Geschichte wiederholt sich nicht. Das wissen wir und sind dennoch davon überzeugt, daß uns die Geschichte bei der Beantwortung aktueller Fragen helfen könne.
Eine dieser Fragen betrifft das Verhältnis zu Rußland. Die Haltung der deutschen Rechten dazu ist uneinheitlich, aber durch den Ukrainekrieg ist die Antwort zu einer Entscheidungsfrage geworden. Die Bandbreite reicht von klarer Gegnerschaft im Sinne des transatlantischen Bündnisses über Neutralitätsforderungen bis hin zu ausgesprochen rußlandfreundlichen Vorstellungen. Alle sind auf der Suche nach historischen Belegen, mit denen sich ihre Sicht als die wahre und tragbare herausstellen könnte.
Die Freunde Rußlands werden Tauroggen und Rapallo bemühen, die Gegner eher Potsdam und Butscha. Aber der Name Bismarck kann auf beiden Seiten in Anschlag gebracht werden. (1) Denn Bismarck hatte es ebenfalls mit einem Rußland zu tun, das in der Öffentlichkeit äußerst umstritten war. Er kannte Rußland, sprach sogar etwas Russisch (2) und war als pragmatischer Politiker bemüht, den Koloß nicht gegen das Deutsche Reich aufzubringen. Er etablierte das Konstrukt des Rückversicherungsvertrags. Damit sollte die Einkreisung Deutschlands verhindert werden: Keine Allianz zwischen Rußland und dem auf Rückgewinnung von Elsaß-Lothringen drängenden Frankreich!
Aber auch darüber hinaus bestand damals die Notwendigkeit, sich mit Rußland zu verständigen. Es gab eine gemeinsame Grenze, die gegenseitige Unterstützung bei der Bekämpfung polnischer Aufstände und (nicht nur) in den baltischen Provinzen Rußlands eine starke deutsche Minderheit, die durch Russifizierungskampagnen bedroht war.
Im Jahr von Bismarcks 200. Geburtstag waren in Moskau Plakate zu sehen, die für ein patriotisches Geschichtsportal warben. Darauf war Bismarck nach dem berühmten Lenbach-Gemälde vor einer Landkarte abgebildet und folgendes Zitat angeführt: »Man kann die Russen nicht besiegen, das haben wir über Jahrhunderte gelernt. Aber man kann den Russen falsche Werte einbläuen, dann besiegen sie sich von selbst.« Bismarck hielt es tatsächlich für nahezu unmöglich, eine Nation zu besiegen. Das hat er im Hinblick auf die Polen, die trotz ihrer fehlenden Staatlichkeit zäh an ihrer Nation festhielten, immer wieder betont.
Die Otto-von-Bismarck-Stiftung konnte keinen Beleg für die Urheberschaft Bismarcks an diesem Zitat finden. (3) Woran das falsche Zitat anknüpft, ist eine Erfahrung, die Rußland 1917 machen mußte, als die westlichen Ideen des Liberalismus, Nationalismus und schließlich Kommunismus das Land an den Rand der totalen Niederlage brachten – ohne Zweifel eine Schwächung von innen heraus. (Daß Rußland zu diesem Zeitpunkt nicht ohne Grund eine Revolution erlebte, weil die Zustände an der Front und in der Heimat unhaltbar geworden waren, muß dabei natürlich ausgeblendet werden.)
Die russische Februarrevolution, die nach unserem Kalender im März 1917 stattfand und die das Ende der Zarenherrschaft bedeutete, weckte in Deutschland bezüglich eines Separatfriedens große Hoffnungen, die von der provisorischen Regierung nicht erfüllt wurden. Daher versuchte man Einfluß zu nehmen. Nach außen nicht erkennbar, sollten »unter der Hand« die Gegensätze zwischen den bürgerlichen und den extremen Kräften verstärkt werden, um letztere zum Sieg zu führen, weil man so rascher zum Ziel, dem »Zusammenbruch der russischen Macht«, gelangen würde. (4) Deshalb ließ man Lenin durch Deutschland nach Schweden und von dort nach St. Petersburg (das aus antideutschen Gründen im August 1914 in Petrograd umbenannt worden war) reisen.
