Am 23. Mai 2020 veröffentlichte der italienische Philosoph Giorgio Agamben auf den Netzseiten des außeruniversitären Istituto Italiano per gli Studi Filosofici einen kurzen Text mit dem Titel »Requiem für die Studenten« (»Requiem per gli studenti«). (1)
Darin diagnostiziert Agamben das durch die Corona-Maßnahmen, insbesondere durch die vollständige Umstellung auf Online-Lehre, bedingte Ende der Universität. Konkret beklagt er eine »neue telematische Diktatur«, an deren Etablierung insbesondere all jene Dozenten Schuld trügen, die bereit gewesen seien, ausschließlich virtuellen Unterricht anzubieten. Er bezeichnet die entsprechenden Hochschullehrer sogar als das »vollkommene Äquivalent« zu denen, die 1931 der faschistischen Regierung die Treue geschworen hatten.
Die Studenten wiederum, die wahrhaft von der Liebe zum Studium erfüllt seien, dürften sich nicht mehr in durch die »technologische Barbarei« korrumpierte Institutionen einschreiben, sondern müßten neue Universitäten gründen. Nur so, wenn überhaupt, könne das Erbe der Universität gerettet und in eine neue Kultur überführt werden.
Agamben war jahrzehntelang ein Liebling der linken, postmodernen Intelligenzija. Mit seiner frühen und schonungslosen Kritik an der Gesundheitsdiktatur, die sich unter dem Deckmantel der Pandemiebekämpfung rapide auf der ganzen Welt ausbreitete, fiel er bei seinem einstigen Hauptpublikum jedoch rasch in Ungnade. Einer der bekanntesten Philosophen der Gegenwart galt auf einmal als Querdenker und Schwurbler.
Dabei hatte Agamben seine Überzeugungen kein bißchen geändert. Sein an Aristoteles, Heidegger, Schmitt und Foucault geschultes Denken kreiste von jeher um den Zusammenhang zwischen Ausnahmezustand, politischer Macht und der Verfügungsgewalt über Leib und Leben. (2) Die akademische Elite, die ihn zuvor gefeiert hatte, wandte sich just in dem Moment von ihm ab, in dem die Wirklichkeit seine Theorie zu bestätigen begann.
Für Dissidenten mit Realitätssinn kann dies freilich nur bedeuten, sich um so ernsthafter mit Agambens Überlegungen auseinanderzusetzen. Das gilt auch für seine Intervention zum Niedergang der Universität. Ist doch gerade die Hochschule als Keimzelle, Inkubationsraum und Superspreader von Ideen und Ideologien, die die Welt beherrschen, metapolitisch von höchster Bedeutung.
Wer den Niedergang der Universität, der allerdings schon lange vor Corona begann, richtig einschätzen möchte, muß zunächst den Ursprung dieser Institution verstehen. Die Universität Bologna behauptet von sich, die erste Universität überhaupt zu sein, und verweist dazu auf ihre Gründung im Jahr 1088. Einer historischen Überprüfung hält dieses Datum jedoch nicht stand. Historiker schätzen, daß die Universität Bologna eher Ende des 12. Jahrhunderts entstanden sein dürfte. Allerdings ist eine genaue Datierung gar nicht möglich, denn die Geschichte der ersten Universitäten begann nicht mit einem einmaligen, offiziellen Akt. Vielmehr kristallisierten sich universitäre Strukturen erst allmählich heraus, indem sich eine größere Zahl von Studenten um verschiedene, selbständig arbeitende Gelehrte in einer Stadt scharte.
Der Ausdruck »universitas« stand im Mittelalter zunächst ganz allgemein für eine Vereinigung oder Korporation. Eine Vereinigung zum Zwecke des Studiums (»universitas studii«) war daher zunächst nur eine »universitas« von vielen, die aber schon bald eine ganz eigene und neuartige Organisationsform aufwies. Zu dieser gehörte neben der Gliederung in die vier klassischen Fachbereiche der freien Künste (»artes liberales«), der Medizin, der Juristerei und der Theologie auch, daß sich die Studenten gemäß ihrer Herkunft zu »nationes« zusammenschlossen.
