Heidegger sprach davon, daß vor allem die griechische und die deutsche Sprache zum eigentlichen Denken geeignet seien.
Zwar gelte dies »in je verschiedenem Grade« von allen Sprachen, aber der bemesse »sich nach der Tiefe und Gewalt der Existenz des Volkes und Stammes, der die Sprache spricht und in ihr existiert«, und den »tiefen und schöpferischen philosophischen Charakter wie die griechische« habe eben nur die deutsche Sprache. Offenkundig kannte Heidegger die ungarische Sprache nicht. (1)
Und so läßt sich sein Argument nur halten, wenn der Verfasser sich in seinen idiosynkratischen deutschen Äußerungen über die Sprache selbst als gipfelnde Inkarnation versteht. Das Griechische sei »keine bloße Sprache wie die uns bekannten europäischen Sprachen«, da »das in ihr Gesagte auf eine ausgezeichnete Weise zugleich das ist, was das Gesagte nennt«, (2) und das mache sie nahezu unübersetzbar.
Das griechische Denken ist durch die Sprache determiniert, wie jedes Denken; der Gedanke gipfelt in der Aussage: »Die Sprache ist das Haus des Seins. In ihrer Behausung wohnt der Mensch.« (3) In Variationen stellt Heidegger fest, »daß der Mensch den eigentlichen Aufenthalt seines Daseins in der Sprache hat […], dann wird eine Erfahrung, die wir mit der Sprache machen, uns im inneren Gefüge unseres Daseins anrühren.« (4) Dieses Ringen um die Sprache, die Übersetzbarkeit, insbesondere bei sehr andersgearteten Idiomen, wird explizit im »Gespräch von der Sprache. Zwischen einem Japaner und einem Fragenden« (5) behandelt, und die fundamentalen Verstehensprobleme werden offenbar. Aus diesem Grunde beschäftigte sich Heidegger auch nicht mit asiatischer Philosophie (6)– »denn die sprachlichen Schwierigkeiten sind zu groß […] man müßte schon jung anfangen, um in jene Sprachen einzudringen«.
Das Ungarische stellt uns vor ähnliche Probleme. Eine eigenständige Philosophie scheint es nie gehabt zu haben. Schon hier zeigt sich die Sprachbarriere als Hindernis, denn das ungarische Publikum kannte die wesentlichen Texte aufgrund mangelnder Übersetzungen oft nicht. Allein Béla Hamvas mag als philosophischer Außenseiter mit seiner fernöstlich inspirierten Religionsphilosophie Originalität beanspruchen.
Die ältere Philosophiegeschichte stellt sich als deutsch dominiert dar (Kant, Hegel, Marx, Husserl). 1911 stellte der Philosoph György Bártok fest: »Von einer ungarischen Philosophie, als die organisierte Entwicklung des philosophischen Denkens verstanden, kann kaum die Rede sein. Wir hatten Philosophen, aber wir hatten keine Philosophie.« (7) Die »Biographische Datenbank der ungarischen Philosophen« (8) bestätigt das Bild: Einer kleinen Schar an »eigentlich Denkenden« stehen durch die Epochen deutlich mehr Künstler und Wissenschaftler gegenüber.
Es liegt der Verdacht nahe, daß die Sprache dabei eine Rolle spielt. Sie erfüllt alle Vorgaben Heideggers nach »Tiefe und Gewalt der Existenz des Volkes und Stammes«, sie ist eine durchaus denkende Sprache, und bringt doch ein anderes Denken hervor. Fraglich ist, ob dieses durch die Sprache determinierte Denken das historische und politische Anderssein der Ungarn, besonders ihre Identitätsstärke, erklären kann – nicht kausal-deterministisch und nur als ein Faktor unter vielen, aber wohl doch wesentlich.