Für Rußland bedeuteten die nächsten vier Jahre Krieg und Bürgerkrieg, von dem Edwin Erich Dwingers Zwischen Weiß und Rot berichtet. Im russischen Bürgerkrieg, den Dwinger auf seiten der weißen Truppen des Admirals Koltschak mitmachen mußte, deutete sich der Weltbürgerkrieg der Ideologien, der das 20. Jahrhundert prägen sollte, bereits an. Dwingers Buch ist einer der wenigen Augenzeugenberichte, die es von deutscher Seite dazu gibt. Das Buch sorgte bei Erscheinen für Aufsehen, weil Dwinger, der den Bolschewismus als unmenschliche Ideologie erlebt hatte, nicht verschweigt, daß diese Saat nur auf dem Boden einer rücksichtslosen Ständegesellschaft gedeihen konnte. Trotz der brutalen Realität der Bolschewisten gelang es den Weißen nicht, Rückhalt im Volk zu finden.
Die Erfahrung des bolschewistischen Terrors, der sich zunächst vor allem im Baltikum, in Polen und der Ukraine austobte, hat Ernst Nolte als ursächlich für die nationalsozialistische Weltanschauung angesehen und deren Bestandteil, den Antisemitismus, auf die Tatsache zurückgeführt, daß an der bolschewistischen Revolution und dem folgenden Terror zahlreiche Juden in führender Position tätig gewesen waren. (5) Nolte verwies aber auch darauf, daß die hinter dem Bolschewismus stehenden Ideologie, der Marxismus, eine deutsche Erfindung war. (6)
Daß die proletarische Revolution zuerst in Rußland stattfinden und Erfolg haben würde, hatte Marx nicht vorausgesehen. 1860 wunderte er sich darüber, daß ausgerechnet an der Moskauer Universität eine Vorlesung über seine Kritik der politischen Ökonomie stattfand. Überhaupt gab es ein großes Interesse der russischen Intellektuellen, revolutionäre Theorien kennenzulernen, der Marxismus machte da keine Ausnahme. Die erste Übersetzung des Kapitals erschien 1872 auf russisch (und wurde gleich verboten). Grund für das starke Interesse war die zunehmende und schnelle Verbreitung kapitalistischer Produktionsverhältnisse im agrarisch geprägten Rußland. Gleichzeitig gingen die Intellektuellen davon aus, daß die Russen einen natürlichen Hang zum Kommunismus hätten, weil es dort eine lange Tradition des Gemeineigentums gebe.
Entdeckt hatte die Existenz des »Mir«, wie das bäuerische Gemeineigentum genannt wurde, wiederum ein Deutscher, Baron von Haxthausen, der Mitte des 19. Jahrhunderts seine Studien über die inneren Zustände Rußlands veröffentlichte. Marx und Engels verstiegen sich daher zu der Aussage: »Wenn die russische Revolution das Signal zu einer Arbeiterrevolution im Westen wird, so daß beide einander ergänzen, dann kann das heutige russische Gemeineigentum zum Ausgangspunkt einer kommunistischen Entwicklung dienen.« (7) Es blieb aber klar, daß es eine proletarische Revolution in Rußland zunächst nicht geben würde. Ganz in diesem Sinne hat Lenin 1918 Deutschland und Rußland als »zwei getrennte Hälften des Sozialismus« bezeichnet: »wie zwei Küken unter der Eierschale des Imperialismus« (8), die beide gemeinsam zerbrechen sollten.
Damit dieser deutsche Import seine Wirkung entfalten konnte, brauchte es den Weltkrieg, der sich nach anfänglichen Erfolgen für Rußland zu einer Katastrophe auswuchs. Die deutsche Erinnerung an den Ersten Weltkrieg ist auf die Westfront fixiert, weil der dortige Stellungskrieg das Besondere des Krieges ausmachte. Die erste deutsche Kriegserklärung ging allerdings am 1. August 1914 an Rußland, das schon am 30. Juli die Generalmobilmachung verkündet und auf ein deutsches Ultimatum zur sofortigen Beendigung nicht reagiert hatte. Im Osten fanden auch die ersten schweren Kämpfe statt, und Ostpreußen war der einzige Teil Deutschlands, der während des Krieges vom Feind besetzt war.
