Dissidenz als Lebensprinzip: Ernst Niekisch

PDF der Druckfassung aus Sezession 120/ Juni 2024

Benedikt Kaiser

Benedikt Kaiser ist Politikwissenschaftler und arbeitet als Verlagslektor.

Zwei Streif­lich­ter auf den poli­ti­schen Den­ker Ernst Nie­kisch (1889–1967) als Aufgalopp:

1. Mar­burg, 1967: Wolf­gang Abend­roth wür­digt Nie­kischs Tod im dop­pel­ten Sin­ne. Der mar­xis­ti­sche Pro­fes­sor (mit gro­ßer Aus­strah­lung auf die radi­ka­le Lin­ke jener Zeit) erklärt, Nie­kisch wir­ke »durch das Vor­bild sei­ner wis­sen­schaft­li­chen Arbeit« und durch das­je­ni­ge »sei­nes Lebens« poli­ti­scher Art wei­ter. Nie­kisch sei »der jun­gen Gene­ra­ti­on ein Leh­rer, von dem wir auch künf­tig viel zu ler­nen haben wer­den«. (1)

2. Ber­lin-Lich­ten­berg, 2007: Ver­schie­de­ne Grup­pen der jun­gen Gene­ra­ti­on einer betont radi­ka­len Rech­ten demons­trie­ren für die »Schaf­fung eines natio­na­len Jugend­zen­trums«. Eini­ge Akti­vis­ten tra­gen ein meter­lan­ges Trans­pa­rent. Dar­auf zu sehen ist der gezeich­ne­te Kopf Nie­kischs und eines sei­ner cha­rak­te­ris­ti­schen Zita­te über den Zusam­men­hang von sozia­ler und natio­na­ler Fra­ge. Es kommt zu Aus­ein­an­der­set­zun­gen; Neo-Natio­nal­­so­zia­lis­ten ent­fer­nen Ban­ner und Trä­ger vom Ort der Kundgebung.

Bei­de Ereig­nis­se ste­hen für sich als kur­ze, erhel­len­de Epi­so­den der kraß diver­gie­ren­den Nie­kisch-Rezep­ti­on. Bei­de ste­hen indes nicht iso­liert in der Geschich­te: Abend­roth hat­te schon 1964 anläß­lich des 75. Geburts­tags Nie­kischs geschwärmt, Nie­kisch habe sich als »furcht­lo­ser Strei­ter gegen die Bar­ba­rei« (2) des Hit­le­ris­mus erwie­sen, und natio­na­le Jugend­grup­pen der 2000er dis­ku­tier­ten, ob man Nie­kisch als Alter­na­ti­ve zu den abge­dro­sche­nen »Klas­si­kern« des bewe­gungs­ori­en­tier­ten Natio­na­lis­mus zu ver­ste­hen habe.

Die­se beson­de­ren Streif­lich­ter ver­ra­ten All­ge­mei­nes über das Lebens­werk: Es oszil­liert zwi­schen den Enden des von der bür­ger­li­chen Poli­tik­wis­sen­schaft vor­ge­brach­ten extre­mis­mus­theo­re­ti­schen »Huf­ei­sens«, die durch Nie­kischs Syn­the­sen zu etwas Eige­nem ver­schmel­zen: zu einer preu­ßisch-deut­schen und sozi­al­re­vo­lu­tio­nä­ren Welt­an­schau­ung sui gene­ris, dis­si­dent zum »Groß­la­ger« der radi­ka­len Lin­ken, dis­si­dent des­glei­chen zum »Groß­la­ger« der radi­ka­len Rechten.

Die ent­schei­den­den Bau­stei­ne die­ser Welt­an­schau­ung lie­gen beim jun­gen wie beim alten Nie­kisch kon­se­quent-kohä­rent vor. Doch ähn­lich wie bei sei­nem Kom­pa­gnon Ernst von Salo­mon (1902 – 1972) kon­zen­triert sich die Aus­ein­an­der­set­zung auf die Wei­ma­rer Pha­se von 1918 bis 1933, gefolgt von der inne­ren Emi­gra­ti­on (bei von Salo­mon) respek­ti­ve dem Wider­stand (3) und der fol­ter­ähn­li­chen Inter­nie­rung (bei Nie­kisch), wobei die Post-Welt­kriegs­pha­se ab 1945 unter­be­lich­tet bleibt.