Weil aber die Institution »Universität« nicht von Technokraten am Reißbrett entworfen wurde, sondern sich organisch entwickelte, entstanden statt eines gleich zwei Grundmodelle: Neben der Studentenuniversität (»universitas scholarium«), wie sie in Bologna zum erstenmal aufkam, etablierte sich auch eine Universität der Magister (also der Lehrer). Dies geschah erstmals in Paris zu Anfang des 13. Jahrhunderts. In beiden Fällen beanspruchten die Universitäten für sich und ihre Mitglieder bestimmte Rechte und Freiheiten, die ihnen dann nach und nach durch Kaiser, König oder Papst gewährt wurden.
Handfeste ökonomische und politische Interessen spielten bei der Herausbildung der Universitäten zweifellos eine wichtige Rolle. Die Städte profitierten vom Zuzug auswärtiger Studenten. Diese wiederum versprachen sich von einem fundierten Studium, insbesondere dem Studium des Rechts, pekuniäre und berufliche Vorteile in der Zukunft. Die Herrscher schließlich hofften auf eine gleichermaßen gebildete wie treue Elite. Nicht von ungefähr bemühten sich die weltlichen und kirchlichen Mächte schon bald darum, die Gründung von Universitäten zu fördern oder selbst welche zu gründen.
Trotz allem soziologischen Realismus wäre es aber falsch, den »amor sciendi«, die Liebe zum Wissen, als den alles entscheidenden Faktor für das Aufkommen der Universitäten zu ignorieren. (3) Idealistisches Wahrheitsstreben einerseits und soziale Vorteile andererseits schlossen sich im Fall der Universität des Mittelalters nicht nur nicht aus, sondern bedingten sich wechselseitig. (4)
Institutionen im allgemeinen zeichnen sich durch ein ihnen eigenes Ethos aus. Das ist auch im Fall der Universität so. Der Schweizer Altphilologe und Universitätshistoriker Walter Rüegg, der auch als Herausgeber des vierbändigen Standardwerks Geschichte der Universität in Europa fungierte, hat sieben Aspekte des ursprünglichen akademischen Ethos identifiziert: (5)
- den Glauben an eine vernünftig eingerichtete und als solche durch den Menschen zumindest prinzipiell erkennbare Schöpfung Gottes;
- die Überzeugung, daß der Mensch ein gefallenes Wesen sei, dessen Intellekt trotz aller Erkenntnisfähigkeit durch den Sündenfall enge Grenzen gesetzt seien, was vom Gelehrten Tugenden wie Bescheidenheit, Bereitschaft zur Selbstkritik und Offenheit für die Kritik durch andere erfordere;
- die Achtung vor dem einzelnen als dem Ebenbild Gottes, der aufgrund dieser Ebenbildlichkeit ein vernünftiges und freies Wesen sei, woraus sich die Forderung nach der Freiheit von Forschung und Lehre ableite;
- ein nichtrelativistisches, weil in Gott als dem absolut Wahren selbst gründendes Verständnis von Wahrheit, aus dem sich bestimmte epistemische Pflichten ableiteten: die Pflicht, die eigenen subjektiven Behauptungen an geltenden objektiven Standards zu messen, die Pflicht, das als objektiv wahr Demonstrierte als solches anzuerkennen, und die Pflicht, sich Einwänden im Rahmen öffentlicher Argumentation und Diskussion zu stellen;
- das Hintanstellen monetärer Interessen und wirtschaftlicher Erwägungen angesichts der Liebe zum Wissen um des Wissens willen;
- die Auffassung der eigenen Forschungsarbeit als »reformatio«, wobei dieser Ausdruck im Mittelalter gerade nicht Innovation, sondern die Wiederherstellung der wesensmäßigen Form einer Sache meinte. Die Liebe zum Wissen war daher auch immer die Liebe zur Tradition des Wissens. Die Gelehrten und die Forscher des Mittelalters sahen sich selbst stets als Zwerge, die nur deshalb weiter als ihre Vorfahren blicken konnten, weil sie auf den Schultern dieser Riesen standen. Dazu paßt auch, daß schon die ersten Universitäten eine Selbstmythologisierung ihres Ursprungs pflegten, wodurch die eigene Neuartigkeit verdeckt werden sollte: In Bologna zirkulierte Anfang des 13. Jahrhunderts ein gefälschtes, auf 423 n. Chr. datiertes Gründungsdokument von Kaiser Theodosius II., und die Universität Paris behauptete von sich, sie sei von Karl dem Großen gegründet worden;
- die Akzeptanz einer rein wissenschaftlichen Meritokratie, die soziale und nationale Unterschiede gleichgültig mache.