Es konnte im Rahmen der Tannenbergschlacht, der Schlacht an den Masurischen Seen und der Winterschlacht in Masuren schließlich im Februar 1915 wieder befreit werden. Die Verheerungen, die durch die Russen angerichtet wurden, und die Behandlung der deutschen Bevölkerung, die einen Vorgeschmack auf das bot, was dreißig Jahre später folgen sollte, sorgten für ein Aufflammen antirussischer Gefühle. Sven Hedin, der sich im Kriegsgebiet aufhielt, resümierte: »Das Vorgehen der Kosaken und der übrigen russischen Truppen in Ostpreußen ist und bleibt ein unauslöschlicher Schandfleck in Rußlands Kriegsgeschichte und ebenso ein Schandfleck auf dem Wappenschild der Christenheit im 20. Jahrhundert.« (9)
Am Ende des Krieges führte die Ostfront zu einer paradoxen Situation: Während man im Westen kapitulieren mußte, war der Krieg im Osten gewonnen. Nicht nur, daß die bolschewistische Regierung den Friedensvertrag von Brest-Litowsk unterzeichnet hatte, deutsche Truppen beherrschten zudem ein riesiges Gebiet, welches das Baltikum und Teile Weißrußlands und der Ukraine umfaßte, und standen auf einer Linie zwischen Pleskau im Norden, Gomel in der Mitte und Rostow im Süden. Hier schien sich eine alte deutsche Sehnsucht zu bewahrheiten: Ordnungsmacht und Schutzmacht im Osten zu sein und die Völker vom russischen Joch zu befreien.
Diese Sehnsucht korrespondierte mit einem anderen Phänomen, das in Deutschland eine lange Tradition hatte: die Sehnsucht nach dem Osten als der Himmelsrichtung, in der man den noch kulturell unverdorbenen, den eigentlichen Menschen zu finden hoffte, wenn nicht gar die Erlösung erwartete. Der Dichter Rainer Maria Rilke ist aus diesem Grund zweimal Anfang des 20. Jahrhunderts in Rußland gewesen und suchte dort die bäuerliche Einfachheit. Diese hielt er für so typisch russisch, daß ihm der arrivierte Schriftsteller Maxim Gorki bei einer Begegnung in Italien sehr unrussisch vorkam. Noch kurz vor seinem Tod bekannte Rilke, daß ihn der Anblick der Pilger vor einer Kathedrale erschüttert habe: »zum ersten Mal in meinem Leben hatte ich ein unausdrückbares Gefühl, etwas wie ›Heimgefühl‹ – ich fühlte mit großer Kraft die Zugehörigkeit zu etwas, mein Gott, zu etwas in der Welt«. (10)
Etwas von dieser Haltung schwingt, trotz aller Ereignisse die seither geschehen waren, in dem 1938 erschienenen Buch Europa und die Seele des Ostens von Walter Schubart mit. Er entwickelt darin »die Ansicht, daß die Ostkirche ein drittes, das johanneische Christentum hervorbringen wird«. (11) Ernst Jünger schreibt weiter, daß der Autor im »letzten Krieg in Rußland verschollen« sei, was die Tragik dieses Erlösungsgedankens, der sich auch durch den Bolschewismus nicht irre machen ließ, noch einmal unterstreicht. Denn Schubart, der mit einer aus dem Baltikum stammenden Jüdin verheiratet war, wurde 1941 von der sowjetischen Geheimpolizei deportiert und starb 1942 in einem Lager.
Als der Philosoph Max Scheler während des Ersten Weltkrieges über die »Nationalideen der großen Nationen« philosophierte, charakterisierte er die Russen als das »freiwillige Opferlamm der Menschheit«. Im Gegensatz zu den Franzosen, die die Welt mit ihren Idealen anführen wollten, und den Briten, die sich selbst für das auserwählte Volk hielten, hingen die Russen einer christlich-orthodoxen und slawischen Brüderlichkeitsidee an, die allerdings äußerst aggressiv vorgehe: »Und willst Du nicht mein Bruder sein, so schlag ich Dir den Schädel ein.« (12)
Das Aggressive bezieht sich zweifellos auf die zahllosen Belege russischer Grausamkeit, deren letzter ja gerade in Ostpreußen erbracht worden war. Das Brüderlichkeitspathos bezieht sich auf eine Aussage von Dostojewski aus der berühmten Puschkin-Rede, die auch Thomas Mann in den Betrachtungen eines Unpolitischen zitiert, wonach ein echter, ganzer Russe zu werden heiße, »ein Bruder aller Menschen werden, ein Allmensch«. Für Thomas Mann gehören Rußland und Deutschland zusammen: »ihre Verständigung für jetzt, ihre Verbindung für die Zukunft ist seit den Anfängen des Krieges der Wunsch und Traum meines Herzens.« (13) Die russische Revolution spielt keine Rolle, Russe bleibt Russe. Ebensowenig konnten die russischen Grausamkeiten Mann von seiner Überzeugung abbringen.