Zuvor muß die Frage bedacht werden, ob eine Nationalsprache das Denken eines Menschen oder eines Volkes überhaupt beeinflussen kann. Der linguistische Universalismus – allen voran Noam Chomsky – geht von einer Universalgrammatik aus und beantwortet die Frage nach dem Primat von Sprache oder Denken zugunsten des letzteren. Dieses sei von der Sprache losgetrennt, es gebe eine »Sprache des Geistes«, über die jeder Mensch, unabhängig von seinem historischen Herkommen, a priori verfüge. Die radikale Gegenposition wurde als linguistischer Relativismus von Benjamin Lee Whorf ausgearbeitet: »Menschen, die Sprachen mit sehr verschiedenen Grammatiken benützen, werden durch diese Grammatiken zu typisch verschiedenen Beobachtungen und verschiedenen Bewertungen äußerlich ähnlicher Beobachtungen geführt.« (9)
Grammatik meint die Gesamtheit aus Semantik, Lexik, Syntax und Phonetik. Der Gedanke hatte sich lange angekündigt. Man findet ihn bereits bei Herder, er wurde am empirischen Studium sehr fremder Sprachen von Wilhelm von Humboldt dargestellt, wobei dieser die Wechselwirkung von Volk, Sprache und Denken betonte: »Sprache kann nie das Erzeugnis des Einzelnen, schwerlich das einer Familie, sondern nur einer Nation seyn, nur aus einer hinreichenden Mannigfaltigkeit verschiedner, und doch nach Gemeinsamkeit strebender Denk- und Empfindungsweisen« könne sie hervorgehen. »Die bestimmte nationelle Kraft kann nur in der bestimmten nationellen Sprache, diesen Lauten, diesen analogischen Verknüpfungen, diesen symbolischen Andeutungen, diesen bestimmenden Gesetzen innerlich zur Entwicklung, äusserlich zur Mittheilung kommen.« (10)
Der linguistische Relativismus hatte sich durch seine Übertreibungen selbst geschadet. Die Tatsache, daß Sprachen Entwicklungen und Zustände, Zeiten und Räume, Differenzen und Zusammenhänge verschieden akzentuieren oder auch »wahrnehmen« und bedenken können, darf nicht zu dem Schluß führen, daß ihre jeweiligen Sprecher geistig nicht dazu in der Lage wären, die in anderen Zungen enthaltenen Konzepte zu verstehen. Der Einfluß der Sprache auf Wahrnehmung, Denken, Wesen und Sein ist weder zu ignorieren, noch sollte man ihn über das anthropologische Kontinuum stellen. (11)
Es gilt, die Frage zu beantworten, ob und inwieweit die ungarische Sprache in ihrer radikalen Andersheit dazu beigetragen haben kann, daß Ungarn – als Volk und Staat – bis heute eine Art Inseldasein im (indo-)europäischen Meer führt, und ob seine Apartheid sich – neben anderen historischen Faktoren – sprachlich erklären läßt.
Schon die radikale Einzigartigkeit der Sprache liefert gute Gründe. Sie behinderte massiv den sprachlichen Austausch mit den Nachbarn. Sie gilt als schwer erlernbar. Als agglutinierende Sprache ohne Präpositionen drückt sie die meisten grammatischen Beziehungen (Person, Zeit, Fall, Konjunktiv, Konditional, Wiederholung, Passiv etc.) durch Affixe – vornehmlich Suffixe – aus, was dem Sprach-Zeit-Kontinuum der flektierenden Sprachen widerspricht.
Es gibt allein 18 Kasussuffixe, also 18 Fälle. Zudem führt dieses Prinzip zu einer viel größeren Informationsdichte, die sich in der Regel in der Kürze der Aussage, aber oft auch in der Länge der Wörter ausdrückt. Die Ausdrucksrichtung ist der indoeuropäischen entgegengesetzt, die Agglutination führt zur Rechtsausdehnung des Stammwortes, muß im Deutschen aber von links her verstanden werden: autójával (mit seinem Auto), autóddal (mit deinem Auto).
