Träume von Menschheitsverbrüderung, Abschaffung der bürgerlichen Gesellschaftsordnung, Rettung des Planeten durch Vegetarismus und Fortpflanzungsverweigerung sowie der Erschaffung einer Universalreligion sind nicht unbedingt Ideen, die man mit der russischen Gesellschaft assoziiert, jedenfalls nicht mit der heutigen.
Tatsächlich war einer der Ahnherren solcherart Vorstellungen, die an linksgrüne Wachsamkeit erinnern, im Rußland des 19. Jahrhunderts beheimatet und hatte dort die meisten Anhänger: Lew Nikolajewitsch Tolstoi (1828 – 1910), der Autor von Krieg und Frieden und Anna Karenina, hat als Vertreter des russischen Realismus die Weltliteratur entscheidend beeinflußt. Daß er als Religionsphilosoph nicht minder einflußreich war, ist eine andere, weniger bekannte Seite des gefeierten Romanciers. Der Prophet seiner eigenen Lehre brachte eine radikale Kulturkritik in Umlauf, die im Sinne eines friedlichen Anarchismus zum zivilen Ungehorsam gegen den Staat und seine Institutionen aufrief.
Schon als junger Mensch hatte Tolstoi davon geträumt, einmal eine neue Religion zu begründen und sie den Menschen zu verkünden. Keines seiner literarischen Werke war von einem moralischen Impetus und einem aufklärerischen Anspruch ganz frei gewesen, auch die frühen nicht. Mit seinen ausschweifenden epischen Werken wollte er nicht bloß unterhalten, sondern erklären, entlarven und anklagen. Sein Schöpfungs- und Missionsdrang entsprangen ein und derselben Quelle: dem Wunsch nach gesellschaftlicher Einflußnahme. (1)
Nach einer tiefen Lebenskrise – er befand sich gerade auf dem Höhepunkt seiner Karriere und seines privaten Erfolges – kam sein Widerwille gegen die bestehenden gesellschaftlichen Verhältnisse so richtig zum Durchbruch. Er stellte sein literarisches Schaffen zurück und wandte sich dem Verfassen sozialreformerischer Traktate zu, die umgehend von der staatlichen Zensur verboten wurden. Um mit seiner geistig-moralischen Wende Ernst zu machen, verschrieb er sich einer rigorosen Lebenspraxis.
Er, der als Sprößling einer der reichsten und ehrwürdigsten Adelsfamilien Rußlands große Ländereien besaß, kehrte der städtisch-vornehmen, ästhetisierenden Kultur den Rücken und begann, auf seinem Gut in Jasnaja Poljana wie ein einfacher muschik zu leben. Er trug grobe Bauernkleidung, pflügte den Acker, flickte eigenhändig seine Stiefel und nahm nur schlichte Nahrung zu sich. Das Bild, das er dabei abgab – unzählige Male fotografiert, auf Zelluloid gebannt und in Öl verewigt –, ging schon zu Lebzeiten als Ikone seiner selbst um die Welt.
Mit der autobiographischen Bekenntnisschrift Beichte (1879) besiegelte Tolstoi die endgültige Abkehr von seinem bis dahin gepflegten Intellektualismus und die Zuwendung zu einer pietistisch-asketischen Mentalität. Jetzt setzte sein eigentlicher Kampf gegen Staat, Kirche, Kunst und Wissenschaft ein, der sich in unzähligen Manifesten niederschlug. Seine Schrift Was sollen wir denn tun? geriet zu einer heftigen Anklage gegen die Reichen. Indem er die damalige Gesellschaftsordnung Rußlands als ein System der »maskierten Sklaverei« verdammte, kam er – der Graf, der keiner sein wollte – zu dem Schluß: »Eigentum ist heutzutage die Wurzel allen Übels.« (2)
Im Namen eines verbesserten Christentums ging er nun daran, alles durchzurütteln, was das Leben auf der Welt institutionell regelte. Seine Ablehnung der materialistischen Zivilisation bündelte er zu einer »publizistischen Großoffensive«: Er wollte die Aristokratie durch Enteignung zerstören, die Kirche durch Rationalismus, den Staat durch Anarchie, die Kunst durch Moral – ein fundamentalistisches Konzept, das ausgerechnet durch das allumfassende »Prinzip der Liebe« verwirklicht werden sollte. Den zu seiner Zeit aufkommenden Sozialismus ließ er auch nicht gelten, denn in diesem erkannte er eine »neue Versklavung der Menschen durch das Geld«. (3)
Schweres Geschütz richtete Tolstoi gegen die offizielle russische Kirche und ihre religiöse Praxis, die in seinen Augen die Botschaft Christi auf dreiste Weise usurpiert hatte. Priester waren für ihn ausnahmslos Betrüger, die die Gläubigen mit ausgedachten Riten (»rohe Zauberei von Waschungen, Ölungen, Körperbewegungen, Beschwörungen, Verschlucken von Brotstückchen«) (4) an der Nase herumführten. In der kirchlichen Dogmatik sah er eine Anhäufung von »schädlichen Lügen und Märchen«. Auch den Glauben an Jesu Gottessohnschaft, seine vollbrachten Wunder und seine Auferstehung wies er schroff zurück.
