Die Analyse klärt zunächst ihre Grundbegriffe – etwa die Unterscheidungen zwischen Ludologie und Narratologie, zwischen realer und virtueller Handlung, die einerseits unterschiedliche Beschreibungsinstrumente erfordern, andererseits aber auch auf vielfache Arten miteinander verschränkt sind. Die große Bandbreite möglicher Genres, ihrer Inhalte und Formen, erschwert bereits eine grobe Einordnung und verbietet damit pauschale Urteile, wie jenes, wonach sogenannte Killerspiele zu realer Gewalt führten.
Wesentlich ist die Erkenntnis, daß unterschiedliche Präsentationsweisen – etwa von Gewalt oder ethischen Dilemmata – zu unterschiedlichen Emotionen und Reaktionen führen, wobei auch die individuelle Haltung des Spielers Bestandteil einer moralischen Beurteilung werden sollte. So kann virtuelle Gewalt im Stile Tarantinos durchaus überzeichnet werden, sie kann als rauschhaftes Erlebnis erscheinen oder gar komische Züge aufweisen, ohne damit per se moralisch verwerflich zu sein.
Umgekehrt kann Gewalt ebensogut auf eine Art erscheinen, die den Spieler bewußt zu einer Auseinandersetzung mit seiner Rolle zwingt. Dies wird etwa dann deutlich, wenn das Spiel Themen wie Folter oder die »Kollateralschäden« einer militärischen Aktion veranschaulicht. Der Spieler ist dann angehalten, das simple Schema von Gut und Böse, aber auch die eigenen Motive und Handlungen zu hinterfragen – innerhalb wie außerhalb des Spielgeschehens.
Auch Gramsci und sein Konzept der kulturellen Hegemonie werden nicht außer acht gelassen: »Computerspiele sind nun eines der Massenmedien unserer Zeit und deshalb metapolitisch höchst relevant.« Längst bemüht sich daher auch der Staat, dies für sich zu nutzen, etwa um Jugendliche von den Segnungen der Woke-Ideologie zu überzeugen – ein Ansinnen, dem der Autor kritisch gegenübersteht, etwa wenn er augenzwinkernd feststellt: »Nicht einmal Super Mario, der sich routinemäßig der Errettung von Prinzessin Peach aus den Klauen des Bösewichts Bowser verschrieben hat, war vor dem Vorwurf des Sexismus sicher.«
Auch die verfemten Schnellrodaer Computerspielhelden des längst indizierten »Heimat Defender: Rebellion« finden Erwähnung, nicht ohne Hinweis darauf, daß derselbe Staat eben kein Problem mit der spielerisch durchaus vergleichbaren kommunistischen Aufstandsphantasie »Tonight We Riot« hat.
Ostritsch als Philosoph läßt selbstverständlich auch die Klassiker seines Fachs zu Wort kommen; Aristoteles, Kant und Hegel haben hier durchaus viel beizutragen, und der gekonnt geschlagene Bogen ist zudem mit Spannung und Erkenntnisgewinn angereichert, auch zu Problemfeldern wie Computerspielsucht oder der um sich greifenden »Gamification« vieler Lebensbereiche.
Ein Glossar am Ende des Textes, das insbesondere für Abstinenzler hilfreich sein dürfte, rundet das Buch ab. Die populärwissenschaftliche und mit vielen Beispielen versehene Darstellung, die glücklicherweise nicht unter den Berufskrankheiten philosophischer Texte leidet, ist in sich schlüssig. Es ist ein unaufgeregtes, wohltuend sachliches Buch, das seiner Rolle als Überblicksdarstellung gerecht wird und das dazu beitragen kann, eine teils aus dem Ruder gelaufene Debatte zu entschärfen.
Als Fazit bleibt vor allem die Idee, daß auch Computerspiele im Rahmen eines aristotelischen »guten Lebens« ihren Platz haben können – solange man eben mit Bedacht spielt, darüber das reale Leben und den Freundeskreis nicht vernachlässigt und auf jene Art maßhält, die der Philosoph auch in anderen Bereichen einfordert.
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Sebastian Ostritsch: Let’s Play oder Game Over? Eine Ethik des Computerspiels, München: dtv 2023. 256 S., 18 €
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