Norbert Mappes-Niediek: Krieg in Europa

Von Josip Broz (1892 – 1980), der als »Tito« weltberühmt wurde, ist eine flapsige Definition seines sozialistischen Jugoslawiens überliefert.

Benedikt Kaiser

Benedikt Kaiser ist Politikwissenschaftler und arbeitet als Verlagslektor.

Es sei ein Land »mit zwei Alpha­be­ten, drei Spra­chen, vier Reli­gio­nen und fünf Natio­nen, die in sechs Repu­bli­ken leben, von sie­ben Nach­barn umge­ben sind und mit acht Min­der­hei­ten aus­kom­men müs­sen«. Das war »Viel­falt« in extre­mo, und Tito unter­schlug sogar noch man­ches: So kam das Alba­ni­sche bei ihm als Spra­che nicht vor (die drei Spra­chen waren für ihn Ser­bo­kroa­tisch, Maze­do­nisch und Slo­we­nisch), und das Koso­vo, das zuneh­mend zu einer eige­nen »Nati­on« in der Nati­on wur­de, zähl­te er nicht mit.

Daß die­se »Sozia­lis­ti­sche Föde­ra­ti­ve Repu­blik« einst­mals in ihre Bestand­tei­le aus­ein­an­der­fal­len wür­de, ahn­ten auch die größ­ten Tito-Ver­eh­rer. Jugo­sla­wi­en als kon­kre­te Idee, ja als rea­le Uto­pie wur­de – in der Rei­hen­fol­ge der Bedeu­tung – von Tito ver­kör­pert, vom eli­tä­ren Offi­ziers­korps der Armee und von Intel­lek­tu­el­len wie Ivo Andrić. Mit Titos Tod im Jahr 1980 war das Schick­sal der süd­sla­wi­schen Enti­tät dann also tat­säch­lich so gut wie besiegelt.

Daß es geschah, über­rasch­te ab Juni 1991 daher weni­ge Beob­ach­ter im In- und Aus­land. Wie es aber geschah, das ist bis heu­te von einer so gro­ßen Kom­ple­xi­tät und Wider­sprüch­lich­keit geprägt, daß die umfas­sen­de Dar­le­gung der Umstän­de eines Staats­zer­falls und sei­ner viel­schich­ti­gen Abläu­fe eine Mam­mut­auf­ga­be bleibt. Die­ser mehr als nur her­aus­for­dern­den Auf­ga­be nimmt sich Nor­bert Map­pes-Nie­diek (*1953) an. Und er meis­tert sie.

Der lang­jäh­ri­ge Süd­ost­eu­ro­pa­kor­re­spon­dent aus Graz schreibt eine bei­spiel­lo­se Geschich­te der Jugo­sla­wi­en­krie­ge, die jeder gele­sen haben soll­te, der sich für die kon­flikt­träch­ti­ge Situa­ti­on in der wohl kon­flikt­reichs­ten Regi­on Euro­pas inter­es­siert. Denn der Autor ver­mit­telt his­to­ri­sches und poli­ti­sches Wis­sen, ana­ly­siert jeden wich­ti­gen Schritt einer jeden Kon­flikt­par­tei, stellt Prot­ago­nis­ten und Netz­wer­ke dar – und kommt dabei über­wie­gend ohne moral­po­li­ti­schen Zei­ge­fin­ger daher.

Es gibt vie­le Bücher zu den Krie­gen in Jugo­sla­wi­en von 1991 (Slo­we­ni­en) über 1991 bis 1995 (Kroa­ti­en / Bos­ni­en) bis 1999 (Koso­vo). Aber es gab bis­her noch kei­nes, das in die­ser Dich­te und mit die­ser Anschau­lich­keit Ver­ständ­nis für die betei­lig­ten Par­tei­en weckt. Das Inter­es­san­te näm­lich ist: Selbst wenn man als Leser einen bestimm­ten Stand­punkt, zum Bei­spiel den ser­bi­schen, prä­fe­rie­ren mag, gelingt es Map­pes-Nie­diek, auch die Argu­men­te der jewei­li­gen Gegen­sei­te, zum Bei­spiel der bos­nia­ki­schen, zu ihrer Gel­tung zu bringen.

Kei­ne Sei­te wird glo­ri­fi­ziert, kei­ne wird ver­teu­felt, sogar Ser­bi­ens lang­jäh­ri­ger Staats­len­ker Slo­bo­dan Miloše­vić (1941 – 2006), der in der West­pres­se zur Reinkar­na­ti­on ­Hit­lers sti­li­siert wur­de, erfährt in der Ana­ly­se his­to­ri­sche Fair­neß. Dar­über hin­aus erzeugt Nor­bert Map­pes-Nie­diek eine andau­ern­de Span­nung. Selbst ein Par­tei­tag des Bun­des der Kom­mu­nis­ten, der Regie­rungs­par­tei Gesamtjugo­slawiens, wird hier mit Leben erfüllt. Die Kon­flik­te, die im Bür­ger­krieg der kom­men­den Jah­re bis zum Äußers­ten aus­ge­tra­gen wur­den, ver­dich­te­ten sich näm­lich schon im Janu­ar 1990 im ver­meint­lich über­na­tio­na­len Gremium.

Slo­we­nen, Kroa­ten und Ser­ben agier­ten als natio­na­le Blö­cke – von der gemein­sam geteil­ten süd­sla­wi­schen Iden­ti­tät war nur noch wenig zu spü­ren, von der gemein­sam geteil­ten kom­mu­nis­ti­schen Ideo­lo­gie ohne­hin nichts mehr. In den Tumult der Brü­der von ges­tern und Ant­ago­nis­ten von mor­gen krächz­te der Tagungs­prä­si­dent des Par­tei­tags hin­ein: »Wir machen jetzt eine Pau­se bis Vier­tel nach eins.« Doch nach der Pau­se tra­ten die Dele­gier­ten nie wie­der zusammen.

Die letz­te »iden­ti­täts­stif­ten­de Klam­mer« (Map­pes-Nie­diek) der jugo­sla­wi­schen Nati­on, die Par­tei­füh­rung, brach aus­ein­an­der. Es war der Anlauf zum mehr­jäh­ri­gen Blut­ver­gie­ßen. Ein Blut­ver­gie­ßen, an dem die Bun­des­re­pu­blik Deutsch­land 1999 auch durch Bom­bar­de­ments auf Rest­ju­go­sla­wi­en (bzw. Ser­bi­en und Mon­te­ne­gro) betei­ligt war. Nor­bert Map­pes-Nie­diek erläu­tert anschau­lich, wie die Grü­nen zur Vor­hut die­ses neu­er­li­chen west­le­ri­schen Inter­ven­tio­nis­mus wur­den. Daß er mit ­ihnen ein wenig zu nach­sich­tig umgeht, kann ange­sichts der Ver­diens­te des vor­lie­gen­den Buches ver­kraf­tet werden.

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Nor­bert Map­pes-Nie­diek: Krieg in Euro­pa. Der Zer­fall Jugo­sla­wi­ens und der über­forderte Kon­ti­nent, Ber­lin: Rowohlt 2022. 398 S., 32 €

 

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Benedikt Kaiser

Benedikt Kaiser ist Politikwissenschaftler und arbeitet als Verlagslektor.

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