tugendkatalog verstößt, entfernt sich aus den Zirkeln, die Subventionen verteilen, und riskiert in existenzgefährdender Weise Verlags- und Aufführungschancen.
Als Novum in der Intellektuellengeschichte attackieren unsere Staatsschreiber wie die karnevalistischen Narren in der Bütt nicht mehr die Regierung, sondern die Opposition. Konsequenz einer Dauerexistenz im Echoraum eines Kulturmilieus, das diejenigen prägten, die in der Jugend als fröhlich-anarchistische Huren begannen, um als Betschwestern der political correctness zu enden.