Die Reihenfolge der Suffixe ergibt sich historisch aus ihrer Entstehungszeit. Wenn diese Wörter, die sich oftmals nur in Sätzen übersetzen lassen, zudem durch eine Vokalharmonie gekennzeichnet sind, das heißt durch eine weitestgehende Synchronisierung von hellen und dunklen Vokalen, und als Verben zwei Konjugationsformen kennen, dann kann man das Ausmaß der Schwierigkeit des Erlernens erahnen. So gelingt es nur wenigen Menschen, das Ungarische als Fremdsprache fließend und bis ins kleinste Bedeutungsdetail zu beherrschen, und umgekehrt – wenn auch in geringerem Maße – fiel es vielen Ungarn lange Zeit schwer, sich in europäischen Hauptsprachen zu orientieren.
Diese Tatsache ist schon ein Hinweis darauf, daß Sprache das Denken beeinflußt: Wir denken in ihren Bahnen und lernen verwandte Sprachen schneller. Die Muttersprache zeichnet aus, daß man sie mit der Welt zugleich kennenlernt, sie ist ein prägendes frühkindliches, unbewußtes Erlebnis. (12) Logik und Wort / Rede / Sprache sind über die Etymologie des logos miteinander verbunden. (13) Die ungarische Grammatik stellt ein gigantisches, geniales, in sich stimmiges, klares, logisch konzises System dar, (14) vor dessen Komplexität und kreativer Gestaltungskraft der Lernende – sobald er es begreift – ehrfürchtig erstarrt. Seine Sprecher bekommen den Eindruck, Teil und Nutzer eines mächtigen und kryptischen Systems zu sein. Selbst gestandene Hungarologen müssen nach Jahrzehnten intensiver Forschung ihre Sprech- und Verständnisprobleme bekennen. (15)
Der Frage nach der »Tiefe und Gewalt der Existenz des Volkes und Stammes« muß das Ungarische nicht ausweichen. (16) Seine Spuren lassen sich 6000 Jahre in die uralischen Sprachen zurückverfolgen, vor 3000 Jahren begann seine Eigenexistenz im Urmagyarischen, als sich im Zuge der Wanderungsbewegungen der finnougrische Sprachstrom aufteilte. Damit ist Ungarisch zusammen mit seinen europäischen Verwandten (Finnisch, Estnisch) die älteste, ununterbrochen genutzte Sprache Europas, die zudem, verglichen mit den anderen Sprachen des Kontinents, eine größere linguistische Kontinuität, also weniger Veränderungen, aufweist (17) und reich an sprachlichen Relikten ist.
Dies gilt selbstredend auch für den Träger dieser Sprache: Das ungarische Volk ist historisch älter als die großen europäischen Völker. Das Leben der einstigen Nomaden, die später seßhaft wurden, Landwirtschaft und Viehzucht betrieben, um danach aufgrund einer Erderwärmung erneut Nomaden zu werden, ist noch heute in der Sprache der Ungarn präserviert. (18) Man kann es anhand jener auffallenden Begriffe rekonstruieren, die ich Urwörter nenne. Schon Platon ging im Kratylos von der Existenz von Stammwörtern aus, die man an ihrer Onomatopoesie erkennen könne.
Auch im Ungarischen mag das bis heute funktionieren, vor allem aber deutet die Kürze dieser Stammwörter darauf hin: Sie sind einsilbig, meist nur aus einem Konsonanten und einem Vokal geformt, nicht weiter in Morpheme teilbar. Es sind offensichtlich Begriffe, die den Urmagyaren wichtig waren, in ihnen spiegeln sich die damaligen Produktionsverhältnisse wider, sie sind noch immer Grundlage für viele Ableitungen; (19) zwischen den Begriffen können sprachhistorisch Jahrhunderte liegen: ló (Pferd), eb (Hund), kő (Stein), fa (Baum / Holz), fű (Gras), fő (Kopf), ér (Ader), ín (Sehne), lő (schießen), nő (Frau) u. v. m. Letzteres, nő, kann auch als Verb genutzt werden, bedeutet dann »wachsen« – Weisheit der Sprache!
