Wer den auf allen gängigen Plattformen verfügbaren Podcast »tl;dr« der Linkspartei-nahen Rosa-Luxemburg-Stiftung kennt, wird wissen, daß es anders geht. Denn durch das Format, das ausformuliert »Too long, didn’t read« benannt ist, führt mit Alex Demirović (Jg. 1952) ein Politikwissenschaftler und Soziologe, der seine Leidenschaften – Wissensanhäufung, Wissensvermittlung, Wissensaustausch – ohne künstliche Hürde an den Hörer bringt. Das kann man anerkennen, ohne die ideologische Stoßrichtung des Frankfurter Professors goutieren zu müssen.
Dabei ist die eigentliche Profession Demirovićs naturgemäß nicht das Podcasten, sondern das Verfassen wissenschaftlicher und politisch-weltanschaulicher Studien. Sein Hauptwerk, Der nonkonformistische Intellektuelle, liegt nun, knapp 25 Jahre nach seiner Erstveröffentlichung bei Suhrkamp, in einer um ein neues Nachwort erweiterten Ausgabe vor. Zentrales Thema des Wälzers, der sich gleichwohl aufgrund einer – für »Frankfurter« untypischen – leserfreundlichen Sprache flott lesen läßt, ist die geistige Arbeit Intellektueller in den »Überbauten der Zivilgesellschaft«.
Demirovićs Hauptschwerpunkt liegt hierbei auf Theodor W. Adornos und Max Horkheimers Theoriearbeit und Praxiswirkungen in der Zeit vom Zweiten Weltkrieg bis zu deren Ableben 1969 bzw. 1973. Er verfolgt deren intensives Tun anhand der Leitlinie, wonach Theorie sich durch die Praxis der sie vertretenden Intellektuellen hindurch erschließe.
Deutlich wird dabei schnell: Adorno und Horkheimer waren – mit Antonio Gramsci gedacht – keine »organischen« Intellektuellen der Arbeiterbewegung (wie etwa ihr Zeitgenosse und innerlinker Konkurrent Wolfgang Abendroth), sondern »traditionelle« Intellektuelle, die losgelöst von konkreten Bewegungen über »klassische« Bildungsformate darauf hofften, ihre gesellschaftskritischen Ausarbeitungen einem größeren Publikum eröffnen zu können.
Das entpuppt sich als einer der zahlreichen roten Fäden der Studie: Adorno und Horkheimer waren ungebundene Kräfte, die dem Sprung in die Praxis gründlich mißtrauten. Sie waren demnach nicht eingebettet in theoretisch-praktische Verbünde, sondern mandatslos, und das heißt: Anders als Gramsci oder auch die regionale Konkurrenz der »Marburger« um Abendroth, Georg Fülberth und Frank Deppe war ihr Resonanzraum keine praktisch handelnde politische Formation – sondern sie wirkten oft, wie ihre marxistischen Kritiker in der Studentenbewegung und darüber hinaus nicht müde wurden zu bekritteln, wie freischwebende Solitäre. Dazu trug vor allem Adorno (weniger der »politischere« Horkheimer) bei, indem er standortgebundenes Denken verwarf: »Aufgabe der Philosophie ist es, nicht einen Standpunkt einzunehmen, sondern die Standpunkte zu liquidieren.«
Das heißt nicht, daß Adorno und sein Kompagnon keine Wirkung ausübten und dies nicht auch bewußt über Seminare und Vorträge anstrebten: Adorno schreibt einmal an Horkheimer, als es um ihre neuen Professuren geht, daß man dadurch »die Universität beherrschen« könne; Horkheimer wiederum betrachtete die universitären Weihen ebenso als »Machtposition«. Doch das ändert nichts daran, daß der stürmisch linke Nachwuchs jeder Couleur (von SDS bis Splittergruppen) den konservativ anmutenden Bildungsdünkel der beiden kritisch ins Visier nahm; ebenso wie die Tatsache, daß Adorno und Horkheimer mit dem Bundesamt für Verfassungsschutz zusammenarbeiteten – ein Umstand, den Demirović ernstlich mit dem Ziel herleitet, »zur Demokratisierung der deutschen Gesellschaft und ihrer Institutionen beizutragen«.
Hier waren beide Porträtierten kaum »nonkonform«, sondern kompatibel mit der sich herausschälenden bundesdeutschen Staatsräson. Ironisch mutet es daher an, wenn erläutert wird, für Adorno sei echte Theorie nur eine solche, die Herrschaft kritisiere. Gemessen an diesem Anspruch, wären 90 Prozent der linken Theoriearbeit von heute gar keine Theoriearbeit, sondern konformistische Herrschaftsabsicherung des linksliberalen Hegemons.
Dazu paßt auch die adornitische Affirmation des freien Westens als Hort bürgerlicher Freiheiten im Gegensatz zu düsteren Totalitarismen von links und rechts. Demirović kann daher vielseitig aufzeigen, daß »1968« nicht von Adorno und Horkheimer »gemacht« wurde und daß diese Zäsur keine Anwendung der Kritischen Theorie der Frankfurter durch die Studentenbewegung bedeutete – aber daß Adorno und Horkheimer das Geistesleben (und damit in der Folge auch das politische Leben!) der Bundesrepublik erheblich beeinflußten.
Wer mit beiden genannten Schwergewichten der Kritischen Theorie und ihrem Institut für Sozialforschung radikal fremdelt, etwa weil er Helmut Schelsky und Arnold Gehlen im Zwischenbereich von deutscher Soziologie und Philosophie bevorzugt, kommt übrigens als Leser dieses Standardwerks dennoch vollumfänglich auf seine Kosten: Intellektuelle Debatten zwischen »links« und »rechts« (bzw. »konservativ«) werden ausgiebig nachgezeichnet, in den Kontext der Zeit eingebettet und mit weiterführenden Hinweisen versehen.
Überraschend ist daher nur, daß Suhrkamp die Neuauflage seines Titels nicht selbst besorgte.
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Alex Demirović: Der nonkonformistische Intellektuelle. Von der kritischen Theorie zur Frankfurter Schule, Wien: mandelbaum verlag 2023. 800 S., 38 €
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