Vergleicht man diese historisch verwirklichte Idee der Universität mit der akademischen Realität des 21. Jahrhunderts, so wird man einen enormen Verfall attestieren müssen. Weder der Bezug auf Gott noch der Bezug auf den Menschen als gefallenes Wesen spielen für die heutige Universität als solche noch eine entscheidende Rolle. Während der Glaube an Gott einerseits den Bezug auf eine absolute Wahrheit garantierte, stellte der Glaube an die gefallene menschliche Natur andererseits die prinzipielle Fehlbarkeit der Gelehrten und die Revidierbarkeit ihrer Wissensansprüche sicher.
Heute hat sich dagegen an zahlreichen Fakultäten, und zwar nicht mehr nur an den geisteswissenschaftlichen, der Ungeist des Relativismus ausgebreitet, der die Existenz einer absoluten Wahrheit leugnet. Dazu gegenläufig hat sich zugleich ein Kult um »die« Wissenschaft und ihre Experten herausgebildet. Ein Trend, der während der Pandemie in einer regelrechten Scientokratie (»Trust the science!«) gipfelte. Über Bord geworfen wurde dabei nicht nur die Einsicht in die Fehlbarkeit und Revisibilität wissenschaftlicher Thesen, sondern auch die für die mittelalterliche Universität selbstverständliche Bereitschaft, sich öffentlich Gegenargumenten und Einwänden zu stellen.
Unabhängig von der Pandemie sind inzwischen ganze Forschungsfelder aus ideologischen Gründen abgeriegelt worden. Im August 2022 veröffentlichte die zu Springer Nature (einem der weltweit größten wissenschaftlichen Verlagshäuser) gehörende Fachzeitschrift Nature Human Behaviour ein wegweisendes Editorial. Unverblümt verkündeten darin die Herausgeber, daß von nun an keine Beiträge mehr angenommen würden, die als »rassistisch, sexistisch, ableistisch oder homophob« empfunden werden könnten. Der Psychiater Wolfgang Meins, der diesen Fall auf den Netzseiten von Tumult aufarbeitet, hat korrekt darauf hingewiesen, daß »mit diesen ab sofort gültigen Vorgaben selbst immer wieder bestätigte und als gesichert anzusehende Befunde nicht mehr veröffentlichungsfähig sind.« (6)
Das betrifft insbesondere, aber nicht ausschließlich, die Intelligenzforschung, insofern sie sich beispielsweise mit kognitiven Unterschieden zwischen den Geschlechtern oder den IQ-Differenzen zwischen verschiedenen Populationen beschäftigt. Die Liste des Nicht-mehr-Thematisierbaren ließe sich freilich um viele weitere Punkte fortsetzen. Denn als hinreichender Grund, über etwas nicht mehr öffentlich nachdenken zu dürfen, gilt im Fall dieses Journals ganz offiziell, daß sich jemand, der einer der sozial anerkannten Opfergruppen angehört, beleidigt fühlen könnte.
Im selben Maße, wie in den letzten Jahren die Forschung eingeschränkt worden ist, hat sich auch das, was im Rahmen der Lehre sagbar ist, auf dasjenige verengt, was der Ideologie der unterschieds- und hierarchielosen »diversity« nicht widerspricht. Was schließlich die Lehrstuhlberufungen betrifft, beklagte bereits Max Weber 1919 in seinem Vortrag »Wissenschaft als Beruf« eine Kultur der Mittelmäßigkeit. (7) In der Zwischenzeit ist die meritokratische Ordnung an den Universitäten aufgrund der Förderung von ideologischen Mitläufern und Minderheiten mit Opferstatus gänzlich zum Einsturz gebracht worden.
Zu dieser fatalen Entwicklung gehört auch, daß der »amor sciendi« einer neoliberalen Logik zum Fraß vorgeworfen wurde, die zwar nicht die persönliche Bereicherung der Universitätslehrer, dafür aber um so mehr das Beschaffen finanzieller Mittel zum Selbstzweck erhoben hat: Wer heute die akademische Karriereleiter erklimmen möchte, muß vor allem in der Lage sein, Drittmittel einzuwerben. Alles in allem wird man festhalten dürfen, daß anstelle der sich selbst reformierenden (im Sinne des oben erläuterten »reformatio«-Gedankens) die deformierte Universität getreten ist.