Dazu zählen auch andere einsilbige Wörter wie jég (Eis), ház (Haus), forr (kochen), tűz (Feuer), szú (Borkenkäfer), vér (Blut), kés (Messer), íny (Zahnfleisch), sző (weben) usw. Selbst die Lebensänderungen manifestieren sich darin. Als die Magyaren seßhaft wurden, kamen Wörter wie ól (Stall), bor (Wein) oder ács (Tischler) hinzu. Einige dieser Begriffe werden in einer Sprache, die Regelmäßigkeit nahezu manisch anstrebt, unregelmäßig dekliniert oder konjugiert, was ihre Bedeutung unterstreicht. Hat man einmal das Ohr, dann kann man im ló auch das Trappeln der Pferde, im fű das Rascheln des Grases, im eb das Bellen des Hundes erahnen. Die auffällige Menge tierlautimitierender Begriffe zeugt ebenso von einer animistischen Vorzeit wie die tabuisierte Benennung der einst heiligen Tiere wie Wolf (farkas, von Schwanz) oder Hirsch (szarvas, von Geweih). (20)
Diese Urwörter können sich auch in Komposita verstecken, die uralte Wortwurzel hat mitunter keine Bedeutung mehr. (21) Zwei Beispiele: Karies heißt fogszuvasodás, wobei wir im Kern den fressenden Wurm (szú) als Urwort lauern sehen; oder die Revolution heißt forradalom und leitet sich von forr (kochen, sieden) ab. Es gibt heute kein Substantiv ro / ró mehr, aber eine große Anzahl an Wörtern, die mit diesem Laut beginnen, und unter ihnen häufen sich Bedeutungen, die auf etwas Negatives, auf Zerfall und Zersetzung hinweisen, ähnlich den deutschen Vorsilben »zer« und »ver«: (22) rossz (schlecht), rongál (beschädigen), rongy (Lump), roncs (Trümmer), robban (explodieren), rombol (zerstören), romlik (verderben), rohadt (faul) usw.
Diese Übung ließe sich an vielen anderen Silben (fegy, ál, for, biz, eng, re usw.) und Wortfeldern wiederholen; sie sind deshalb oft schwer wahrzunehmen, weil sie keine eigene konkrete Bedeutung mehr haben, sondern nur noch vage stimmend wirken. Phonetisch dominieren die Vokale, insbesondere »a« und »e« sowie harte Konsonanten, was der Sprache einen gedehnten und gewissen leidvollen Klang gibt, und der korrespondiert auffällig mit den Aussagen der national bedeutenden Hymnen und Poeme (23) und dem »für die ungarische Dichtung so typische[n] tragische[n] Lebensgefühl des Besiegt- und Bedrohtseins«. (24) Wenn heutige Ungarn sprechen, dann nutzen sie in großen Teilen eine uralte Logik, Lexik und Syntax; die sprachliche Verbindung mit den Ahnen reicht tief, das in ihr Gesagte ist zugleich auf eine ausgezeichnete Weise das, was das Gesagte nennt.
So ist die Sprache etwa stark raumorientiert und legt großen Wert auf Bewegungen im Raum, eine Eigenschaft, die sie mit dem Deutschen teilt. (25) Viele der Kasussuffixe kümmern sich um das räumliche oder Bewegungsverhältnis zu den Dingen, wobei zwischen den Fragen »Wo?«, »Woher?«, »Wohin?« unterschieden wird. (26) Dem gesellt sich eine ganze Reihe an Postpositionen hinzu, (27) die ebenfalls Ortsverhältnisse beschreiben. Etymologisch sind diese teilweise aus Namen menschlicher Körperteile (28) gebildet. Jede dieser Postpositionen beantwortet auch eine der drei Richtungsfragen.