Eine alternative Erzählung mußte her. Diese sollte frei von unverständlicher Mystik sein und den Grundsätzen der Vernunft entsprechen. Und das Wichtigste: Unter Einforderung einer strikten Ethik würde dieses neue Glaubenssystem zwangsläufig zu einer weltumfassenden Vereinigung aller Menschen hinführen. Fünf aus der Bergpredigt abgeleitete Gebote bildeten die tragenden Säulen seiner zu etablierenden Sozialordnung: Zürne nicht, lebe keusch, schwöre nicht, widersetze dich dem Bösen nicht mit Gewalt, liebe deine Feinde. (5) Von elementarer Bedeutung erwies sich das vierte Gebot: Das Prinzip des »Nicht-Widerstrebens« (Matthäus 5,39) wurde für Tolstoi zum Dreh- und Angelpunkt aller weiteren systemstürzenden Überlegungen.
Konsequentes »Nicht-Widerstreben« bedeutete in seiner Auslegung, daß unter allen Umständen auf Rache und Selbstverteidigung zu verzichten sei. Menschen, die anderen Böses antun wollten, sollten nicht mit Gewalt davon abgehalten werden, denn, so die Argumentation, wer Böses mit Bösem bekämpfe, halte nur den Mechanismus wechselseitiger Vergeltung am Laufen. In der radikalen Verfechtung dieser Doktrin unterschied sich Tolstoi zum einen von den damaligen anarchistischen und sozialrevolutionären Oppositionsbewegungen, die den Einsatz von Gewalt für die Errichtung einer besseren Welt befürworteten, und zum anderen von der russischen Moralphilosophie. Am vehementesten begehrte der Religionsphilosoph Wladimir Solowjew gegen die philanthropische Programmatik seines Dichterkollegen auf. (6)
Auffallend an Tolstois Denkweise ist ein fast naiver Glaube an die Unfehlbarkeit der Vernunft. Der Prediger eines weltlichen Humanismus war felsenfest davon überzeugt, daß der Mensch kraft seiner Tugendhaftigkeit das Göttliche in sich verwirklichen könne. Gott war für ihn ein abstraktes Prinzip, das er bald mit der Liebe, bald mit dem Leben identifizierte. Religion schien ihm gar nicht denkbar außerhalb der Grenzen der Vernunft.
Sein unpersönliches Gottesbild korrespondierte stark mit fernöstlicher Philosophie. Über Schopenhauer, den er sehr schätzte, war er erstmals mit dem Buddhismus in Kontakt gekommen. So wundert es nicht, daß in seinen philosophischen Visionen der Buddhismus als jene Religion hervorgehoben wird, die über einen höheren Wahrheitsgehalt verfüge als die russische Orthodoxie. Die Lehre Buddhas war für Tolstoi eine vergeistigte Weltreligion ohne Priester und Sakramente mit hohen ethischen Anforderungen, genau das, was ihm selbst vorschwebte.
Buddha war seiner Ansicht nach ein großer Idealist gewesen, der den Vorrang des Geistes vor der Materie betont hatte und dessen Wirken sich durch Toleranz und Milde auszeichnete. Auch das Nichtvorhandensein von Mystik und »Geheimniskrämerei« gefiel dem Rationalisten in Jasnaja Poljana ausnehmend gut. Es gibt viele Aspekte in Tolstois Theologie, die an fernöstliche Maximen erinnern, so die Loslösung von sinnlicher Begierde und jeglicher Bindung an Dinge, die Hochschätzung des Mitleidens, schließlich die Vorstellung, Erlösung sei eine Art Selbsterlösung. (7)
Die Anschauung, daß der Mensch primär geistigen Ursprungs sei, fand Tolstoi auch im Christentum verkörpert – allerdings nur in seiner ursprünglichen, von der Kirche und ihren »Schwindeleien« unverfälschten Ausprägung. Da der Mensch ihm zufolge seine kreatürlichen Anteile und seine Körperlichkeit als Beschränkung erfahre, müsse es oberste Aufgabe im Leben eines Christen sein, diese mit geistigen Mitteln zu überwinden.
