In der Phase der „alteuropäisch“-amerikanischen Zerwürfnisse im Kontext des dritten Golfkrieges (Frühjahr 2003) gingen Neokonservative in den USA so weit, das Verdikt zu verkünden, Frankreich sei „kein westliches Land mehr“. Dies wurde mit dem Umstand begründet, daß in vielen französischen Städten „junge Mädchen abends nicht mehr ausgehen können, zumindest nicht ohne Burka“. Polemiken solcher Art hatten ihren konkreten Anlaß in der Befürchtung eines Wiederauflebens „neogaullistischer“ Ambitionen eines französischen Schulterschlusses mit anti-amerikanischen Kräften im arabisch-islamischen Raum. Unabhängig davon jedoch legten sie, wenn sie als sozio-kulturelle Auswirkungen des islamischen „Integrismus“ den Verlust des Genusses elementarer individueller Freiheitsrechte innerhalb der Grenzen eines säkularen europäischen Gemeinwesens anprangerten, den Finger in die Wunde einer Einwanderungs- und Integrationspolitik der vergangenen drei Jahrzehnte, die auch in Frankreich selbst vielfach als mißlungen beurteilt wird: Nicht weniger als die Laizität – eines der zentralen Verfassungsprinzipien der Französischen Republik – sieht sich gegenwärtig durch den Multikulturalismus zur Disposition gestellt.
Um zu erfassen, warum die säkular-republikanische Mehrheitsgesellschaft die Herausforderung des Laizismus durch „kommunitaristische“ Tendenzen innerhalb der muslimischen Bevölkerungsteile Frankreichs als existentielle Bedrohung versteht, soll im folgenden zunächst die Historizität der laicité skizziert werden. Bereits im Verlaufe der Ersten (Großen) Französischen Revolution vollzog sich in Gestalt der Zivilverfassung des Klerus vom 12. Juli 1790 eine systematische Inkorporation der Kirche von Frankreich in den modernen Gesetzgebungsstaat. Die kirchenpolitischen Initiativen der Konstituante erfaßten – als Ausdruck des Willens, die Kirche von Frankreich als eine potentiell oppositionelle, dem Ancien Régime verpflichtete Formation auszuschalten – im Kern das Anliegen der laicité, der Befreiung des politischen Körpers der Nation von jeglicher Beeinflussung durch religiöse Institutionen. So hatte sich bereits in Art. 10 der Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte vom 26. August 1789 der Primat der Herrschaft des Gesetzes manifestiert: „Niemand darf wegen seiner Meinungen, auch nicht wegen seiner religiösen Meinungen behelligt werden, solange der Ausdruck dieser Meinungen nicht die vom Gesetz festgelegte öffentliche Ordnung stört.“
Verwirklicht wurde die Laizität in ihrer „klassischen“ Form in einer Phase der Vollendung der parlamentarischen Demokratie: in der III. Republik. Der Begriff der laicité (von griech. laikos = dem Volk angehörend), der sich ab 1873 auch in Lexika fand, diente der Bezeichnung einer Ordnungskonzeption, als deren zentrale Postulate (1) die Gewissensfreiheit des individuellen Einzelnen, (2) die Gleichheit aller geistlichen und religiösen Formationen vor dem Gesetz und (3) die staatliche Neutralität gegenüber den Religionen galten.
Die Jahre 1880 – 1903 waren geprägt durch eine Reihe säkularistischer Initiativen, die unter anderem in einer Aufhebung des Verbots der Sonntagsarbeit, einer Aufhebung konfessioneller Friedhöfe, in einer antiklerikalen Modifikation des Scheidungsrechtes und insbesondere in einer Verdrängung des kirchlichen Lehrpersonals in den öffentlichen Schulen ihren Ausdruck fanden. Letzteres schuf die strukturellen Voraussetzungen für eine laizistische Neutralität des (staatlichen) Schulwesens. Diese gilt bis in die Gegenwart als ein zentrales Moment der nationalstaatlich-republikanischen Vergesellschaftung des Einzelnen gegenüber partikularistischen Formen der (religiösen) Vergemeinschaftung. Das Trennungsgesetz vom 9. Dezember 1905 markierte schließlich einen Triumph der laizistischen Bestrebungen der republikanischen „Linken“ über eine „Rechte“, die im Verlaufe der Dreyfus-Affäre (1894 – 1906) vielfach mit Klerikalismus, Antisemitismus und Republikfeindschaft identifiziert wurde. Art. 1 des Trennungsgesetzes – der Lex Briand – deklarierte die Religions- und Gewissensfreiheit; in Art. 2 hingegen wurde die Verpflichtung des Staates verankert, sich jeglicher Benachteiligung oder Bevorzugung irgendeiner Religionsgemeinschaft – einschließlich deren Finanzierung – zu enthalten.