Russische Dichtung und Schriftsteller spielten schon für deutsche Intellektuelle des 19. Jahrhunderts eine ganz besondere Rolle. Das trifft auf die Rezeption der Menschheitsliebe Tolstois ebenso zu wie auf die des Nihilisten Basarow aus Turgenjews Väter und Söhne, besonders aber auf die Werke Dostojewskis, die in Deutschland Epoche gemacht haben. Nietzsches Philosophie legt davon Zeugnis ab, wenn er im Willen zur Macht schreibt: »Eine pessimistische Denkweise und Lehre, ein ekstatischer Nihilismus kann unter Umständen gerade dem Philosophen unentbehrlich sein: als mächtiger Druck und Hammer, mit dem er entartende und absterbende Rassen zerbricht und aus dem Wege schafft, um für eine neue Ordnung des Lebens Bahn zu machen.« (14)
Dostojewski traf den Zeitgeist in dem Moment, als die westliche Kultur sich selber fremd wurde. Die von Arthur Moeller van den Bruck zwischen 1906 und 1919 in 22 Bänden herausgegebenen Werke Dostojewskis waren dementsprechend populär: »Die roten Piper-Bände der Dostojewskijschen Romane flammten auf jedem Schreibtisch.« (15) Übersetzt wurden die Schriften Dostojewskis von E. K. Rahsin, ein Pseudonym für Elisabeth Kaerrick, mit deren Schwester Lucy Arthur Moeller van den Bruck verheiratet war.
Moeller beobachtete die Entwicklungen im Osten sehr genau und schrieb am 3. April 1918, nach dem Abschluß des Vertrags von Brest-Litowsk: »Als der Krieg ausbrach, war der Osten ein Dogma. Es hieß Rußland. Dieses Dogma mußte zerschlagen werden, um die Probleme freizumachen, die Rußland nicht lösen konnte.« Jedoch sei nicht Rußland zerschlagen worden, sondern nur das dortige »Westlertum«. Das eigentliche Rußland werde darüber hinweggehen: »auch hier wird am Ende Tolstois russischer Bauer wieder zu Tolstois russischer Erde zurückfinden«. (16) Worauf Moeller hier Bezug nimmt, ist die Europäisierung Rußlands, die schon vor Peter dem Großen einsetzte, mit ihm aber Fahrt aufnahm und zur Modernisierungsagenda wurde, die Oswald Spengler dann im Untergang des Abendlandes als den Beginn der russischen Pseudomorphose ausmacht.
Peter unternahm nicht nur eine Reise nach Europa, holte viele Deutsche in das neugegründete Petersburg, sondern rückte Rußland auch in das Bewußtsein der deutschen Intellektuellen der damaligen Zeit. Das Land, zu dem es zwar seit den Zeiten der Hanse und des Deutschen Ordens einen Bezug gab, der aber nicht zum Austausch führte, bekam ein Gesicht. Aber nicht nur das: Rußland entwickelte sich unter Peter zu einer europäischen Macht, mit der zu rechnen war. Es kamen nicht nur Deutsche nach Rußland, sondern auch die Baltendeutschen gerieten unter russische Herrschaft, zunächst nur die in Estland, später, nach den polnischen Teilungen, auch der Rest.
