In Deutschland herrscht die Ansicht vor, Serbien bilde so etwas wie eine russische Vorhut auf dem Balkan. Wahrscheinlich stammt diese vereinfachende Wahrnehmung noch aus der Zeit des Ersten Weltkriegs, in der Rußland als großer Strippenzieher hinter der serbischen Außenpolitik dargestellt wurde.
Die Vorstellung von den angeblich aggressiven Serben, die als verlängerter Arm Rußlands fungieren, hat in Deutschland bis zum jugoslawischen Bürgerkrieg überdauert. Johann Josef Dengler identifizierte in Criticón »serbische Kommunisten« als Übeltäter, während Klaus Hornung in derselben Zeitschrift mutmaßte, daß Großbritannien die Schaffung eines Großserbiens anstrebe.
Wie London und Paris gegenüber den Serben tatsächlich eingestellt waren, zeigten die NATO-Angriffe gegen die Republika Srpska 1995 und gegen Serbien 1999. In einem anderen Text, in dem er »eine militärische Intervention« gegen die Serben in Bosnien und Herzegowina befürwortete, mahnte Hornung, daß auch »die Generäle Rußlands« aus dem »serbischen Fall« ihre Schlüsse ziehen würden. Man müsse also die Serben bestrafen, um die Russen in Schach zu halten.
Die Gleichsetzung der Serben mit dem Kommunismus entspricht dem bekannten Bild von den serbisch-russischen Beziehungen, aber hat auch viel mit einem falschen Verständnis des orthodoxen Glaubens zu tun. Etliche westliche Autoren waren der Ansicht, daß die orthodoxen Völker besonders anfällig für den Kommunismus seien. Diese Fehldiagnose stellte auch Otto von Habsburg, der behauptete, die orthodoxen Völker Ost- und Südeuropas hätten am wenigsten Widerstand gegen ihre Bolschewisierung geleistet und nicht zufällig eine Art »Nationalkommunismus« entwickelt.
Aus dieser Deutungslinie leitet sich die Vorstellung ab, daß nicht bloß die Kommunisten, Serben oder serbischen (National-)Kommunisten, sondern die Russen und die Orthodoxie der eigentliche Feind der abendländischen Kultur seien. Reportagen aus dem jugoslawischen Bürgerkrieg charakterisierten die Serben immer wieder auf abwertende Weise als »östlich«, »byzantinisch« und »orthodox«. Der serbische Historiker Milorad Eknečić zog daraus den Schluß, daß Serbophobie sehr oft nur ein Ausfluß der westlichen Russophobie sei.
Wenn aber Rußland als Feind des Westens betrachtet wird, gilt das auch für die potentiell prorussischen Serben; wenn man gemäß dieser Logik die Russen bekämpfen will, muß man auch die Serben unter Kontrolle bringen, auch jene in Bosnien und Herzegowina oder in Montenegro. Nicht nur die serbische Regierung, sondern das serbische Volk als Ganzes wird von der westlichen Politik als geopolitischer Antagonist eingestuft.
Aber auch manche serbischen Autoren sind der Ansicht, daß eine liberale Haltung mit einer prowestlichen, eine konservative, nationale oder traditionalistische Haltung hingegen mit einer prorussischen Orientierung gleichzusetzen sei. Die westlichen Medien bezeichnen die Hauptträger der letzteren Richtung als »rechtsextrem«. Auch diese Deutung, die in Serbien vor allem in liberalen Kreisen Wurzel geschlagen hat, beruht auf einem verzerrten Geschichtsbild. In seiner programmatischen Schrift Der Entwurf schrieb der bedeutende serbische Staatsmann Ilija Garašanin schon 1844, daß ein russisch-serbisches Bündnis zwar natürlich und naheliegend sei, riet aber trotzdem dazu, gegenüber Rußland nüchtern, vorsichtig und skeptisch zu bleiben.
