Die Menschheit, so die These, lebe nicht auf, sondern in einer Kugel.
In den vierziger Jahren werden die Nationalsozialisten diesen »wissenschaftlichen Verdacht« kurz ernsthaft untersuchen. Im April 1942 nimmt eine Expedition auf Rügen ihre Fahrt auf. Radarspezialisten sollen erkunden, ob die Erde nicht nach innen gewölbt sei – die Menschheit also die Innenseite einer Kugel bewohne. Zugleich hofft man, durch Reflexion Aufnahmen der bei Scapa Flow (Orkney-Inseln, Schottland) ankernden englischen Flotte zu erhalten. (Ähnliche wissenschaftliche Anstrengungen wurden damals übrigens auch zum Erweis der »Welteislehre« erbracht, wonach die Welt durch Splitterstücke des »Eis«-Mondes einer kalten Klimakatastrophe gegenüberstünde.)
In Monde vor der Landung zeichnet Büchnerpreisträger (2021) Clemens J. Setz die Geschichte des Peter Bender auf. Er unterfüttert diese schier unglaubliche, wahre und traurige Biographie hier und da mit echten Dokumenten, Abbildungen von Briefen und Fotos.
Was wirklich los war in Peters Benders Kopf, ist freilich ausgedacht – allerdings in ungeheurer Kunstfertigkeit: Setz (geboren 1982 in Graz, wohl karrierebedingt abgebrochenes Mathematikstudium, Genieverdacht, Waldschrat-Attitüde mit Hut und Zottelbart, einige idiosynkratische Veröffentlichungen) hat ein so fesselndes wie berührendes Meisterwerk vorgelegt. Setz gelangt nämlich tatsächlich auf die Innenseite einer Welt – nämlich die von Benders (im Ersten Weltkrieg schwer verletztem) Schädel.
Seine Hohlweltlehre allerdings hatte Bender bereits vor seinem Kriegstrauma entwickelt. Er stand mit dieser Idee keineswegs allein: Bender hatte Kontakt zu allerlei »Spezialisten« seines Forschungsgegenstands wie den »renommierten« Astrologen Johannes Lang und Karl Neupert; die Begegnungen werden so schillernd wie lakonisch berichtet. Bender hält Vorträge, ignoriert das Gelächter und imaginiert sich eine »Menschheitsgemeinde« von Getreuen, die außer von der Hohlwelt auch von der »Quadratgestalt der Geschlechter« überzeugt sei.
Liebe sei »nur möglich über die Kreuzesstellung«, »eine Polarität in der horizontalen Art.« Es müsse immer zwei Männer und zwei Frauen geben, die einander liebten. Bender kann das überzeugend ausführen – zumindest überzeugend für seine (jüdische) Ehefrau Charlotte und seine Affären. Dem Leser flackern die Augen.
Öde wird es nie. Dafür sorgt Setz’ Empathiegabe: Komm rein in diesen Schädel!, und man folgt ihm tatsächlich fast atemlos. Wir erleben hier das Deutschland der 1910er bis 1940er Jahre aus der Sicht eines hochbegabten Kranken. Luther, Hitler, Bender – alle enden auf ‑er! Kann doch kein Zufall sein!
Immer wieder stellen sich bei Bender »entsetzliche Gefühle« ein, ein »mulmiger Kernbrand der Seele«, ihm wird »dumpf und langweilig ums Herz.« Bender ist besessen von Nietzsche, Sonnenflecken, dem Nibelungenkampf, dem »Fußabdruck« (wie kann nur ein Fußabdruck sein?) bei Robinson Crusoe und »offenkundigen Zeichen« allgemein. Alles ist Zeichen. Bender ist mehr als hellhörig. Jedes Hüsteln, jeder Gruß oder Nicht-Gruß: ein Zeichen! Manche Zeichen aber muß man einfach übergehen, alles andere wäre unökonomisch, meint er.
Etwa, als die jüdische Nachbarin überfallen wird: Na ja, bös, aber es war ja rasch vorbei. Oder als die politischen Einschläge noch näher kommen: Bender bleibt heiter, es geht ja um eine größere Sache, um die ganze Welt nämlich, alles andere muß man irgendwie großzügig einordnen. Charlottes Nachhilfeschüler danken ab, weil sie nicht von einer Jüdin unterrichtet werden wollen. Bender – »Griff an die Schädelnaht« – aber überlegt, ob Charlotte sich stets korrekt verhalten habe. Interessant übrigens die Schilderung, wie das Ehepaar bereits 1917 sowohl antijüdische als auch antideutsche Attacken erlebt – nämlich in Posen durch polnische Nationalisten. Bender stirbt 1944 (als »geisteskrank« etikettiert) in Mauthausen, Charlotte kurz darauf in Auschwitz.
Dieser Roman von Clemens J. Setz zählt aufgrund der Prominenz des Autors zu den Büchern, die gleich nach Erscheinen von sämtlichen Leitmedien (also: deren Feuilletons) besprochen werden. Nahezu einhellige Einschätzung: ein echtes Meisterwerk. Nun, man sollte sich hüten, zwangsläufig zu widersprechen, nur weil man sich ein »etiam si omnes, ego non« zur Maxime erklärt hat. Also: Dieses Buch ist formidable Kunst. Eine Kritikerin (Süddeutsche Zeitung) tadelte den Autor, weil er sich »die Spannung von den Nazis« schenken lasse. Sie habe sich nach der Lektüre »gründlich waschen« wollen. Fast sieht man sie in der Nachfolge Benders …
Peter Bender, der seinen Vornamen zunächst als Petrus = der Fels, dann als Rock = Rocket = Rakete definiert, ahnt den Absturz für diejenigen, die nicht hellsichtig genug sind: »Mit Mondraketen müsse man sehr aufpassen. Niemand kenne die Spannkraft der harten Schale. Vor allem ein Raketenabsturz in eine der Kraterflächen. Was drohe da? Tja, Abortus. Das häßliche Wort, noch dazu verziert mit dem pennälerhaften tja, schwebte eine Weile im Raum.«
Tja.
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Clemens J. Setz: Monde vor der Landung. Roman, Berlin: Suhrkamp 2023. 528 S., 26 €
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