Im Fal­le Nie­kischs bedeu­tet dies, daß das umfang­reichs­te bio­gra­phi­sche Por­trät (4), das je erschien und detail­ver­lieb­te The­men­durch­drin­gung bie­tet, mit dem Unter­gang des »Drit­ten Reichs« endet – so, als ob Nie­kisch nicht danach noch wei­te­re 22 Jah­re geschrie­ben, gelehrt und – nach sei­nen gesund­heit­li­chen Mög­lich­kei­ten – gekämpft hät­te. Und auch im Stan­dard­werk (5) der affir­ma­ti­ven »Nie­kisch-Ortho­do­xie« (Armin Moh­ler), der Dis­ser­ta­ti­on des His­to­ri­kers Fried­rich Kaber­mann (1940 – 2020), nimmt die­se Lebens­pha­se Nie­kischs nur ein Sieb­tel des Fließ­tex­tes ein, obwohl sie quan­ti­ta­tiv mehr als ein Vier­tel einnähme.

Die­se Fokus­sie­rung kann mit der grö­ße­ren Wirk­sam­keit Nie­kischs in der Zwi­schen­kriegs­zeit begrün­det wer­den, in der er an der »natio­nal­bol­sche­wis­ti­schen Idee« arbei­te­te, »Pro­le­ta­ri­at und Nati­on zusam­men­zu­füh­ren« (6), soll­te aber nicht zu einer Beschrän­kung auf eben­die­se Epo­che füh­ren. Moh­ler, der Chro­nist der Kon­ser­va­ti­ven Revo­lu­ti­on (KR), schwärm­te im Vor­gän­ger der Sezes­si­on, Nie­kisch gehö­re zu den »weni­gen Schrift­stel­lern« der KR, »die in den Köp­fen und Her­zen bis heu­te nach­hal­len – und zwar bis hin­ein in die Jugend«.

»Wer ein­mal«, führt ­Moh­ler aus, »den Weg von Nietz­sche über ­Speng­ler zu Ernst Jün­ger gegan­gen ist, muß­te not­wen­dig auf Nie­kisch sto­ßen und wur­de von ihm ergrif­fen.« (7) Ihm gefiel es, daß Nie­kisch zu »allen bis­he­ri­gen deut­schen Regi­men« sei­ner Zeit – vom Kai­ser­reich über Wei­ma­rer Repu­blik und NS-Staat bis zu BRD und DDR – im Wider­spruch gestan­den hat­te. Eben­so gefiel ihm, daß Nie­kisch eine milieu­spe­zi­fi­sche Außen­sei­ter­rol­le ein­ge­nom­men hat­te: Die KR sei durch Nie­kischs Arbei­ter­her­kunft berei­chert wor­den; er hat­te einen »exo­ti­schen Reiz als authen­ti­scher ›Mann aus dem Vol­ke‹«. (8)

Nie­kisch stamm­te aus Treb­nitz in der Nähe von Bres­lau. Sein Vater war Fei­len­hau­er und zog mit der Fami­lie früh nach Nörd­lin­gen, wo die Mut­ter ihre Wur­zeln hat­te. Zwi­schen Handwerker­tum und Indus­trie­ar­bei­ter­schaft wur­de Nie­kisch in Bay­ern sozia­li­siert, wobei er das orts­üb­li­che Son­der­be­wußt­sein nicht auf­sog; im Geis­te blieb er ost­ori­en­tiert und der Idee des Staa­tes ver­pflich­tet: Sein Fix­punkt war die Form­voll­endung des Staa­tes als abso­lut sou­ve­rä­ne Instanz von Macht und Machtdurchsetzung.