Aus diesem deutschen Bevölkerungsteil, zu dem unter Katharina der Großen noch die religiösen Siedler kamen, entwickelte sich eine besondere Dynamik. Die Deutschen galten als »privilegierte Minderheit des Reiches«, da sie im Militär, im Staatsapparat überhaupt und im Handel eine herausragende Position einnahmen, was entsprechende Vorbehalte in nationalistischen Kreisen förderte. Der Sturz der Romanows wurde nicht zuletzt damit begründet, daß die Zarin Deutsche war. (17)
Nach der Konsolidierung Rußlands als Sowjetunion im Innern folgten erste Schritte zur außenpolitischen Etablierung. Da die Westmächte als treibende Kraft hinter den Versuchen, das bolschewistische Regime zu stürzen, ausgemacht wurden, wandte man sich dem anderen Paria, den Deutschen zu. Hier hatte man zunächst versucht, den kommunistischen Umsturz zu befördern. Dies gelang nicht, und so stellte man diese Versuche ein und suchte den Kontakt auf Grundlage gemeinsamer Interessen. Daß Deutschland bereit war, den Antibolschewismus hintenanzustellen, hat mit der »nachhaltigen Schockwirkung« des Versailler Diktats zu tun. (18) Insofern war der Vertrag von Rapallo, der 1922 am Rande der Konferenz von Genua geschlossen wurde, Ausdruck einer Annäherung, die nicht aufgrund überspannter Sympathie erfolgte, sondern weil beide Seiten einen gemeinsamen Gegner hatten.
In dieser Phase trat ein historisches Ereignis wieder in das Bewußtsein deutscher Öffentlichkeit, das zwar zum festen Bestand vaterländischer Geschichtsschreibung gehörte, dessen erzählerischer Schwerpunkt sich jetzt aber änderte: Tauroggen. Dieses mit dem mittlerweile in Litauen liegenden Ort bezeichnete Ereignis wird heute als ein »bleibendes Symbol deutsch-russischer Freundschaft« angesehen. (19) Damals, im Dezember 1812, waren die Preußen unfreiwillig Verbündete Napoleons und machten den Rückzug seiner Grande Armée im Baltikum mit. Die Russen setzten den Franzosen nach und versuchten, die Preußen zum Seitenwechsel zu bewegen. Es wurden zahlreiche Briefe zwischen General Yorck, dem preußischen Befehlshaber, und der russischen Seite gewechselt.
Yorck versuchte als guter Offizier, die Erlaubnis seines Königs einzuholen. Dieser, über die katastrophale Lage der Franzosen nicht im Bilde und auch kein Freund spontaner Aktionen, wollte sich nicht festlegen. Am 28. Dezember kam der in russischen Diensten stehende Clausewitz als Unterhändler zu Yorck, der sich schließlich überzeugen ließ und am 30. Dezember mit dem russischen General Diebitsch, der aus schlesischem Adel stammte, die Konvention von Tauroggen unterzeichnete. Diese Insubordination, die vom König zunächst mißbilligt wurde, gilt seither als Signal zur Erhebung Preußens gegen Napoleon, als beispielhaftes Zeugnis für den freien Entschluß eines Offiziers und eben als Zeugnis deutsch-russischer Freundschaft. Von letzterer zeugt noch die Siedlung Alexandrowka in Potsdam, die ursprünglich für russische Veteranen der Befreiungskriege errichtet worden war.
In der russischen Geschichtsschreibung spielt diese Tat heute keine größere Rolle, 1944 sprengte die Rote Armee den 1912 gesetzten Gedenkstein. In Deutschland wurde die Konvention von Tauroggen verschiedenen Deutungen unterworfen. Vor dem Ersten Weltkrieg reklamierte das deutsche Heer als Retter des Vaterlands diese Tat für sich, nach dem Krieg gab es eine neue Lage. In der Zeit zwischen dem Waffenstillstand im November 1918 und Versailles gab es folgenlose Überlegungen, einen Militär die Yorck-Rolle übernehmen zu lassen, um die Politiker nicht mit dem Widerstand belasten zu müssen. (20) Im August 1920 wurde die Rote Reiterarmee seitens der Deutschen in Soldau (Ostpreußen) als Befreier von den Polen begrüßt, ohne daß sich daraus ein neues Tauroggen entwickelte. (21) Und auch Rapallo wurde kein zweites Tauroggen.