Auch spätere serbische Konservative blieben rußlandskeptisch und befürworteten eine Orientierung an Österreich-Ungarn und an Deutschland. Sie befürchteten eine Russifizierung der Serben und lehnten panslawistische Bestrebungen als absurd ab. Andererseits waren es die serbischen Liberalen des 19. Jahrhunderts, die sich im großen und ganzen eher an Rußland orientierten. Russische Traditionalisten veröffentlichten 1860 einen Hirtenbrief an die Serben, der die Verwestlichung der orthodoxen Balkanvölker kritisierte. Dieser Brief forderte das serbische Volk auf, seine Identität und Selbständigkeit zu erhalten, während er betonte, daß die Orthodoxie die Grundlage des serbischen und slawischen Wesens sei. Man fürchtete, daß eine außenpolitische Bindung Serbiens an Wien die Verbreitung von Materialismus und Rationalismus hier beschleunigen könnte, eine Entwicklung, der mit einer entschiedenen Hinwendung zum orthodoxen Rußland vorzubeugen sei.
Was heißt es überhaupt, »prorussisch« zu sein? Rußland ist kein homogener Block und war es auch niemals. Mehr als eine Million sowjetischer Bürger, darunter 700 000 Slawen, kämpften im Zweiten Weltkrieg auf deutscher Seite. Das zeigt, wie tief die Spaltungen innerhalb Rußlands waren. Sowohl eine prokommunistische als auch eine antikommunistische Haltung ließen sich russophil rechtfertigen. Zum Beispiel zeigte König Alexander I. (1888 – 1934) Sympathien für die »weißen« Russen und die russisch-orthodoxe Kirche im Exil, gepaart mit einer deutlich antisowjetischen Haltung. Bis 1940 pflegte das Königreich Jugoslawien keine diplomatischen Beziehungen mit dem Sowjetstaat. Vor dem Zweiten Weltkrieg unterschied die serbische Rechte konsequent zwischen der Sowjetunion und Rußland. Die damalige Position der Sowjetunion wiederum war eher antiserbisch. Moskau betrachte das »monarcho-faschistische« Königreich Jugoslawien als ein Werkzeug der »großserbischen Bourgeoisie« und unterstützte separatistische Bewegungen.
Wer die heutige Lage Serbiens verstehen will, muß jedoch alle einfachen Formeln über Bord werfen. Serben und Russen sind zwei verschiedene Völker mit auffälligen Ähnlichkeiten, aber auch eigenen geschichtlichen Prägungen. Verbindend sind vor allem das orthodox-byzantinische Erbe und die slawische Herkunft. Der orthodoxe Glaube und die Nationalkirche waren für die Serben stets Fundament ihrer nationalen Identität. Schlechte Erfahrungen mit dem Islam während der osmanischen Okkupation des Balkans, mit dem katholischen Proselytismus und mit der Verwestlichung überhaupt hatten große Teile des serbischen Volkes vor allem in den Randgebieten dazu getrieben, in Rußland einen Beschützer des orthodoxen Glaubens und der traditionellen Kultur zu sehen. Das hat manchmal zu einer unkritischen Romantisierung geführt.
Obwohl ihre ethnokulturellen Ähnlichkeiten und traditionell engen Beziehungen nicht zu leugnen sind, bleiben die Serben und die Russen verschiedene Völker mit ausgeprägtem Selbstbewußtsein, eigenen nationalen Interessen und einer komplexen wechselseitigen Geschichte. Journalisten und Moralisten kennen die Geschichte im allgemeinen sehr schlecht und vergessen, daß es ihrer bedarf, um das Verhalten der Völker zu verstehen und die Grenzen zu erkennen, innerhalb derer Lösungen zu suchen sind.
Folgende historisch bedingte Tatsachen sind für die gegenwärtige außenpolitische Orientierung Serbiens von Bedeutung:
- Serbien wurde am Ende des 20. Jahrhunderts von der NATO bombardiert. Die Westmächte unterstützten die unilaterale Abspaltung des Kosovo wie auch die Verkrüppelung des serbischen ethnokulturellen Raums durch künstliche Grenzen und ad hoc erfundene ethnische Identitäten. Noch heute üben die Westmächte Druck auf den serbischen Teil von Bosnien und Herzegowina aus. Die Vereinigten Staaten haben mit Unterstützung des EU-Parlaments Sanktionen gegen den Präsidenten der bosnischen Republika Srpska, Milorad Dodik, verhängt. Das Ziel ist offenbar, die rechtlich anerkannte Autonomie der Republik aufzuheben und die Serben unter die zentralistische Kontrolle von Sarajevo zu bringen, was praktisch alle Serben unabhängig von ihren politischen Präferenzen ablehnen.