1917 zog Nie­kisch eine Kon­se­quenz aus sei­nem Frem­deln mit den baye­ri­schen Mehr­heits­ver­hält­nis­sen – er trat der SPD bei, inter­es­sier­te sich aber stär­ker für außen­po­li­ti­sche Fra­gen als für inne­re Refor­men. Ein Volk kön­ne nicht frei sein, wenn es fremd­be­stimmt wer­de. Ver­ant­wort­lich für den Man­gel an natio­na­ler Selbst­be­haup­tung sei der »Bour­geois«. Er habe sich als »Figur« über­lebt und wer­de durch den Arbei­ter als schöp­fe­ri­sche Grö­ße ver­drängt. Die­se ide­al­ty­pi­sche »impe­ria­le Figur« ergriff in Bay­ern im Novem­ber 1918 die Macht – und Nie­kisch selbst stand an der Spit­ze des Arbei­ter- und Sol­da­ten­ra­tes in Augs­burg, her­nach in Mün­chen, wo er gegen eine Räte­herr­schaft optier­te, aber den­noch nach der Zer­schla­gung ent­spre­chen­der Ver­su­che zu zwei Jah­ren Fes­tungs­haft ver­ur­teilt wurde.

Sein Über­tritt in die lin­ke Varia­ti­on der SPD, die USPD, brach­te ihm nach der Frei­las­sung 1921 ein Land­tags­man­dat ein, das er wie­der­um für die SPD wahr­nahm, da sich Unab­hän­gi­ge und Mehr­heits­so­zi­al­de­mo­kra­ten wie­der­ver­ei­nigt hat­ten. Als stell­ver­tre­ten­der Frak­ti­ons­chef genoß er Reich­wei­te, geriet aber zuneh­mend mit dem baju­wa­risch gepräg­ten Par­tei­ap­pa­rat anein­an­der – er zog nach Ber­lin und nahm eine Anstel­lung beim Deut­schen Tex­til­ar­bei­ter­ver­band (750 000 Mit­glie­der) als Jugend­se­kre­tär an.

Daß er die Fol­gen von Ver­sailles zum Schwer­punkt sei­ner Agi­ta­ti­on mach­te, war nicht erwünscht, und so gab Nie­kisch – trotz Ein­flüs­se auf natio­na­le Jung­so­zia­lis­ten – die Kämp­fe in der SPD auf und ging nach Sach­sen, wo er in die natio­nal ori­en­tier­te Klein­par­tei der Alt­so­zia­lis­ten (ASP) ein­trat und von 1926 bis 1928 regie­rungs­amt­li­che Funk­tio­nen aus­füll­te. Wich­ti­ger als jener Brot­er­werb war sei­ne 1926 gegrün­de­te Zeit­schrift Wider­stand, die als natio­nal- und sozi­al­re­vo­lu­tio­nä­res Organ eines der fas­zi­nie­ren­den Zeug­nis­se der KR-Epo­che dar­stellt und Leser­grup­pen orga­ni­sier­te, die als »Wider­stands­krei­se« fir­mier­ten. Nie­kisch in der Rück­blen­de über sei­ne Schwer­punkt­le­gun­gen: »Der Wider­stand rich­te­te sich gegen die Haupt­ten­denz, von wel­cher die ver­ant­wort­li­che deut­sche Poli­tik seit dem Zusam­men­bruch von 1918 offen­kun­dig beherrscht wur­de: gegen die Bereit­schaft, sich in West­eu­ro­pa ein­zu­ord­nen.« (9)

Nie­kisch ver­kehr­te, wie es im bun­ten KR-Kos­mos üblich war, mit sämt­li­chen Geis­tes­grö­ßen der Sze­ne, aber auch mit Natio­nal­kom­mu­nis­ten. Den­noch war Nie­kisch ein Eigen­bröt­ler; so blieb sein Kreis um den Wider­stand oft auf sich gestellt. Das lag auch an der zuge­spitz­ten Arti­ku­la­ti­ons­wei­se Nie­kischs. Sein Haß auf alles, was er mit dem Wes­ten (Washing­ton bis Wei­mar) ver­band, mün­de­te im viel­zi­tier­ten Ver­dikt: »West­le­risch sein heißt: mit der Phra­se der Frei­heit auf Betrug aus­ge­hen, mit dem Bekennt­nis zur Mensch­lich­keit Ver­bre­chen in die Wege lei­ten, mit dem Auf­ruf zur Völ­ker­ver­söh­nung Völ­ker zugrun­de zu rich­ten.« (10)