Denn allen diesbezüglichen Annäherungen stand mit Polen ein neugeschaffener Staat im Wege, der von den Alliierten ganz bewußt zu den beiden Kriegsverlierern in Stellung gebracht wurde. Es ist daher zweifelhaft, daß Hitler sich von historischen Beispielen wie Tauroggen leiten ließ, als im August 1939 der Hitler-Stalin-Pakt unterzeichnet wurde. Alle späteren Versuche, die Russen gegen den Bolschewismus in Stellung zu bringen und mit ihnen gemeinsam zu kämpfen, scheiterten am Glauben an die eigene Höherwertigkeit. Es war das kommunistische Nationalkomitee Freies Deutschland, das sich bei seinem Abfall von Deutschland auf Tauroggen berief. Im konservativen Widerstand spielte es so gut wie keine Rolle, das Symbol war zu zweideutig: Ging es darum, sich mit einer verfeindeten Macht zu verbünden, oder um den freien Entschluß? (22)
Am Ende des Dritten Reiches geriet ein anderes Ereignis der deutsch-russischen Geschichte in den Blickpunkt. Seit Stalingrad betonte man die Beharrlichkeit Friedrich des Großen als Tugend, der es nachzueifern gelte. Denn nur ihr habe er es zu verdanken gehabt, daß ihm in der kritischsten Phase des Siebenjährigen Krieges das »Mirakel des Hauses Brandenburg« zuteil wurde. Mit diesem Wunder war der Tod der russischen Zarin Elisabeth am 5. Januar 1762 gemeint, die sich bis dahin als ausgesprochene Feindin Friedrichs gezeigt hatte. Ihr Nachfolger, Paul III., bewunderte Friedrich, zog seine Truppen ab und unterschrieb schließlich einen Friedensvertrag. Friedrich konnte anschließend die allein weiterkämpfenden Österreicher besiegen. (23) Auf einen ähnlichen Befreiungsschlag hoffte Hitler nach dem Tod von Roosevelt vergeblich.
Erstmals verwendet wurde die Formel vom »Mirakel« allerdings am 1. September 1759, auch im Zusammenhang mit den Russen. Die hatten es nämlich versäumt, nach dem Sieg bei Kunersdorf weiter in Richtung Berlin vorzustoßen, und Friedrich damit zunächst vor Schlimmerem bewahrt. Als die Russen 1760 Berlin schließlich doch noch besetzten, blieben sie vier Tage und zogen dann in Richtung Frankfurt (Oder) ab, weil sie den preußischen König auf ihrer Fährte wähnten. Die Besetzung blieb eine Episode des Siebenjährigen Krieges, auch wenn es damals massive Plünderungen, Brandschatzungen und Zerstörungen gab. Auch das war 1944 anders, als die Sowjets mit Ostpreußen deutsches Gebiet erreichten.
Es wurde eine nie dagewesene Orgie der Zerstörung und Gewalt entfesselt. Stellvertretend sei hier das Tagebuch des Grafen Lehndorff zitiert, der in dem gerade von den Sowjets eroberten Königsberg resümiert: »Kann man überhaupt von diesen Dingen schreiben, den furchtbarsten, die es unter Menschen gibt? Ist nicht jedes Wort eine Anklage gegen mich selbst? Gab es nicht oft genug Gelegenheit, sich dazwischenzuwerfen und einen anständigen Tod zu finden? Ja, es ist Schuld, daß man noch lebt, und deshalb darf man dies alles auch nicht verschweigen.« (24) Aber selbst in diesem Moment hat er noch die Kraft zur Differenzierung zwischen Bolschewismus und Rußland: »Das hat nichts mit Rußland zu tun, nichts mit einem bestimmten Volk oder einer Rasse – das ist der Mensch ohne Gott, die Fratze des Menschen.« (25)
Als sich die Sowjetarmee im April 1945 anschickte, dem Deutschen Reich mit der Eroberung Berlins den Todesstoß zu versetzen, begann eine Besatzungszeit, die beinahe 50 Jahre dauern sollte. Eine Sonderstellung nehmen dabei die Jahre zwischen 1945 und 1949 ein, als die sowjetischen Sieger auf dem Gebiet der späteren DDR die Sowjetische Besatzungszone (SBZ) einrichteten und Stalins Terrorregime auf deutschem Boden installierten.