Daß die Lex Briand den Vatikan zu einem (1924 revidierten) Abbruch der diplomatischen Beziehungen mit Frankreich veranlaßte, ist geeignet, zu veranschaulichen, inwieweit bereits unmittelbar nach der Verabschiedung dieses Gesetzes dessen verfassungspolitische Relevanz auch und gerade durch die politischen Antagonisten der Laizität erkannt wurde. Allerdings ließ sich der Prozeß einer Vergesetzlichung und verfassungsrechtlichen Verankerung der Prinzipien des Laizismus angesichts der innenpolitischen Konstellationen der III., der IV. und der V. Republik zunächst kaum aufhalten oder gar umkehren. Ernsthafte verfassungspolitische Versuche einer Revision der Laizisierung Frankreichs nach 1905 reduzierten sich wesentlich auf die Phase des Vichy-Regimes und wurden mit der libération 1944 / 45 naturgemäß Makulatur. In Art. 1 der Verfassung der V. Republik vom 4. Oktober 1958 wird die Laizität in den Rang eines Verfassungsprinzips erhoben: „Frankreich ist eine unteilbare, laizistische, demokratische und soziale Republik.“ In der V. Republik machte sich zudem ein tendenzieller Rückzug der katholischen Religionsausübung aus dem kulturellen Leben Frankreichs bemerkbar: Bekannten sich noch im Jahre 1960 sechsundachtzig Prozent der Franzosen zum Katholizismus, waren es im Jahre 2000 nur noch neunundsechzig Prozent; zu den praktizierenden Katholiken zählen sich hingegen nur zehn Prozent der Franzosen.
Wie die französischen Debatten über die Anwendbarkeit des Verfassungsgrundsatzes der Laizität vor Augen führen, erschöpft sich die seit dem Beginn der Kopftuch-Kontroverse (November 1989) in einer breiten Öffentlichkeit wahrgenommene Krise des laizistischen Selbstverständnisses der Republik nicht in einer Problematisierung der Widerstandsfähigkeit republikanisch-laizistischer Souveränität gegenüber konkurrierenden „theokratischen“ Ordnungsansprüchen des (politischen) Islam. Wenn öffentlich Notwendigkeiten einer Modifikation des laizistischen Legitimationssystems und der mit diesem verbundenen Normen und Institutionen – insbesondere hinsichtlich des Schulwesens – thematisiert werden, so ist dies vielmehr mit einer Problematisierung eines Staats- und Gesellschaftsmodells in seiner Gesamtheit – der République une et indivisible – eng verflochten.
Hatte sich die „klassische“ Integrationspolitik des republikanischen Frankreich gegenüber Migrantengruppen (wie gegenüber „autochthonen“ ethnisch-regionalen Minoritäten) auf eine Assimilation an eine nationalstaatlich fundierte Zivilisation gerichtet, wird seit Ende der 1970er Jahre nicht nur ordnungspolitischen Postulaten einer Regionalisierung Rechnung getragen, sondern zusehends auch in der Einwanderungspolitik auf ein demonstratives Bekenntnis zu dem universalistischen Anspruch der „Kultur der Mehrheit“ verzichtet. So tritt anstelle des Begriffs der Assimilation in öffentlichen Stellungnahmen französischer Politiker der Begriff der Integration – ein Ausdruck der Rücksichtnahme auf das Bedürfnis auch naturalisierter Einwanderer, eine Akkulturation an die Werte und Normen der französischen Mehrheitsgesellschaft unter den Bedingungen der Garantierung eines zivilen Handlungsspielraums zu bewerkstelligen, der es dem Einzelnen ermöglicht, sich dem Zwang einer vorbehaltlosen Identifikation mit der Mehrheitskultur des Aufnahmelandes zu entziehen.
Über eine solche tendenzielle Angleichung der französischen Republik an einen zivilgesellschaftlichen Pluralismus hinausgehend, weisen die Resultate einer als fehlgeschlagen eingestandenen Integrationspolitik insbesondere gegenüber muslimischen Zuwanderergruppen, wie sie in den 1960er und 1970er Jahren aus dem Maghreb in Frankreich eintrafen, Züge einer „multikulturellen“ Pluralisierung auf. Tendenzen zu einer Ghettoisierung unter ethno-religiösen Vorzeichen treten (unter anderem) im Departement Seine-Saint-Denis offen zutage. Sie werden in der Sicht einer republikanisch-laizistischen Staats- und Gesellschaftsauffassung als Ausdruck des „Kommunitarismus“ gegeißelt. Der Begriff des Kommunitarismus dient der Bezeichnung des mit den Ordnungsansprüchen der Republik konkurrierenden Bestrebens einer (partikulären) Gemeinschaft, einen maßgebenden Einfluß auf Sozialisation, kulturelle Entfaltung und politische Organisation eines Teils der Staatsbürgernation auszuüben. In diesem Kontext werden das etatistisch-republikanische Assimilationsmodell Frankreichs einerseits und das ethno-pluralistisch ausgerichtete Integrationskonzept angelsächsischer Staaten andererseits einander antithetisch gegenübergestellt.