Der ungarische Raum ist also sprachlich stark determiniert und zum Teil anthropologisch begründet; so mag es auch nicht verwundern, daß es ein eigenes Präfix mit der Bedeutung »nach Hause« gibt: haza. Der Begriff der »Heimat« hat im Deutschen einen Sinnüberschuß, den andere europäische Sprachen schwer wiedergeben können, das Ungarische ausgenommen, dessen altes Wort hon ähnlich tief reicht. (29) Die Bedeutung des Karpatenbeckens als Lebensraum, die sich über Mythen, Märchen und Historie bis heute gehalten hat, findet so eine linguistische Entsprechung. Und wenn der Ungar vom Ungarn spricht, dann benutzt er nicht die Fremdbeschreibung, die sich von den Hunnen ableitet, sondern spricht vom Magyaren, der sich im Stamm vom proto-uralischen mën³ (Mensch, freier Mensch) und der Endung -ër (Mann) ableitet.
Man hat selbst die von allen indogermanischen Sprachen abweichende Singularisierung der Mehrzahl nach Zahlen oder Mengenangaben damit in Verbindung gebracht. Man sagt also nicht »zwei Mensch-en«, sondern »zwei Mensch«, két ember – emberek gibt es nur unspezifisch –, wodurch jeder Mensch seine eigene (ungarische) Identität betont bekomme. (30) Es ist kein Zufall, daß die politischen Magyarisierungs- und Großreichträume des 19. Jahrhunderts sich als »Sprachchauvinismus« äußerten: »Das Merkmal des Ungartums war einzig und allein die Sprache!« (31)
Man braucht diese Logik nicht, um eine Fokussierung des Ungarischen auf das Ungarische zu erklären. Das Wort »erklären« selbst weist darauf hin: magyarázni. Da steckt der Magyar drin. Ihm wird nichts klar, wie im Deutschen, oder ausgelegt, wie im Englischen, oder auseinandergefaltet, wie in den lateinischen Sprachen, ihm wird »verungarischt«, ins Ungarische übersetzt, und wenn er sich rechtfertigt oder entschuldigt, dann kann er das ebenfalls auf rein Ungarisch tun: magyarázkodni. Das ist nur aus Selbstreferenzialität zu erklären und gilt auch bei paradoxen Formulierungen. (32) Die erklärungsbedürftige Welt ist dem Ungarn sprachlich durch die ungarische Brille zugänglich, bewußt oder nicht.
Auch an anderer Stelle »bevorzugt« die Sprache ihre Sprecher, macht sie ihrer selbst und ihrer magyarság bewußt. So kennen viele der ortsbezeichnenden syntaktischen Suffixe für Substantive Regeln, die für die Mehrzahl der Länder und der nichtungarischen Städte gelten, (33) bei diesen aber Ausnahmen bilden und sie somit hervorheben: Man fährt nach Berlin (Berlinbe), aber »auf / hinauf« Budapest (Budapestre), man lebt in Deutschland (Németországban), aber »auf« Magyarországon, man telefoniert »aus« Wien (Bécsből), aber von Pécs (Pécsről) »herunter« usw. Dialogische Nahbeziehungen kennen auch Sonderbehandlungen.
Zum einen garantieren drei formale und schwer zu übersetzende Anreden in der dritten Person eine feine Respektskalierung, wovon eine (maga) auch als Reflexivpronomen zur besonderen Hervorhebung der Person genutzt werden kann, (34) zum anderen werden ältere Personen, auch Lehrer, mit bácsi (Onkel) und néni (Tante) angesprochen. Nähe hingegen schafft das Ausnahmesuffix lak/lek, das nur in Anwendung kommt, wenn die erste zur zweiten Person spricht (látlak – ich sehe dich / euch). Überhaupt kennt die Kardinal- und Ordinalzahl Zwei unregelmäßigen Gebrauch, wie auch Demonstrativpronomen eine Nähe- und eine Fernform kennen. Die Bedeutung des ungarischen Subjekts spricht sich selbst in seinem häufigen Fehlen aus: in Adjátok vissza a hegyeimet (35) ist nicht ersichtlich, wem die Berge fehlen.