Das Kriegsende vollzog sich als Fortsetzung der Leiden der ohnehin schon ermatteten und gequälten Bevölkerung. Die im Februar 1945 in Jalta festgelegte Demarkationslinie an Oder und Neiße bedeutete den Verlust der deutschen Ostgebiete und die Vertreibung von Millionen Deutschen, die westlich der Oder Zuflucht suchten. Der Einmarsch der Sowjettruppen ging überall mit Plünderungen und Vergewaltigungen einher, vielerorts kam es auch zu Erschießungen von Zivilisten. Die Erleichterung über das Ende des Krieges wich schlagartig der Ernüchterung.
Neben diesen unkoordinierten Folgen der russischen Besatzung etablierten die Sowjets bald ein System, mit dem sie bereits in Rußland von Beginn an ihre Herrschaft gesichert hatten: staatlich koordinierter Terror gegen Andersdenkende und sogenannte Klassenfeinde. Das durch Willkür gekennzeichnete System sorgte für umfassende Einschüchterung, da es im Zweifel jeden treffen konnte. Ziel war die »Säuberung« des von der Roten Armee eroberten Landes. Die zu verhaftenden Spione, Terroristen, Diversanten, so der NKWD-Jargon, sowie Mitglieder von NS-Organisationen sollten in Lagern und Gefängnissen untergebracht werden. Dies führte noch 1945 zur Errichtung von dreizehn der sogenannten Speziallager in der SBZ, in denen mehr als ein Drittel der Inhaftierten starb, worüber während der DDR-Zeit geschwiegen werden mußte. (26)
Die sowjetischen Truppen blieben in der 1949 gegründeten DDR und schlugen den Aufstand am 17. Juni 1953 nieder. Am Ende des Arbeiter-und-Bauern-Staates befanden sich noch über eine halbe Million sowjetische Soldaten und Militärangehörige auf deutschem Boden, die letzten verlegten 1994 in ihre Heimat. (27) Bis heute stehen hier die Siegesdenkmäler der Sowjets. Überstrahlt werden die oftmals negativen Erinnerungen an die sowjetischen Besatzer von der Dankbarkeit, schließlich mit dem Abzug die deutsche Wiedervereinigung ermöglicht zu haben. Die US-amerikanische Truppen sind bis heute in Deutschland stationiert. Im Westen war man allerdings froh, lediglich von den Amerikanern (sowie Briten und Franzosen) besetzt zu sein. Nur als Nationalpazifisten verunglimpfte Zeitgenossen sahen den Schlüssel zur deutschen Wiedervereinigung in Moskau. (28) Die Stalin-Note vom März 1952, die ein neutralisiertes, wiedervereinigtes Deutschland in Aussicht stellte, traf nicht ohne Grund auf wenig Gegenliebe.
Für die Sowjets war die deutsche Schuld, von einzelnen Ausnahmen abgesehen, mit der Übernahme des kommunistischen Systems erledigt, wenngleich »der Deutsche« als Feindbild erhalten blieb: »Als Kinder haben wir immer Krieg gespielt. Die Feinde waren die Deutschen, wie in allen Filmen, die uns gezeigt wurden.« (29) Die Umerziehung der Deutschen blieb an der Oberfläche, die Mängel des neuen Systems waren zu offensichtlich. Das erklärt vielleicht auch, warum man im Osten, trotz der unmittelbaren Erfahrung der sowjetischen Besatzung, immer noch geneigt ist, zwischen den Russen und ihren jeweiligen Herrschern zu unterscheiden. Den Glauben, daß ein ganzes Volk verdorben sein kann, haben die Sowjets nicht gepredigt, die Amerikaner schon.
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(1) – Vgl. dazu pars pro toto zwei Artikel aus der Jungen Freiheit: Hans-Christof Kraus: »Gegen Rußland eisern bleiben« (JF 2/22), der Bismarck für die gegenwärtige Politik der Bundesregierung requiriert, und Thorsten Hinz: »Doppelte Verlierer« (JF 15/22), der Bismarck den europäischen Weg einschlagen sieht.
(2) – Vgl. Werner Lehfeldt: Bismarck und die russische Sprache, Berlin 2019.
(3) – Vgl. Ulf Morgenstern: »Bismarck und die russischen Werte«, in: bismarck-stiftung.de vom 22. Januar 2016.