Bereits seit den 1980er Jahren hatte mit der Realität einer Konturen gewinnenden „multikulturellen Gesellschaft“ ein für das republikanisch-zentralistische, „jakobinische“ Frankreich grundsätzlich neuartiges Gesellschaftsmodell scheinbare Bruchlinien des parteipolitischen und weltanschaulichen Spektrums der Republik in Frage gestellt. Teile der ethnozentrischen nationalen Rechten traten nun, in Anbetracht der ethno-religiösen Identität von als nicht assimilierungsfähig oder ‑willig betrachteten Immigranten aus dem arabisch-islamischen Raum, sogar als Verfechter einer Verteidigung der republikanischen Errungenschaften der laicité auf, um – zum Zwecke einer Bewahrung französischer Identität unter Einschluß ihrer säkularistischen Momente – die (Staatsbürger-) Nation als ethnos zu propagieren; die antilaizistische Herausforderung durch den politischen Islam wäre demnach also durch staatsbürgerliche Exklusion von ethnischkulturell der französischen Mehrheitskultur inkompatiblen Einwanderern zu beantworten. Eine republikanische Linke wiederum sieht sich insofern vor ein politisch-legitimatorisches Dilemma gestellt, als die – demokratiepolitisch in ihrer Sicht naheliegende – Option einer „Reaktivierung der Bürgernation, der nation citoyenne durch großzügige Gewährung von Bürgerrechten für integrationswillige Einwanderer“ (Rudolf von Thadden) die Frage nach der Legitimation einer Unverhandelbarkeit des „geschlossenen“ (republikanischen) Laizismus aufwirft – jedenfalls insoweit dieser seitens muslimischer Einwanderer als ein „ethnozentrischer“ Oktroi der französischen Mehrheitsgesellschaft empfunden werden kann. So drängt sich die Frage auf, ob oder inwieweit die Auseinandersetzung mit dem politischen Islam einen Abschied von dem Axiom einer von ethnischen Bindungen weitestgehend emanzipierten laizistischen Staatsbürgernation zu begünstigen geeignet ist.
Der Islam in Frankreich jedenfalls wird auch von dezidierten Gegnern einer „kommunitaristischen“ Aufhebung des Prinzips der Laizität, wie dem früheren Innenminister Chevènement, nicht ausschließlich als eine Religion, sondern vielmehr als eine (fremdartige) Zivilisation begriffen, deren Werte- und Normensystem eine Herausforderung laizistischer Ordnungsprinzipien darstelle. Diese Sichtweise spiegelt sich auch in statistischen Verfahren zur Ermittlung der Zahl der in Frankreich lebenden Muslime wider, die auf dem Kriterium der Nationalität (respektive der ethnischen Zugehörigkeit) beruhen: Ein Franzose arabischmaghrebinischer Abstammung wird als Muslim erfaßt. Der Bericht des Sonderausschusses zur Anwendung des Prinzips der Laizität in der Französischen Republik vom Dezember 2003 rechnet dem Islam in Frankreich fünf Millionen Gläubige zu, von denen rund fünfzig Prozent die französische Staatsangehörigkeit besitzen.
Im Jahre 1981 garantierte eine Änderung des Assoziationsgesetzes von 1901 der Gründung ausländischer Vereinigungen Rechtssicherheit und schuf so die rechtlichen Grundlagen einer Institutionalisierung ethnisch-religiöser Identitätsbildung von Muslimen in Frankreich. Mehr noch: Durch staatliche Zuwendungen, die ethnozentrisch ausgerichteter Vereinstätigkeit zuteil wurden, mußten sich in vielen Fällen ethnische Minoritätenbevölkerungen aus dem arabisch-islamischen Raum in ihrem Bedürfnis einer Aufrechterhaltung kultureller Traditionen zuungunsten einer vorbehaltlosen „Assimilation“ in das durch den laizistischen Republikanismus geprägte Normensystem Frankreichs bestärkt sehen.