Um dar­aus aus­zu­bre­chen, müß­ten die Deut­schen »ein revo­lu­tio­nä­res Volk« wer­den«. Um aber revo­lu­tio­när zu sein, leg­te Nie­kisch dar, müs­se man natio­na­lis­tisch und anti­ka­pi­ta­lis­tisch sein: »Man übt Ver­rat an Deutsch­land, wenn man als Deut­scher das kapi­ta­lis­ti­sche Sys­tem stützt.« (11) Nie­kisch, der mit KPD und NSDAP frem­del­te, wür­dig­te gleich­wohl, daß bei­de tota­li­tä­ren Groß­par­tei­en die Jugend mobi­li­sie­ren konn­ten. Das deu­te­te er als Beleg für sei­ne The­se, wonach das »anti­ka­pi­ta­lis­ti­sche Gefühl unse­rer deut­schen Jugend« trotz Ver­sailler Ord­nung und Wei­ma­rer Unord­nung »gesund« sei: »Auf der Sei­te des Kapi­ta­lis­mus steht in Deutsch­land heu­te nur noch, was kar­rie­re­süch­tig, was unter­wer­tig, was mora­lisch ange­fault oder – bes­ten­falls – ver­kalkt ist.«

War die sowje­ti­sche Gesell­schaft als Anti­the­se anders? Nie­kisch woll­te dies eru­ie­ren und trat im Herbst 1931 der neu­ge­grün­de­ten »Arbeits­ge­mein­schaft zum Stu­di­um der sowjet­rus­si­schen Plan­wirt­schaft« (ARPLAN) bei. Es gab Stu­di­en­rei­sen nach Mos­kau und Tagun­gen in Ber­lin – Nie­kisch nahm teil und stieß in der ARPLAN nicht nur auf kom­mu­nis­ti­sche Akteu­re wie Fried­rich Lenz und Jür­gen Kuc­zyn­ski und auf Wis­sen­schaft­ler jeder Fas­son, son­dern auch auf Kon­ser­va­ti­ve Revo­lu­tio­nä­re wie Hugo Fischer, Hans Zeh­rer und Ernst Jünger.

Das war zu Wei­mars Zei­ten mög­lich, zu Hit­lers nicht: Im April 1933 ver­tag­te sich die von der sowje­ti­schen Bot­schaft finan­zier­te Ein­rich­tung; vie­le Mit­glie­der flüch­te­ten ins Exil. Nie­kisch ver­wei­ger­te sich die­sem Schritt, obwohl er ahn­te, was der Haß der neu­en Macht­ha­ber her­vor­ru­fen wür­de. Zwar war er – als Anti­rö­mer – 1935 mit sei­nem Wider­stand-Illus­tra­tor A. Paul Weber zu einer Audi­enz beim Duce Beni­to Mus­so­li­ni ein­ge­la­den; aber was war der­lei wert, wenn der Hit­le­ris­mus sei­ne Fein­de zu erle­di­gen trachtete?

Hit­ler war ein Feind, dar­aus mach­te Nie­kisch kei­nen Hehl, obschon er auch in sei­nem Milieu wahr­nahm, daß immer mehr Men­schen von sei­ner Dem­ago­gie ergrif­fen wur­den. In einer Anti-NS-Stu­die, die sei­ne Dis­si­denz zum Regime zum Aus­druck brach­te, kon­sta­tier­te er, die »pro­gram­ma­ti­sche Unbe­stimmt­heit« des Hit­le­ris­mus kom­me »jedem Aus­le­gungs­be­dürf­nis« ent­ge­gen: »Man kann her­aus­le­sen, was man im Pro­gramm fin­den möch­te.« (12) Nie­kisch anti­zi­pier­te dar­über hin­aus Hit­lers Bemü­hung um »den Wes­ten« eben­so wie sei­ne kraß anti­sla­wi­sche Stoß­rich­tung. Er pro­phe­zei­te 1932 den Krieg gegen den Osten und eben­so pro­phe­zei­te er die tota­le Nie­der­la­ge. Was käme danach? »Ein ermat­te­tes, erschöpf­tes, ent­täusch­tes Volk bleibt dann zurück […]. Die Ver­sailler Ord­nung aber wird gefes­tig­ter sein, als sie es jemals war.« (13)