(4) – Vgl. Werner Hahlweg: »Lenins Reise durch Deutschland im April 1917«, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 5 (1957), S. 307 – 333.
(5) – Vgl. Ernst Nolte: Der europäische Bürgerkrieg 1917 – 1945. Nationalsozialismus und Bolschewismus, München 51997.
(6) – Vgl. Ernst Nolte: Deutschland und der kalte Krieg, München 1974, 57 f.
(7) – Zitiert nach: Valentin Gitermann: Geschichte Rußlands, Bd. 3, Zürich 1949, S. 319.
(8) – Zitiert nach: Gerd Koenen: Der Rußland-Komplex. Die Deutschen und der Osten 1900 – 1945, München 2005, S. 171.
(9) – Sven Hedin: Nach Osten! Leipzig 1916, S. 100.
(10) – Zitiert nach: Gunnar Decker: Rilke. Der ferne Magier. Eine Biographie, München 2023, S. 107.
(11) – Ernst Jünger: An der Zeitmauer, Stuttgart 1991, S. 252.
(12) – Max Scheler: Krieg und Aufbau, Leipzig 1916, S. 112 f.
(13) – Thomas Mann: Betrachtungen eines Unpolitischen, hrsg. und textkritisch durchgesehen von Hermann Kurzke, Frankfurt a. M. 2009, S. 479 f.
(14) – Zitiert nach: Dmitrij Tschizewskij, Dieter Groh (Hrsg.): Europa und Rußland. Texte zum Problem des westeuropäischen und russischen Selbstverständnisses, Darmstadt 1959, S. 514.
(15) – Hans-Georg Gadamer zitiert nach: Horst-Jürgen Gerigk: »Dostojewskij und Deutschland. Swetlana Geier zu Ehren«, in: horst-juergen-gerigk.de vom 10. Juli 2007.
(16) – Arthur Moeller van den Bruck: »Der Aufbruch nach Osten«, in: ders.: Der politische Mensch, hrsg. von Hans Schwarz, Breslau 1933, S. 156, 159.
(17) – Vgl. Koenen: Rußland-Komplex, S. 442.
(18) – Sebastian Haffner: Der Teufelspakt. Die deutsch-russischen Beziehungen vom Ersten zum Zweiten Weltkrieg, Zürich 1988, S. 94 f.
(19) – Wulf Wagner: »Tauroggen«, in: Erik Lehnert, Karlheinz Weißmann (Hrsg.): Staatspolitisches Handbuch, Bd. 4: Deutsche Orte, Schnellroda 2014, S. 188 ff.
(20) – Vgl. Michael Fröhlich: »Die Konvention von Tauroggen und die Instrumentalisierung eines Mythos«, in: portal-militaergeschichte.de vom 13. August 2014.
(21) – Vgl. Koenen: Rußland-Komplex, S. 292 f.
(22) – Vgl. Fröhlich: Konvention.
(23) – Jan von Flocken: »1762. Der Tod der Zarin Elisabeth von Rußland am 5. Januar wird zum Mirakel des Hauses Brandenburg«, in: Erik Lehnert (Hrsg.): Staatspolitisches Handbuch, Bd. 5: Deutsche Daten, Schnellroda 2017, S. 92 f.
(24) – Hans Graf von Lehndorff: Ostpreußisches Tagebuch. Aufzeichnungen eines Arztes aus den Jahren 1945 – 1947, München 1961, S. 75.
(25) – Ebd., S. 70.
(26) – Vgl. Michael Klonovsky, Jan von Flocken: Stalins Lager in Deutschland 1945 – 1950. Dokumentation – Zeugenberichte, Frankfurt a. M. 1991.
(27) – Vgl. Christoph Meissner, Lutz Priess: »Sowjetische Truppen im Land Brandenburg von 1945 bis 1994«, in: Die Mark Brandenburg, Heft 108/2018: Russen in Brandenburg, S. 32 – 39.
(28) – Zu ihnen gehörte etwa Richard Scheringer, vgl.: »Lieber brummen«, in: Der Spiegel 10/1960.
(29) – Michail Schischkin: »Das sind ja die Deutschen! Die Faschisten!«, in: ders., Fritz Pleitgen: Frieden oder Krieg. Rußland und der Westen – eine Annäherung, München 2019, S. 18.