Auf der anderen Seite dokumentiert die im November 1989 durch die Kopftuch-Kontroverse ausgelöste Debatte über die laizistische Identität der Republik das Bestreben des offiziellen Frankreich, der Wortführer des Spektrums der etablierten Parteien sowie zahlreicher Exponenten des kulturellen Lebens, den Laizismus offensiv gegenüber „kommunitaristischen“ und „integristischen“ Tendenzen zur Geltung zu bringen. Diese Eintracht des Bekenntnisses zum Verfassungsprinzip der Laizität vermochte freilich nicht darüber hinwegzutäuschen, in welchem Ausmaße die ursprüngliche Stoßrichtung des Laizismus – die systematische Ausschaltung kirchlicher Institutionen und religiöser Assoziationen aus Angelegenheiten des Staates – gegenüber Neuinterpretationen laizistischer Grundsätze im Sinne der Gewährleistung eines religiösen Pluralismus in Staat und Gesellschaft bereits als rechtfertigungsbedürftig galt. So wurde in den Kontroversen, wie sie innerhalb des Parti Socialiste sowie des Lehrerverbandes Education Nationale ausgetragen wurden, dem „klassischen“ laizistischen Etatismus das Konzept eines nicht-diskriminatorischen zivilgesellschaftlichen Pluralismus entgegengestellt, in dessen Logik ein (Rechts-)Anspruch auch kollektiver Identitäten auf gleichberechtigte Anerkennung als für die demokratische Republik konstitutiv anerkannt würde.
Nach der Wiederwahl Präsident Jacques Chiracs und den für die „bürgerliche Rechte“ erfolgreichen Parlamentswahlen 2002 initiierte die neue Regierung die Konstituierung einer Dachorganisation der muslimischen Gemeinde. Die Schaffung des Conseil Français du Culte Musulman konnte zwar mit guten Gründen als Meilenstein auf dem Wege zu einer Gallikanisierung des in französischem Territorium präsenten Islam gewürdigt werden, warf allerdings die Frage auf, inwieweit eine Politik der aktiven staatlichen Förderung des Aufbaus einer solchen Dachorganisation den Prinzipien der Laizität kompatibel sei. Tatsächlich verbanden sich in der Institutionalisierung und Zentralisierung eines französischen Islam unter regierungspolitischer Anleitung Elemente der – prä-laizistischen – Religionspolitik Napoleons mit Legitimationsfiguren eines zivilgesellschaftlichen oder – in Ansätzen – sogar multikulturalistischen Pluralitätsverständnisses.
Nicht nur mit Blick auf den Rechtfertigungsdruck, dem die Kooperation mit islamischen Organisationen ausgesetzt war, sondern auch anläßlich des virulenten Kopftuchstreits entschloß Präsident Chirac sich zur Berufung einer Kommission unter der Leitung des UDF-Politikers Bernard Stasi, deren Auftrag in der Erstellung eines Berichtes über „Die Anwendung des Prinzips der Laizität in der Französischen Republik“ bestand. Die Stasi-Kommission legte im Dezember 2003 ihren Bericht vor, der gravierende Verletzungen der laizistischen Normen und Prinzipien im Alltagsleben des gegenwärtigen Frankreich offenlegt. Als besonders schwerwiegende Verstöße gegen die Laizität werden unter anderem die verstärkte Bevormundung junger Frauen, die vom Sport und von jeglichem Vereinsleben ferngehalten werden, die immer wieder auftretende unmittelbare physische Gewaltanwendung gegen Frauen in Gestalt der Genitalverstümmelung sowie die antisemitischen Straftaten, denen die Angehörigen der jüdischen Gemeinde Frankreichs zunehmend seitens junger Muslime ausgeliefert sind, angeführt.
In seiner Rede vom 17. Dezember 2003, die sich mit den Ergebnissen des Berichtes der Stasi-Kommission befaßte und auf die das Augenmerk der gesamten französischen Öffentlichkeit gerichtet war, brandmarkte der französische Staatspräsident kommunitaristische Bestrebungen einer partikularistischen Vergemeinschaftung außerhalb der unteilbaren und laizistischen Republik als der Geschichte und den humanistischen Traditionen Frankreichs zuwiderlaufend. Durch den Bericht der Stasi-Kommission sah sich Chirac in seinem Bestreben, das Tragen von Kopftüchern in öffentlichen Schulen gesetzgeberisch unterbinden zu lassen, bestätigt. Andererseits nahm er – entgegen den Empfehlungen der Kommission – Stellung für einen Laizitätskodex und gegen eine Einführung zweier neuer Feiertage – Yom Kippur und Aid-El-Kebir –, die der freien Religionsausübung durch die jüdische und die muslimische Gemeinde Rechnung tragen könnten. Durch letztere Positionierung erteilte der Präsident einer Öffnung des regierungsoffiziellen Laizismus zu einem pluralistischen Konzept, in dem die Laizität zuvörderst als Garantie der gleichberechtigten Koexistenz religiöser Entitäten im öffentlichen Leben Frankreichs postuliert wird, eine Absage.
