Doch auch in der Rechten ist die Vorstellung Rußlands oftmals eher von Projektionen denn von Fakten geprägt. Die einen sehen in Putins Staat, schubladisierend formuliert, eine bewundernswerte Alternative zum Globohomo-Westen. Die anderen sehen Verfall und Gewalt, ja geradezu ein Revival des alten Feindes aus dem Großen und dann Kalten Krieg.
Und auch in der politischen Linken neigt man zu Rußland-Stereotypen: Die eine Seite, die bundesdeutsche Mehrheitslinke inklusive ihres hegemonialen grünen Milieus, ist zum rigiden Atlantizismus übergelaufen. Die andere Seite, die schrumpfenden Restbestände von Traditionsmarxisten, kann sich von »Moskau« als Sehnsuchtsort nicht lösen und verteidigt (fast) alles, was Putin und seinen Diensten in den Sinn kommt.
Wo ist da nun der K‑Gruppen-Veteran Ulrich Heyden (Jg. 1954) und sein vorliegendes Buch über seinen Weg nach und in Rußland einzuordnen? Nun: überwiegend jenseits der (meisten) Klischees. Obschon der Reporter seit drei Jahrzehnten in der Ukraine (kurz) bzw. Rußland (lang) lebt und in eine russische Familie integriert ist, gibt er seinen eigenen Standpunkt, den er meinungsstark dem Leser präsentiert, nicht zugunsten eines nachahmend »putinistischen« Standpunkts auf. Heyden ist erkennbar parteiisch – ohne betriebsblind zu sein.
Wer Rußland schätzt, und Heyden tut es, »sollte sich vor Kritik nicht scheuen«, lautet seine Devise. Aus diesem Grund werden unter anderem Korruption, Arm-Reich-Dichotomie, Stadt-Land-Widersprüche und die mangelnde Hebung des Lebensniveaus breiter Schichten als Kritikpunkte am inneren Rußland aufgeführt. Doch zugleich wirkt Heyden als Anwalt Rußlands, wenn es um äußere Angelegenheiten geht. Hier vermißt er Fairneß und Objektivität der westlichen Medienkaste, was das Buch phasenweise zu einer Geschichte seiner persönlichen Entfremdungshistorie vom Medienmilieu werden läßt.
Einstmals für Mainstreamorgane wie Spiegel, Deutschlandfunk, Sächsische Zeitung und einige mehr als Rußlandkorrespondent tätig, erläutert Heyden die schrittweise Reduktion des Sagbaren in den letzten Jahrzehnten auf ein Minimum, das darin bestehe, das Negative Rußlands zu verabsolutieren und das Positive zu verleugnen; Zwischentöne sind spätestens seit 2014 und der anhaltenden Eskalation zwischen Kiew und dem Donbass (bzw. Moskau) unerwünscht.
So interessant die Skizze der persönlichen Abwendung vom journalistischen Betrieb durch dessen antirussisch geprägte Generallinie auch ausfällt – bisweilen wird es zu persönlich. Penetrant häufig wird Heydens Vater zum Gegenstand der Kritik, ob es nun um dessen Militärerlebnisse, Abonnements (Mut, Junge Freiheit) oder autoritären Erziehungsstil geht. Heyden verfällt in diesem Kontext in eine schwererträgliche Larmoyanz, sinniert über Lebenskrisen und gibt einen manifesten Vaterkomplex preis. Hätte der Lektor hier intervenieren müssen? Man neigt zu einem klaren Ja.
Dasselbe läßt sich über zwei weitere Aspekte sagen. Erstens erscheinen Verbrechen der Wehrmacht im Zweiten Weltkrieg als ebendies, während Taten der Roten Armee lediglich als Verbrechen in Anführungszeichen in Erscheinung treten. Zweitens neigt Heyden zu einem Verhalten, das die Jüngeren unter uns heute (beinahe inflationär) als »Boomertum« denunzieren, etwa wenn es um sexuelle Anspielungen geht.
Das sieht bei Heyden so aus: »Als ich in Kiew und dann in Moskau war, hoffte ich, eine Frau zu finden. Aber eine Frau kennenzulernen, war gar nicht so einfach.« Oder: »Ich lernte einfach keine Frauen kennen, die außer Sex ähnliche Interessen hatten wie ich.« Bisweilen verleitet der Autor seinen Leser zur unverhohlenen Fremdscham, so auch dann, wenn er – für Ortsunkundige spannend – den angespannten Moskauer Wohnungsmarkt seziert, aber plötzlich eine deplazierte »Liebesgeschichte« aufkommen läßt: »Wir küßten und später liebten wir uns.«
Der Rezensent hätte gerne viel weniger von diesen peinlichen Episoden und viel mehr von Heydens fesselnden Tschetschenien- und Donezk-Lugansk-Erlebnissen erfahren. Dort liegen seine Stärken, dort vermittelt er Wissen und Eindrücke, die das Buch dann doch noch zu einem überwiegend empfehlenswerten machen.
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Ulrich Heyden: Mein Weg nach Rußland. Erinnerungen eines Reporters, Wien: Promedia 2024. 272 S., 25 €
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