Seine sprachliche Sonderstellung beweist das Ungarische in seiner Hartnäckigkeit, Fremdeinflüsse zu assimilieren. Knapp die Hälfte des Vokabulars hat finnougrische Wurzeln, alles andere entstammt dem Slawischen, Deutschen, Lateinischen, Türkischen, Englischen, Iranischen und anderen Sprachen – ein Hinweis auf die komplexe Geschichte und die Vielvölkerexistenz. Die meisten dieser Wörter wurden schnell den eigenen Sprachregeln angepaßt. Selbst einem Wort wie muszáj, donauschwäbisch gebeugt, sieht man das »muß sein« nicht gleich an. Entweder man hat für Internationalismen ein eigenes Wort (Hotel = szálloda), oder man überträgt sie in eine eigene Schreibweise (Jazz = dzsessz). Der Internationalismus »Kanal« ist der csatorna, während kanál der Löffel ist. Alle Lehnwörter bekommen in ihrer Verbform eine ungarische Endung (surfen = szörfözik).
Die gesamte Denkrichtung ist der unsrigen analytischen Sprache ungewohnt, denn sie synthetisiert, das heißt, sie verdichtet die meisten ausgedrückten Relationen in kompakte Wortstrukturen, man kann sie auch als deduktive Sprache bezeichnen, die vom Generellen zum Spezifischen argumentiert. Lese- und Hörrichtung widersprechen unserer Denkrichtung. Uneuropäische Datums‑, Zeit‑, Namensangaben ergeben sich aus der grammatischen Logik. Seltsam anmutende Vornamen wie Gyöngyi, Csenge, Bence lassen den Ungarn in der Fremde Distinktionserfahrungen machen.
Die Suffigierung erklärt die Abneigung gegen Ausnahmen, die fast nur durch die Lautharmonie zu rechtfertigen sind, (36) wie ohnehin ein starkes ästhetisches und ökonomisches Vereinheitlichungsbedürfnis besteht. (37) Ihre Baukastentechnik mit schier unvorstellbaren Möglichkeiten, von denen die lebende Sprache – dem Schach vergleichbar (38)– nur einen Bruchteil realisieren kann, sollte ein technisch-mathematisches Denken befördern. Ungarn hat nicht nur auffällig viele innovative Schachspieler, (39) sondern auch Techniker und Wissenschaftler hervorgebracht; (40) sieben Nobelpreisträger auf diesem Gebiet bestätigen das. (41)
Es scheint, als immunisiere die ungarische Sprache sich durch ihre Fremdheit, Einzigartigkeit, Kontinuität, tiefe historische Verwurzelung, Komplexität, Regelstrenge, Regelmäßigkeit, Abneigung gegen Ausnahmen, Assimilationsfreudigkeit, durch ihren Ökonomismus, die einheitliche Klangästhetik, die Eigenlogik und die Selbstreferenzialität systemisch selbst vor zu großen und schnellen Veränderungen, nahezu unabhängig von den Menschen, allein durch ihre inneren Mechanismen. Sie pflegt und hegt sich intrinsisch, sie bietet den Menschen eine Behausung, die sie vom Fremden abschirmt, zugleich auf verschiedenen Wegen Nähe zum Mitsprechenden, zu anderen Ungarn, schafft, die sich im Sprechakt zwangsläufig ihrer historisch gewachsenen Identität, Selbstähnlichkeit, versichern.
Solange die Sprache lebt, wird das Volk leben; sie schützt dieses. Andere Völker müssen – wollen sie ihre Identität wahren – aktiver und bewußter auf den Bestand ihrer Sprache achten: Wenn eine Gemeinschaft ihre Hochsprache mit all ihren inneren und national je anderen Ausdrucks- und Denkmöglichkeiten bewahren kann, bewahrt sie das Ureigene, ihre Eigenart, letztlich ihre Existenz.
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(1) – Vgl. Martin Heidegger: Vom Wesen der menschlichen Freiheit, GA 31, S. 50 f.