Mit Unterstützung einer breiten Mehrheit von Abgeordneten der Nationalversammlung ließ die französische Regierung wenig später ein Gesetz verabschieden, das auffällige religiöse Symbole, wie das Kopftuch, die Kippa und große Kreuze, aus öffentlichen Räumen verbannt. Doch selbst dieser auf den ersten Blick kämpferisch-laizistische Vorstoß läßt eine gewisse Unsicherheit im Umgang mit der Herausforderung des politischen Islam erkennen: Das im Februar / März 2004 durch Nationalversammlung und Senat angenommene Gesetz gegen das Tragen religiöser Zeichen (unter anderem) in den öffentlichen Schulen stellte sich augenscheinlich als eine Konsequenz der Auseinandersetzung mit den antilaizistischen Demonstrationen islamischer Gruppierungen dar, wie sie seit 1989 in Gestalt der Kopftuch-Kontroverse offen geführt worden war. Gleichwohl strich der Gesetzgeber durch die analoge Ächtung auch jüdischer respektive christlicher Symbole eine Äquidistanz (nicht nur) gegenüber den drei monotheistischen Religionen heraus. Diese Äquidistanz freilich entspricht immerhin dem laizistischen Postulat einer Nichtanerkennung, im Gegensatz zu der Regierungspolitik einer ausdrücklichen Anerkennung der Existenz einer – in sich keinesfalls homogenen – islamischen Gemeinschaft auf französischem Territorium.
Daß den Prinzipien der laizistischen Republik ohnehin nicht allein durch gesetzgeberische Initiativen zur Geltung verholfen werden kann, macht der Fall Louis Chagnon deutlich. Weil Chagnon, ein Geschichtsund Geographielehrer am Collège Georges-Pompidou in Courbevoie (Hauts-de-Seine), ihm anvertraute Schüler mit der historischen Tatsache der Massaker, die auf Veranlassung Mohammeds an den Juden von Quraizah verübt wurden, konfrontiert und in diesem Zusammenhang geäußert hatte, der Religionsstifter habe sich „in einen Dieb und Mörder verwandelt“, sah sich der Pädagoge durch einen Schulrat allen Ernstes einer „rassistischen“ Äußerung beschuldigt; zudem wurde er durch einen Disziplinarausschuß gerügt. Im laizistischen Frankreich, dessen Nationalversammlung, ungeachtet auswärtiger Proteste, im Januar 2001 die ethno-religiös motivierte Verfolgung der christlichen Armenier im Osmanischen Reich 1915 / 16 offiziell als Völkermord verurteilte, erstatteten der Mouvement contre le Racisme et pour l‘Amitié entre les Peuples (MRAP) und die Ligue des droits de l‘Homme Anzeige gegen einen Lehrer, der es gewagt hatte, seinen Schülern gegenüber die Frühgeschichte des Islam mit Verbrechen gegen Juden in Verbindung zu bringen.
Als streitbarer Verfechter des „institutionellen“ Laizismus gab Chagnon in einer im Februar 2004 in Le Figaro veröffentlichten Stellungnahme zu bedenken: „Der religiöse Glaube muß in der Privatsphäre bleiben und darf weder eine politische Waffe, noch ein Druckmittel sein. Man ist genötigt, festzustellen, daß die Demokratie in Frankreich ernsthaft in Gefahr ist: Daß ein bürgerlicher Lehrer vor Gericht gezerrt werden kann, weil er über Tatsachen und Handlungen einer vor vierzehn Jahrhunderten verstorbenen Persönlichkeit berichtet hat, beweist dies zur Genüge.“ Die Kampagne gegen Chagnon beleuchtet schlaglichtartig die Möglichkeiten einer radikalen Neuinterpretation universalistischer Begriffe, wie der Toleranz oder der Religionsfreiheit, infolge einer „Pluralisierung“ der Laizität: Selbst die Ächtung des Antisemitismus und die öffentliche Verurteilung antijüdischer Gewalt kann – so legt das Verhalten der genannten Menschenrechtsorganisationen nahe – mit Blick auf religiöse Befindlichkeiten der in Frankreich lebenden Muslime einer „Güterabwägung“ unterworfen werden.