Vor­her aber ging das deut­sche Volk in den Unter­gang: Nie­kisch erleb­te den Groß­teil des »Drit­ten Reichs« – wie das Gros sei­ner Wider­stands­krei­se – in Haft. Acht Jah­re NS-Behand­lung sorg­ten für Erblin­dung und halb­sei­ti­ge Läh­mung. Als die Sowjets ihn aus dem Zucht­haus Bran­den­burg-Gör­den befrei­ten, ret­te­ten sie ihn vor dem Exitus. Auch die­se Son­der­si­tua­ti­on – Rus­sen als Befrei­er – ließ in ihm sei­ne alte Ost­ori­en­tie­rung wie­der­auf­er­ste­hen, trotz der Exzes­se durch die Rote Armee.

sie­del­te sich mit sei­ner Frau in ver­trau­ter Umge­bung in Wil­mers­dorf an, im West­sek­tor Ber­lins, wirk­te indes­sen stär­ker im Osten. 1946 durf­te er unter der Ägi­de von kom­mu­nis­ti­schen Kul­tur­po­li­ti­kern eine Schrift ver­öf­fent­li­chen, in der er eine pro­so­wje­ti­sche Deu­tung der Geschichts­schrei­bung vor­nahm, die er auch zur Abrech­nung mit KR-Weg­ge­fähr­ten nutz­te, die Kar­rie­re im NS gemacht hat­ten. (14)

Nie­kisch war kör­per­lich zer­stört, geis­tig wach – und wütend, vor allem auf bür­ger­li­che Ost­blind­heit und West­nach­ah­mung. Zwar gefiel der SED Nie­kischs seit Jahr­zehn­ten nach­ge­wie­se­ne Abscheu vor der »empör­ten Auf­ge­regt­heit des deut­schen Spieß­bür­gers, der, wäh­rend er nach Osten dro­hend die Faust ballt, nach Wes­ten in bra­ver knecht­se­li­ger Erfül­lungs­po­li­tik erstickt«. (15) Doch akzep­tier­te die SED sei­ne Stoß­rich­tung des unmit­tel­ba­ren Nach­kriegs nicht in jener Dimen­si­on, wie er sie 1946 aus­for­mu­liert hat­te, indem er pos­tu­lier­te, der »Ertrag der gan­zen deut­schen Geschich­te erweist sich als ein schreck­li­ches Nichts«. (16)

Die frü­hen SBZ- und DDR-Macht­ha­ber um Wal­ter Ulb­richt, Anton Acker­mann, Johan­nes R. Becher woll­ten eine pro­deut­sche Geschichts­schrei­bung her­lei­ten, in wel­cher der »Hit­ler­fa­schis­mus« als »bür­ger­li­cher« Extrem­fall erschien und die SBZ bzw. DDR dage­gen die »fort­schritt­li­chen« (huma­nis­ti­schen und sozia­lis­ti­schen) Pfa­de des Deutsch­tums voll­enden soll­te. Nie­kisch kor­ri­gier­te sei­nen Kurs und pro­fi­tier­te davon, daß sein Freund Otto Gro­te­wohl 1949 zum Minis­ter­prä­si­den­ten der DDR »gewählt« wor­den war. Nie­kisch wur­de unter ande­rem Mit­glied im Ver­fas­sungs­aus­schuß des Volks­ra­tes und in der Volks­kam­mer, konn­te an der Hum­boldt-Uni­ver­si­tät Vor­le­sun­gen hal­ten (über Ver­mitt­lung sei­nes ARPLAN-Weg­ge­fähr­ten Alfred Meu­sel) und debat­tier­te mit patrio­tisch gesinn­ten Sozia­lis­ten der Ostzone.

Den­noch: Sein Haupt­au­gen­merk lag nicht mehr im Poli­ti­schen. Dies­be­züg­lich ließ er Hoff­nun­gen fal­len und blieb in West wie Ost poli­tisch dis­si­dent. (17) Sein Ziel blieb die deut­sche Geis­tes­ein­heit: Ohne gesamt­deut­sche Kul­tur wäre jede gesamt­deut­sche Poli­tik unmög­lich. Sein schma­ler Essay über die Pole Ost und West(18) und sei­ne resi­gna­ti­ve, aber umfang­rei­che Euro­päi­sche Bilanz(19) legen Zeug­nis von die­ser Hal­tung ab; sein Memo­ran­dum an den sowje­ti­schen Hoch­kom­mis­sar weni­ge Tage vor dem 17. Juni 1953 umfaß­te eine fun­da­men­ta­le Abrech­nung mit jed­we­der Vor­stel­lung, man kön­ne auf Bajo­net­ten eine soli­da­ri­sche Gemein­schaft errichten.