(2) – Martin Heidegger: Identität und Differenz, GA 11, S. 13.
(3) – Martin Heidegger: Wegmarken, GA 9, S. 313. Dazu auch: »Die einzige Behausung für unser Wesen ist unsere Sprache, d. h. ihr Wort als die Wiege der Sage. An dieser Behausung allein müssen wir sagend bauen und das künftige Wohnen also retten. Alles andere ist bestandlos und ohne gültige Form.« (Anmerkungen I – V (Schwarze Hefte 1942 – 1948), GA 97, S. 34)
(4) – Martin Heidegger: »Das Wesen der Sprache«, in: ders.: Unterwegs zur Sprache, Stuttgart 1959, S. 159.
(5) – In: Unterwegs zur Sprache, S. 85 – 157.
(6) – Vgl. Hellmuth Hecker: »Ein Spaziergang mit Heidegger« (1952), in: ders.: Buddha, Heidegger und die Wahrheit. Eine abendländische Brücke zur Daseinsanalyse des Erwachten, Stammbach 2008, S. 111 ff.
(7) –Zit. n. Larry Steindler: Ungarische Philosophie im Spiegel ihrer Geschichtsschreibung, Freiburg i. Br./München 1988, S. 11.
(8) – filozofusok.hu/mel/de/
(9) – Benjamin Lee Whorf: Sprache und Denken. Beiträge zur Metalinguistik und Sprachphilosophie, Reinbek bei Hamburg 1963, S. 20.
(10) – Wilhelm von Humboldt: »Ueber die Verschiedenheit des menschlichen Sprachbaus«, in: ders.: Werke in fünf Bänden, Bd. 3: Schriften zur Sprachphilosophie, Stuttgart 81996, S. 162.
(11) – Vgl. Guy Deutscher: Im Spiegel der Sprache. Warum die Welt in anderen Sprachen anders aussieht, München 2010.
(12) – Vgl. Walter Porzig: Das Wunder der Sprache. Probleme, Methoden und Ergebnisse der modernen Sprachwissenschaft, Bern/München 1950, S. 86 f.
(13) – Vgl. Otto Friedrich Bollnow: »Probleme der philosophischen Anthropologie«, in: Die Sammlung 1945/46, S. 699. Wenn Bollnows Diktum »Sprachschöpferisch bin ich zugleich wirklichkeitsschöpferisch« (Die Macht des Worts, Essen 1964, S. 70) stimmt, dann sollte man eine eigene ungarische Wirklichkeit und deren Bewegung innerhalb ihrer sprachlichen Grenzen vermuten.
(14) – Vgl. Frederick Bodmer: Die Sprachen der Welt. Geschichte – Grammatik – Wortschatz in vergleichender Darstellung, Köln 1997, S. 184 ff.
(15) – Vgl. Josef-Gerhard Farkas: Ungarisch genau genommen, Bd. 1, Berlin 2012, S. 7.
(16) – Vgl. Magyar Kódex. Az Árpádok világa. Magyar művelődéstörténet a kezdetektől 1301-ig, Budapest 1999, S. 131 ff.
(17) – Vgl. Géza Balázs: The Story of Hungarian. A Guide to the Language,
Budapest 2000, S. 92.
(18) – Vgl. Mária D. Mátai: Kleine ungarische Sprachgeschichte, Hamburg 2002.
(19) – Vgl. Béla Szent-Iványi: Der ungarische Sprachbau, Leipzig 1974, S. 14.
(20) – Vgl. Mátai: Sprachgeschichte, S. 14.
(21) – Vgl. Szent-Iványi: Sprachbau, S. 15.
(22) – Schon Platon erkannte im »R« die Kinesis. Sokrates: »Zuerst scheint mir das R gleichsam das Organ jeder Bewegung zu sein.« (Schleiermacher-Übersetzung)
(23) – Zur sprachübergreifenden Wirkung der Laute: Ernst Jünger: Geheimnisse der Sprache (Hamburg 1934) und »Lob der Vokale« (in: ders.: Blätter und Steine, Hamburg 1934).