Die Befreiung von seinen eigenen Trieben war für den großen Menschheitslehrer vor allem hinsichtlich der Sexualität von besonderer Dringlichkeit. Bis ins hohe Alter verfügte er über einen enormen Sexualtrieb, den er nicht unter Kontrolle zu bringen verstand. Vor der Lebenskrise des Jahres 1878 wünschte er sich so viele Kinder wie möglich (er zeugte dreizehn, von denen acht das Erwachsenenalter erreichten), später verdammte er seine nicht nachlassende erotische Leidenschaft. Mehr und mehr kam er zu der Überzeugung, daß der Geschlechtsakt nicht nur ekelhaft, gemein und folglich sündhaft sei, sondern daß dieser von lüsternen Naturen künstlich gezüchtet worden sei.
Wie ein russischer Mönch aus dem Mittelalter wütete er gegen jede Form sexueller Beziehung zwischen Mann und Frau und verstieg sich zu der Auffassung, die Frau sei ein Werkzeug des Teufels, geschaffen, um den Mann zu verführen und sittlich zu entwürdigen. (8) Im Dunstkreis dieser fanatischen und lebensfeindlichen Einstellung, die ihn dazu bewog, auch Verheirateten den Zölibat zu verordnen, entstand die Novelle Die Kreutzersonate (1890). Auf den berechtigten Einwand hin, die Menschheit würde aussterben, wenn sie seinem Ideal der Enthaltsamkeit folgte, antwortete er im später angefügten Nachwort: »Soll sie doch aussterben. Es ist das beste Schicksal, das sie überhaupt haben kann.« (9)
Sein rücksichtsloses Dogma von der Pflicht, die Triebe einzudämmen, weitete er auch auf alle anderen Reize, Verlockungen und Genüsse des Lebens aus und forderte, ausgehend von sich selbst, auf diese zu verzichten. So gab er das Rauchen auf, verteufelte den Alkohol sowie Musik und Kunst und alle verfeinerten Dinge der Zivilisation. Mitte der 1880er Jahre war er zum Vegetarier geworden, und das aus zwei Gründen: Er verurteilte das Töten von Tieren, weil es dem Gebot auf Gewaltverzicht widersprach. Zweitens glaubte er, daß zu viel Fleischkonsum die sexuellen Lüste nur noch mehr anstachele.
Entsprechend seiner Überzeugung von der immateriellen Kraft des Geistes plädierte er dafür, daß im Hinblick auf die Verbesserung der Lebensumstände nicht auf Revolutionen gesetzt werden sollte, auch nicht auf Politik und Parlamentarismus. Weltliche Institutionen seien grundsätzlich ungeeignet, ein Friedenssystem zu etablieren. Allein der innere Wandel, der darauf ziele, das »Bewußtsein zur Friedfertigkeit« auszubilden, könne heilsam wirken. Der Staatsmacht als Form sozialer Organisation, die dazu geschaffen worden war, Gewalt zu legalisieren, müsse folglich die Gefolgschaft aufgekündigt werden. In der Praxis bedeutete das: Verweigerung des Kriegs‑, Militär- und Polizeidienstes, Absage an die Mitarbeit in Geschworenengerichten, Verweigerung der Zahlung von Steuern und Abgaben.
Selbstredend verurteilte Tolstoi jede Form nationalistischen Gebarens. Die »Hypnose durch den patriotischen Aberglauben« (10) und ihre absehbar kriegerischen Folgen bildeten das thematische Zentrum zahlreicher Flugschriften, die er unter den Dorfbewohnern seines Landgutes verteilen ließ. Im Aberwitz der kriegerischen Eroberungen und militärischen Niederschlagungen von Aufständen, in denen der »Bruder den Bruder« erschlug, bewies sich ihm jedes Mal aufs neue, daß solches Töten im schärfsten Gegensatz zur christlichen Verkündigung stand. Der Gipfel des Widerspruchs offenbarte sich ihm in den Gebeten »für den Erfolg unserer Waffen«, die in den orthodoxen Kirchen abgehalten wurden. Während der Unruhen im Land habe er Kirchenbeamte, Mönche und Einsiedler gesehen, die »das Hinmorden irregeführter hilfloser Jünglinge billigten«. (11) Einer solchen Pervertierung des Glaubens zuzusehen erfüllte ihn mit tiefstem Abscheu.
Pazifistische Vorbilder fand Tolstoi in alteingesessenen russischen Glaubensgemeinschaften wie zum Beispiel den Altgläubigen, die schon seit Jahrhunderten dem Staat und der Kirche den Gehorsam entzogen und dafür Verfolgungen in Kauf nahmen. Kontakte pflegte er zur spirituellen Gemeinschaft der Molokanen, den zu den Fastenzeiten nur Milch (moloko) trinkenden Angehörigen einer protestantisierenden Freikirche, die ihre Lebensführung vollkommen an der Bibel ausrichteten.
