Es sei ein Land »mit zwei Alphabeten, drei Sprachen, vier Religionen und fünf Nationen, die in sechs Republiken leben, von sieben Nachbarn umgeben sind und mit acht Minderheiten auskommen müssen«. Das war »Vielfalt« in extremo, und Tito unterschlug sogar noch manches: So kam das Albanische bei ihm als Sprache nicht vor (die drei Sprachen waren für ihn Serbokroatisch, Mazedonisch und Slowenisch), und das Kosovo, das zunehmend zu einer eigenen »Nation« in der Nation wurde, zählte er nicht mit.
Daß diese »Sozialistische Föderative Republik« einstmals in ihre Bestandteile auseinanderfallen würde, ahnten auch die größten Tito-Verehrer. Jugoslawien als konkrete Idee, ja als reale Utopie wurde – in der Reihenfolge der Bedeutung – von Tito verkörpert, vom elitären Offizierskorps der Armee und von Intellektuellen wie Ivo Andrić. Mit Titos Tod im Jahr 1980 war das Schicksal der südslawischen Entität dann also tatsächlich so gut wie besiegelt.
Daß es geschah, überraschte ab Juni 1991 daher wenige Beobachter im In- und Ausland. Wie es aber geschah, das ist bis heute von einer so großen Komplexität und Widersprüchlichkeit geprägt, daß die umfassende Darlegung der Umstände eines Staatszerfalls und seiner vielschichtigen Abläufe eine Mammutaufgabe bleibt. Dieser mehr als nur herausfordernden Aufgabe nimmt sich Norbert Mappes-Niediek (*1953) an. Und er meistert sie.
Der langjährige Südosteuropakorrespondent aus Graz schreibt eine beispiellose Geschichte der Jugoslawienkriege, die jeder gelesen haben sollte, der sich für die konfliktträchtige Situation in der wohl konfliktreichsten Region Europas interessiert. Denn der Autor vermittelt historisches und politisches Wissen, analysiert jeden wichtigen Schritt einer jeden Konfliktpartei, stellt Protagonisten und Netzwerke dar – und kommt dabei überwiegend ohne moralpolitischen Zeigefinger daher.
Es gibt viele Bücher zu den Kriegen in Jugoslawien von 1991 (Slowenien) über 1991 bis 1995 (Kroatien / Bosnien) bis 1999 (Kosovo). Aber es gab bisher noch keines, das in dieser Dichte und mit dieser Anschaulichkeit Verständnis für die beteiligten Parteien weckt. Das Interessante nämlich ist: Selbst wenn man als Leser einen bestimmten Standpunkt, zum Beispiel den serbischen, präferieren mag, gelingt es Mappes-Niediek, auch die Argumente der jeweiligen Gegenseite, zum Beispiel der bosniakischen, zu ihrer Geltung zu bringen.
Keine Seite wird glorifiziert, keine wird verteufelt, sogar Serbiens langjähriger Staatslenker Slobodan Milošević (1941 – 2006), der in der Westpresse zur Reinkarnation Hitlers stilisiert wurde, erfährt in der Analyse historische Fairneß. Darüber hinaus erzeugt Norbert Mappes-Niediek eine andauernde Spannung. Selbst ein Parteitag des Bundes der Kommunisten, der Regierungspartei Gesamtjugoslawiens, wird hier mit Leben erfüllt. Die Konflikte, die im Bürgerkrieg der kommenden Jahre bis zum Äußersten ausgetragen wurden, verdichteten sich nämlich schon im Januar 1990 im vermeintlich übernationalen Gremium.
Slowenen, Kroaten und Serben agierten als nationale Blöcke – von der gemeinsam geteilten südslawischen Identität war nur noch wenig zu spüren, von der gemeinsam geteilten kommunistischen Ideologie ohnehin nichts mehr. In den Tumult der Brüder von gestern und Antagonisten von morgen krächzte der Tagungspräsident des Parteitags hinein: »Wir machen jetzt eine Pause bis Viertel nach eins.« Doch nach der Pause traten die Delegierten nie wieder zusammen.
Die letzte »identitätsstiftende Klammer« (Mappes-Niediek) der jugoslawischen Nation, die Parteiführung, brach auseinander. Es war der Anlauf zum mehrjährigen Blutvergießen. Ein Blutvergießen, an dem die Bundesrepublik Deutschland 1999 auch durch Bombardements auf Restjugoslawien (bzw. Serbien und Montenegro) beteiligt war. Norbert Mappes-Niediek erläutert anschaulich, wie die Grünen zur Vorhut dieses neuerlichen westlerischen Interventionismus wurden. Daß er mit ihnen ein wenig zu nachsichtig umgeht, kann angesichts der Verdienste des vorliegenden Buches verkraftet werden.
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Norbert Mappes-Niediek: Krieg in Europa. Der Zerfall Jugoslawiens und der überforderte Kontinent, Berlin: Rowohlt 2022. 398 S., 32 €
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