Der Konflikt zwischen den Westmächten und den Serben war nie eine Frage der »Demokratie« oder der Liberalisierung, sondern in erster Linie geopolitisch bedingt. Im jugoslawischen Bürgerkrieg wollten die Serben nach dem Zerfall des jugoslawischen Vielvölkerstaates einen eigenen, relativ homogenen Nationalstaat gründen, gerade in dem Moment, als sich der Westen anschickte, Nationalstaaten durch die Schaffung multikulturalistischer und transnationaler politischer Strukturen aufzulösen.
Nach der offenen Aggression von 1999 hat die NATO ihren Krieg mit anderen Mitteln weitergeführt. Die Prozesse vor dem Internationalen Gerichtshof in Den Haag gehören ebenso dazu wie auch der »deutsch-französische Plan« für den Kosovo und andere Erpressungsversuche seitens der EU. Wenn die Serben ihre Souveränität, ihre Grenzen und ihre nationale Selbstachtung erhalten wollen, sind sie gezwungen, Widerstand gegen die Westmächte zu leisten. Sie sind seit dem Zweiten Weltkrieg das einzige europäische Volk, das sich kraft seines ausgeprägten Nationalbewußtseins ohne Verbündete im Rücken, ohne durchdachte Strategie, im Alleingang und aus eigenem Antrieb heraus den atlantisch-globalistischen Kräften widersetzt hat.
- Die Serben sind im Vergleich zu anderen Völker Europas noch ein relativ konservatives, traditionsorientiertes und nationalbewußtes Volk. Die serbisch-orthodoxe Kirche spielt im gesellschaftlichen Leben des Landes eine wichtige Rolle als patriotische, Ehe und Familie schützende Institution. Aus der orthodoxen Perspektive ist die Idee eines globalistischen Weltstaats widersinnig. Das himmlische Serbien kann nicht in einer utopischen »One World« aufgelöst werden, die serbische Kirche ist entweder eine Nationalkirche oder gar keine Kirche mehr. In der Welt der Orthodoxie gibt es keinen Platz für »Homoehe« oder Genderideologie. Die Kirche hat in der Zeit des Kommunismus viele Erfahrungen mit dem Totalitarismus gesammelt und ist darum befähigt und bereit, auch heutige totalitäre Tendenzen zu bekämpfen. Aus dieser Perspektive wird der Konflikt mit den Globalisten nicht nur geopolitisch, sondern auch ideologisch oder, wenn man es so nennen will, geistig ausgetragen. Die linksliberale Ideologie, die heute in Europa hegemonial geworden ist, ist für die breite Masse des serbischen Volkes nicht nur fremd, sondern vollkommen inakzeptabel.
- Serbien ist eine zu kleine Nation, um sich geopolitisch und ideologisch allein gegen die westliche Welt stellen zu können. Es braucht Verbündete. In dieser Lage bietet sich Rußland selbstverständlich als strategischer Partner Serbiens an. Das ist auch insofern logisch, weil die Regierung Rußlands und die russische Öffentlichkeit der dezidierten Meinung sind, daß die Provinz Kosovo und Metochien ein unveräußerlicher Teil der Republik Serbien ist. Rußland betrachtet es auch als inakzeptabel, die Republika Srpska in ein einheitliches Bosnien und Herzegowina aufgehen zu lassen, was zur Folge hätte, daß die Serben von bosnischen Muslimen dominiert würden. Das sind nur zwei für die Serben sehr bedeutsame Beispiele, um den Unterschied zwischen der russischen und der westlichen Haltung zu markieren.
Diese Bindung an Rußland soll jedoch nicht aus einer romantisierten, emotionalen Slawenbruderschaft, sondern aus nüchternen politischen Erwägungen erfolgen. Es ist nicht wünschenswert, einen Hegemon durch einen anderen zu ersetzen. Genau darin hat Dimitrios Kisoudis den großen Unterschied zwischen den USA einerseits sowie Rußland und China andererseits erblickt. Die USA erheben »Anspruch auf eine unipolare Welt, sprich: Weltherrschaft«, während »Rußland und China eine multipolare Welt anstreben, in der Europa als Pol eigenständig Freunde anzieht und Feinde abstößt.« Mindestens strebt Rußland eine multipolare Welt an, die kleinen Staaten etwas mehr Spielraum läßt. Und nur Rußland ist heute imstande, den Druck der NATO auf den Balkan zu mindern und die weitere Zerquetschung des serbisch-ethnokulturellen Raums zu stoppen.