Auch nahm er regen Anteil am Schicksal der Duchoborzen, die Zar Alexander I. einst in den Kaukasus verbannt hatte. Die Lehre dieser Sekte erinnerte ihn an seine eigene. Wie er befürworteten die Duchoborzen Keuschheit, vegetarisches Essen, Abstinenz von Rauchen und Trinken sowie Gewaltlosigkeit. Aufgrund ihrer strikten Militärdienstverweigerung wurden schwere disziplinarische Strafen über sie verhängt, sie waren sogar durch völlige Ausrottung bedroht. Tolstoi setzte sich für seine Gesinnungsbrüder ein, damit sie in ihrer Gesamtheit nach Kanada auswandern konnten.
Tolstois gebetsmühlenhaft hervorgebrachter Appell, daß der Mensch von seiner eigenen Hände Arbeit leben und sich nicht zum Nutznießer der Arbeit anderer machen solle, blieb nicht ohne Widerhall. Zehntausende Menschen zogen Ende des 19. Jahrhunderts aufs Land und versuchten im Sinne ihres großen Vorbilds ein aufrichtiges und hierarchieloses Leben in bäuerlich-intellektuellen Kommunen zu führen – der »Tolstojanismus« war geboren. Die ersten Aussteigerkolonien entstanden im Russischen Reich, doch bald wurden auch in England, den USA, den Niederlanden (12), in Ungarn und Bulgarien allseits bestaunte Tolstojanersiedlungen gegründet.
Die zumeist akademisch gebildeten und aus gutem Hause stammenden Wahrheits- und Sinnsucher, die mit ihren wallenden Bärten, Manchesterhosen, Russenkitteln und Sandalen (ohne Socken) einen befremdlichen Anblick boten, verschrieben sich in unterschiedlichem Maße und zuweilen noch radikaler (!) als ihr verehrtes Idol der Askese und Verweigerung. Gemeinsam war ihnen allen ein hoffnungsloser Mangel an praktischer Erfahrung in der Landwirtschaft. Die dadurch entstehenden Schwierigkeiten wurden aufgrund ihres engstirnigen Verständnisses der Originallehre nur noch größer. Trotz aller Hindernisse und staatlichen Repressionen blieb der Gründungsenthusiasmus in Rußland ungebrochen. Als jedoch Stalin Ende der 1920er Jahre an die Macht kam, begannen die Verfolgungen mit voller Kraft: Viele Tolstojaner wurden wegen ihrer antimilitärischen Haltung erschossen. Dennoch waren bis zum Ende der 1930er Jahre in der Sowjetunion Tolstoi-Kolonien anzutreffen.
Heutzutage sind in Rußland die »Anastasia-Dörfer« weit verbreitet, ein Siedlertum mit »Zurück zur Natur«-Rhetorik, Öko-Bewußtsein und freiheitlichen Autarkieansprüchen. Doch mit ihrer neopaganen Ausrichtung, ihrer Staatsaffinität, ihrem patriotisch-nationalistischen Selbstverständnis und nicht zuletzt ihrem Hang, sich paramilitärisch zu ertüchtigen, stehen diese Zeitgeist-Gemeinschaften in einem denkbar großen Gegensatz zu den Ansätzen der historischen Tolstojaner-Bewegung.
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(1) – Vgl. Adolf Stender-Petersen: Geschichte der russischen Literatur, München 1986, S. 367.
(2) – Günther Stolzenberg: Tolstoi. Gandhi. Shaw. Schweitzer. Harmonie und Frieden mit der Natur, Göttingen 1992, S. 15.
(3) – Ulrich Schmid: Lew Tolstoi, München 2010, S. 9.
(4) – Martin Tamcke: Tolstojs Religion. Eine spirituelle Biographie, Berlin 2012, S. 101.
(5) – Vgl. Schmid: Tolstoi, S. 76.
(6) – Wladimir Sergejewitsch Solowjew: Kurze Erzählung vom Antichrist (1899), eine Endzeitvision in Novellenform, in der Solowjew die Weltrettungsphantasien u. a. von Tolstoi einer kritischen Revision unterzieht.
(7) – Vgl. Geir Kjetsaa: Lew Tolstoj. Dichter und Religionsphilosoph, Gernsbach 2001, S. 260.
(8) – Vgl. Stender-Petersen: Geschichte, S. 369.
(9) – Schmid: Tolstoi, S. 66.
(10) – Vgl. Wolfgang Sandfuchs: Dichter – Moralist – Anarchist. Die deutsche Tolstojkritik 1880 – 1900, Stuttgart 1995, S. 234.
(11) – Vgl. Tamcke: Tolstojs Religion, S. 39.
(12) – Vgl. Dennis de Lange: Die Revolution bist Du! Der Tolstojanismus als soziale Bewegung in den Niederlanden, Berlin 2016.