Die aus­blei­ben­de Reak­ti­on zeigt, wie wir­kungs­los sei­ne Ideen für die kon­kre­te DDR-Poli­tik blie­ben. Zwar hielt Nie­kisch dar­an fest, daß Deut­sche und Rus­sen natür­li­che Part­ner sei­en; doch die Macht­ver­hält­nis­se waren zemen­tiert und »die Deut­sche Demo­kra­ti­sche Repu­blik nichts ande­res als ein armer Schlu­cker, der aus­schließ­lich von der Gna­de Ruß­lands leb­te«. (20)

Nie­kisch zog sich aus der Are­na des Mei­nungs­kamp­fes zurück und trat nur ver­ein­zelt in Erschei­nung, etwa als ordent­li­ches Mit­glied einer SDS-nahen För­de­rer­initia­ti­ve in West­deutsch­land, wo er Brief­kon­takt zu Stu­den­ten der radi­ka­len Lin­ken pfleg­te, wobei ihn nur ein­zel­ne Jung­so­zia­lis­ten wirk­lich rezi­pier­ten – der Ein­fluß blieb quan­ti­ta­tiv eben­so auf Klein­grup­pen beschränkt wie in den 1970er Jah­ren auf natio­nal­re­vo­lu­tio­nä­re Kräf­te der frü­hen Neu­en Rech­ten zwi­schen »Sache des Vol­kes« und »Soli­d­aris­ten«. Ansons­ten kämpf­te Nie­kisch von 1954 an bis zu sei­nem Tod im Jahr 1967 mit der BRD-Jus­tiz um die Aner­ken­nung einer Ent­schä­di­gung als Opfer des Hit­ler-Regimes. (21) Man ver­wei­ger­te Nie­kisch die Aus­zah­lung – immer­hin habe er ver­sucht, mit der SED einen »deut­schen Sozia­lis­mus« zu errich­ten, und damit dem Tota­li­ta­ris­mus Vor­ar­beit geleistet.

Erst kurz vor sei­nem Tod gab es einen Aus­gleich, der zu spät kam, um die Gesund­heits­ver­hält­nis­se zu ver­bes­sern. Nie­kisch im typi­schen Sound: »Der poli­ti­sche Geg­ner der herr­schen­den Macht durf­te in der Bun­des­re­pu­blik nicht dar­auf rech­nen, den Schutz der Ver­fas­sung zu genie­ßen. So begann die BRD damit, die poli­ti­sche Gesin­nung Anders­den­ken­der zu ver­fol­gen. Es gab dop­pel­tes Recht.« (22)

Seit Nie­kisch wis­sen wir also: Nan­cy Fae­ser ist kein bun­des­re­pu­bli­ka­ni­scher Son­der­fall, und Dis­si­denz als Lebens­prin­zip kostet.

– – –

 

(1) – Wolf­gang ­Abend­roth: Kon­do­lenz­schrei­ben vom 29. Mai 1967, zit. n. Mat­thi­as Stan­gel: Die Neue Lin­ke und die natio­na­le Fra­ge, Baden-Baden 2013, S. 117, FN 376.

(2) – Wolf­gang ­Abend­roth: »Furcht­lo­ser Strei­ter gegen die Bar­ba­rei – Ernst Nie­kisch voll­ende­te sein 75. Lebens­jahr«, in: Köl­ner Stadt-Anzei­ger vom 23./24. Mai 1964.

(3) – Neben der »­Schwar­zen Front« Otto ­Stras­sers, die Anfang 1933 als ers­te ­poli­ti­sche Ver­ei­ni­gung über­haupt durch die neu­en Macht­ha­ber ver­bo­ten wur­de (vor KPD, SPD usw.), war es aus dem Dunst­kreis der sog. Kon­ser­va­ti­ven Revo­lu­ti­on der »Wider­stands­kreis« Ernst Nie­kischs, der schon ab 1933/34 einen hohen Blut­zoll zu ent­rich­ten hatte.

(4) – Vgl. Uwe Sau­er­mann: Wider­stand gegen den Wes­ten. Ernst Nie­kisch – Ver­mächt­nis eines Natio­na­lis­ten, Schnell­bach 2020.