Die von Agamben beklagte Entwicklung hin zum virtuellen Fernunterricht, die durch die Corona-Maßnahmen einen entscheidenden Schub erhalten hat, ist so gesehen bloß ein weiterer Nagel im schon lange zuvor gezimmerten Sarg der Universität. Allerdings liegt in Agambens Kritik an der Online-Lehre eine besondere Brisanz für mögliche Alternativen zum universitären Status quo. Projekte wie die rechte GegenUni verstehen sich nämlich als rein digitale Akademien. Damit unterwerfen sie sich aber genau jenem telematischen Regime, das Agamben so scharf kritisiert.
Das Hauptproblem an dieser Art des Studiums besteht in einem Mangel an dauerhafter leiblicher Kopräsenz, die die Grundvoraussetzung dafür bildet, daß sich so etwas wie eine universitäre Lebensform überhaupt herausbilden kann. Und um eine Lebensform handelt es sich bei der Universität – zumindest ihrem Ursprung und ihrer Idee nach. An einer Universität zu studieren heißt, das eigene Leben im ganzen für einen längeren Zeitraum in Gemeinschaft mit anderen der Liebe zum Wissen zu widmen. Der Besuch von Seminaren und Vorlesungen ist davon nur ein Teil. Es sind, wie Agamben richtig sieht, gerade die im Anschluß an die offiziellen Veranstaltungen sich ergebenden Aktivitäten unter Kommilitonen, die zum Kern des Studierens gehören.
Andererseits ist die Vorstellung, eine Alternative zur Universität, wie sie heute existiert, könne ohne die telematischen Möglichkeiten des Internets auskommen, schlichtweg naiv. Das außergewöhnliche Potential des Netzes, die korrupten universitären Torwächter des Wissens zu umgehen, kann nicht ernsthaft geleugnet werden. Neo-Ludditen, die von der Zerschlagung des Internets und der Rückkehr in eine technologiefreie Vormoderne phantasieren, sollten daher kein Gehör erhalten. Sie reproduzieren nämlich nur das alte Muster des stets verlierenden Konservativen / Rechten, das Simon Kießling jüngst in Das neue Volk trefflich aufgespießt hat. (8)
Wer entgegen der Logik historischer Entwicklungen von einer Rückkehr in vergangene Zeiten träumt, kann gar nicht gewinnen, weil ihm der Blick für den Weg ins Offene fehlt. Jedoch sind alle, die an einer Zukunft der Universität arbeiten, aufgerufen, darauf zu achten, sich nicht zu Gefangenen der neuen technologischen Mittel zu machen. Wenn die Universität überleben soll, müssen mittelfristig alternative Institutionen entstehen, die auch das dauerhafte Zusammensein an einem realen Ort und damit das Studentsein als Lebensform wieder ermöglichen. Die neue Universität wird niemals bloß ein Duplikat der alten »universitas studii«, sondern nur ihre »reformatio« unter den telematischen Bedingungen des 21. Jahrhunderts sein können.
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(1) – www.iisf.it
(2) – Vgl. v. a. Giorgio Agamben: Homo sacer. Die souveräne Macht und das nackte Leben, Frankfurt a. M. 2002.
(3) – Vgl. dazu Herbert Grundmann: Vom Ursprung der Universität im Mittelalter, Berlin 1957, S. 39: »Primär aber und konstitutiv, wahrhaft grundlegend und richtungsweisend für Ursprung und Wesen der Universitäten als ganz neuartiger Gemeinschaftsbildung, Lehr- und Lernstätten sind weder die Bedürfnisse der Berufsausbildung oder der Allgemeinbildung noch staatliche, kirchliche oder sozialökonomische Impulse und Motive, sondern – kurz gesagt – das gelehrte, wissenschaftliche Interesse, das Wissen- und Erkennenwollen.«
(4) – Vgl. Walter Rüegg: Geschichte der Universität in Europa, Bd. I: Mittelalter, München 1993, S. 11.
(5) – Vgl. ebd., S. 46 f.
(6) – Wolfgang Meins: »Es ist später, als du denkst. Zum Stand der Forschungsfreiheit«, in: tumult-magazine.net/blog
(7) – Vgl. Max Weber: »Wissenschaft als Beruf«, in: ders.: Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, Tübingen 1922, S. 524 – 555.
(8) – Vgl. Simon Kießling: Das neue Volk, Schnellroda 2022.