- Diese Partnerschaft könnte auch für die Russen von Belang sein. Alexander Dugin hat wiederholt die geopolitische Bedeutung Serbiens für Rußland hervorgehoben und eine Allianz vorgeschlagen, an der auch Bulgarien und Griechenland beteiligt sein könnten. Seiner etwas übertriebenen Meinung nach teilen Serben und Russen auf der geopolitischen Ebene ein und dasselbe Schicksal. Er ging sogar so weit, die Serben als »Avantgarde der eurasischen Kräfte« und als Vorkämpfer der multipolaren Welt zu bezeichnen.
Auch hier spielt die NATO-Aggression von 1999 eine entscheidende Rolle. Damals hat die russische Elite begriffen, daß mit einer russischen Integration in den Westen nicht zu rechnen ist. Natalija Narotschnizkaja schreibt, daß Serbien ein Hindernis für die militärisch-politische Besetzung Europas durch die NATO darstelle. Daraus folgt, daß die NATO-Aggression gegen Serbien ein Krieg sowohl gegen Rußland als auch gegen Europa gewesen ist.
- Die serbisch-russische Partnerschaft bleibt durch einige Faktoren begrenzt. Rußland ist von Serbien weit entfernt, es gibt keine Landverbindung zwischen den beiden Staaten. Abgesehen von Bosnien und Herzegowina ist Serbien von NATO-Ländern eingekreist. Nach dem Krieg haben die Amerikaner eine große Militärbasis im Kosovo (Camp Bondsteel) eingerichtet. Seit der Abspaltung von Montenegro im Jahr 2006 hat Serbien den Zugang zum Meer verloren. Eine von den USA unterstützte und erlaubte Intervention gegen die Republika Srpska oder gegen die Serben in der Provinz Kosovo und Metochien ist weiterhin im Bereich des Möglichen, auch als Schritt gegen Rußland. Deswegen sollte sich Serbien bemühen, seine militärische Neutralität zu erhalten und sich auf seine ideologische und geistige Stärkung zu konzentrieren.
Man muß auch einräumen, daß die russische Präsenz im medialen Bereich nur schwach ist. Stärkeren Einfluß haben hingegen deutsche linksliberale Stiftungen. Es scheint, daß die russische Seite für den Krieg der Ideen nicht ausreichend vorbereitet ist. Erheblich ist auch der westliche Einfluß auf serbische Eliten.
- Obwohl die strategische Partnerschaft mit Rußland für die Serben eine Notwendigkeit ist, sollten sie sich nicht allein auf diese verlassen. Es wäre zusätzlich sinnvoll, etwa gute Beziehungen zu Ungarn aufrechtzuerhalten und zu vertiefen. Die Überreichung des Goldenen Grads des Ordens des Heiligen Sava durch den serbisch-orthodoxen Patriarchen Porfirije an Viktor Orbán ist ein deutlicher Schritt in diese Richtung. Das Potential für eine tiefgehende wirtschaftliche, politische und geistige Zusammenarbeit zwischen Belgrad und Budapest auf christlicher und historischer Grundlage ist groß und sollte genutzt werden. Auch andere potentielle Bündnisse zeichnen sich ab: So hat Milorad Dodik in einem Interview für Voice of Europe seiner Sympathie für die AfD Ausdruck verliehen. Der Widerstand gegen die atlantische Politik kann nur in einem europäischen Kontext erfolgreich sein. Das heißt, daß Serbien nicht nur die eigene Lage erkennen, sondern sich auch mehrere Möglichkeiten offenhalten muß. Nur dadurch kann der Widerstand von 1999 seinen Sinn erhalten. Ob die herrschende politische Klasse des Landes den Aufgaben der Zeit gewachsen ist, bleibt fraglich, aber der politische Instinkt und das nationale Bewußtsein der Jugend sind weiterhin Grund zur Hoffnung, daß Serbien seine politische Existenz bewahren wird.