(5) – Vgl. Fried­rich Kaber­mann: Wider­stand und Ent­schei­dung eines deut­schen Revo­lu­tio­närs. Leben und Den­ken von Ernst Nie­kisch, Köln 1973.

(6) – Otto-Ernst Schüd­de­kopf: Natio­nal­bol­sche­wis­mus in Deutsch­land 1918 – 1933, Frank­furt a. M. 1973, S. 367. Nota­be­ne: Nie­kisch ver­wen­de­te den Ter­mi­nus »Natio­nal­bol­sche­wis­mus« nur in weni­gen nach­weis­ba­ren Fäl­len und dann eher ironisch.

(7) – Armin Moh­ler: »Autoren­porträt Ernst Nie­kisch 1889–1967«, in: ­Cri­ticón Mai/Juni 1980, S. 108 – 112, hier S. 108.

(8) – Ebd., S. 109.

(9) – Ernst Nie­kisch:Erin­ne­run­gen eines ­deut­schen Revo­lu­tio­närs, Bd. 1: Gewag­tes Leben 1889 – 1945 (1958), Schnell­bach 2015, S. 149.

(10) – Ernst Nie­kisch: »Revo­lu­tio­nä­re Poli­tik« (1926), in: ders.: Wider­stand – aus­ge­wähl­te Auf­sät­ze aus sei­nen »Blät­tern für sozia­lis­ti­sche und natio­nal­re­vo­lu­tio­nä­re Poli­tik«, ­Kre­feld 1982, S. 17 – 22.

(11) – Ernst Nie­kisch: »Die Lei­che im Haus« (1931), in: ders.: Wider­stand, S. 66 – 74, hier S. 70.

(12) – Ernst Nie­kisch: Hit­ler – ein deut­sches Ver­häng­nis (1932), Koblenz 1990, S. 6.

(13) – Ebd., S. 36.

(14) – Vgl. Ernst Nie­kisch: Deut­sche Daseins­ver­feh­lung, Ber­lin 1946, ins­be­son­de­re S. 82 f. Lesens­wer­ter ist Nie­kischs zwei­te NS-Ana­ly­se mit zeit­li­chem Abstand: Das Reich der nie­de­ren Dämo­nen, Ham­burg 1953. Die ana­log publi­zier­te DDR-Aus­ga­be wur­de kurz nach Erschei­nen zurückgezogen.

(15) – Ernst Nie­kisch: »Eu­ropa betet« (1930), in: ders.: Wider­stand, S. 43 – 55, hier S. 48.

(16) – Nie­kisch: Deut­sche Daseins­ver­feh­lung, S. 86.

(17) – An den (west-)sozialistischen Jugend­ak­ti­vis­ten Fritz Lamm schrieb er 1962: »Der Wes­ten zieht mich nicht an und der Osten erlaubt mir, in Distanz von ihm zu leben.« Zit. n. Stan­gel: Die Neue Lin­ke, S. 117, FN 372.

(18) – Ernst Nie­kisch: Ost und West – Unsys­te­ma­ti­sche Betrach­tun­gen, Ber­lin 1947.

(19) – Ernst Nie­kisch: Euro­päi­sche Bilanz, Pots­dam 1951.

(20) – Ernst Nie­kisch: Erin­ne­run­gen eines deut­schen Revo­lu­tio­närs, Bd. 2: Gegen den Strom 1945 – 1967, Köln 1974, S. 157.

(21) – Vgl. Joseph E. Dre­xel: Der Fall Nie­kisch – eine Doku­men­ta­ti­on, Köln 1964.

(22) – Nie­kisch: Erin­ne­run­gen, Bd. 2, S. 227.

Benedikt Kaiser

Benedikt Kaiser ist Politikwissenschaftler und arbeitet als Verlagslektor.

Nichts schreibt sich
von allein!

Das Blog der Zeitschrift Sezession ist die wichtigste rechtsintellektuelle Stimme im Netz. Es lebt vom Fleiß, von der Lesewut und von der Sprachkraft seiner Autoren. Wenn Sie diesen Federn Zeit und Ruhe verschaffen möchten, können Sie das mit einem Betrag Ihrer Wahl tun.

Sezession
DE58 8005 3762 1894 1405 98
NOLADE21HAL

Kommentare (0)