(24) – Paul Lendvai: Die Ungarn. Eine tausendjährige Geschichte, München 2001, S. 342.
(25) – Vgl. Georges-Arthur Goldschmidt: Heidegger und die deutsche Sprache, Freiburg i. Br./Wien 2023.
(26) – ‑ban/-ben (in), ‑n/-on/ ‑en/-ön (auf), ‑nál/-nél (bei), ‑ból/-ből (aus, heraus), ‑ról/ ‑ről (von, herunter), ‑tól/-től (von, weg), ‑ba/-be (in, hinein), ‑ra/-re (auf, hinauf), ‑hoz/-hez/-höz (zu, hin).
(27) – Je nach Interpretation kann die Anzahl differieren – ich habe 86 gezählt.
(28) – fő (Kopf) – főllött (über), mell (Brust) – mellett (neben), fél (Seite), szem (Auge) – szemben (im Auge = gegenüber) u. a.
(29) – Dazu: Jörg Seidel: »Autorenporträt Albert Wass«, in: Sezession 112, S. 2 – 5, sowie: »Der Heimatbegriff der Magyaren«, in: seidwalkwordpresscom.wordpress.com vom 15. März 2019.
(30) – So der Literaturwissenschaftler Mihály Takaró in Népszava vom 16. Juli 2019.
(31) – Lendvai: Die Ungarn, S. 339.
(32) – Zum Beispiel: Németül magyarázza el neki – er »erklärt« ihm auf deutsch. Vgl. dazu: József Tompa: Kleine ungarische Grammatik, Leipzig 1972, S. 128.
(33) – Dazu ausgiebig: Alexandra Foresto: Grammatica ungherese di base, Milano 2018, S. 29 – 48, 66 ff.
(34) – Vgl. Miklós Törkenczy: Ungarische Grammatik, Budapest 2005, S. 53 f. Etymologisch stammt das Wort von mag ab, dem Kern; vgl. Szent-Iványi: Sprachbau, S. 64.
(35) – Titel des Romans Gebt mir meine Berge zurück! von Albert Wass (Schnellroda 2023). Wörtlich: Gebt meine Berge zurück!
(36) – Vgl. Wilhelm Körner: Die Grundzüge der ungarischen Sprache, Berlin 1882, S. 10.
(37) – Etwa in der Angleichung der Verbindungssuffixe (aus dem erwartbaren örömvel – mit Freude – wird örömmöl) oder der mehrfachen Nutzung sprachlicher Zeichen in verschiedenen grammatischen Funktionen (nak/nek als Dativendung, Genitivendung, Personalpronomen, Demonstrativpronomen, Fragewort).
(38) – Man schätzt die Zahl der möglichen Stellungen auf über 1043, davon ist aber nur ein Bruchteil sinnvoll und davon materialisiert sich wiederum nur ein kleiner Teil – die meisten Möglichkeiten bleiben im menschlichen Bereich ungenutzt, so wie im Ungarischen das meiste des Sagbaren wohl nie gesagt werden wird.
(39) – Schon die Hypermoderne Schule war stark ungarisch motiviert. Judit Polgár gilt als stärkste Spielerin aller Zeiten, Lajos Portisch und Péter Lékó gehören zur klassischen Elite, Richárd Rapport sekundierte gerade Weltmeister Ding Liren aufgrund seiner unkonventionellen Originalität, und Ferenc Berkes gehört zur erweiterten Weltspitze.
(40) – Vom Streichholz (Irinyi) und Kugelschreiber (Bíró) über Isolierung der Ascorbinsäure (Szent-Györgyi) oder den Rubik-Cube bis zur Atombombe (Teller, Szilard).
(41) – Nur Imre Kertész erhielt 2002 den Literaturnobelpreis für seinen Auschwitzroman Sorstalanság (Schicksallosigkeit), dt: Roman eines Schicksallosen.