»und es verdeutlicht, daß der der rechte rand nichts, aber auch gar nichts mit libertären anfangen kann – weil denen die soziale wie nationale frage eher egal ist. warum liest eigentlich niemand, was da geschrieben wird?«
Dieses allzu laute Schenkelklopfen läßt den Verdacht aufkommen, daß Poschardt selbst wenig gelesen oder verstanden hat, was »da« geschrieben wurde. Es geht in diesem Buch jedenfalls nicht um »Libertäre«, sondern um eine intellektuelle Abart oder Mutation dieser Spezies, die sogenannte Neoreaktion (kurz »NRx«), die Wegner ausdrücklich weder als »Philosophie« noch als »Bewegung« verstanden haben will, sondern als »politische Denkströmung«.
Diese brachte von etwa 2007 bis 2014 eine »Bloglandschaft« hervor, die im anglophonen rechten Spektrum eine erhebliche, wenn auch eher subkutane Wirkung entfaltet hat. Ihren mäandernden Wegen zu folgen ist nicht nur wegen ihres inhaltlichen Anspruchs schwierig, sondern auch aufgrund der Tatsache, daß etliche der relevanten Texte spurlos aus dem Netz verschwunden sind. Wegner hat sich in diesen Kaninchenbau hinabbegeben und eine kompakte, übersichtliche Einführung vorgelegt.
Sie beginnt mit den beiden exemplarischen »Superstars« dieser Strömung, Curtis »Mencius Moldbug« Yarvin und Nicholas »Nick« Land. Der 1973 geborene Yarvin, von Haus aus Mathematiker und Informatiker, ist so etwas wie ein Häretiker der »Californian Ideology«, einer im Silicon Valley geborenen »verworrenen Mischung aus freidrehendem Hippietum und dem unternehmerischen Eifer der Yuppies«. Deren »sozialutopische Träumereien« warf Yarvin bald über Bord, um durch die »klassisch« libertäre Schule von Rothbard, Rand und Hoppe zu gehen, ehe er eine eigenwillige »Fundamentalopposition gegenüber dem bestehenden politischen Koordinatensystem« entwickelte, in deren Zentrum die Idee der Ordnung als oberstes Gut steht.
Ihm gegenüber steht der elf Jahre ältere Brite Nick Land, eine Art Erzengel des Chaos mit akademischer Laufbahn, der lange, bevor es in war, über heute allgegenwärtige Themen wie Biotechnologie, das Internet als Suchtmittel, virales Marketing oder den Aufstieg Chinas zur wirtschaftlichen Großmacht schrieb, und dies auf eine verstörend nihilistische, antihumanistische, »postmoderne« Weise.
Nach einem kurzen Überblick über weitere einflußreiche Köpfe jenseits der Gallionsfiguren erläutert Wegner die wichtigsten Ideologeme der NRx: »Cathedral« bezeichnet den Komplex der »Intellektuellenherrschaft« im Medien‑, Wissenschafts- und Bildungsbetrieb, der vorrangig um seinen eigenen Machterhalt kreist; »Uniparty«, ein besonders erfolgreicher, weil augenfällig schlüssiger Begriff, impliziert, daß der liberaldemokratische Politikbetrieb »eine reine Spiegelfechterei« ist, in der sich »Konservative« und »Progressive« ein »abgekartetes Wrestlingmatch« liefern. Die »Trichotomie« bezeichnet eine milieusoziologische Dreiteilung der NRx in »Ethnonationalisten«, »Technokapitalisten« und »Traditionalisten«.
»Bioleninismus« steht für eine politische und biologische Negativauslese, der die Neoreaktionäre die Notwendigkeit »vitalistischer« Umwertungen entgegenstellen. »Biodiversity« bedeutet die Anerkennung der Wirklichkeit von Menschenrassen, »Antiversity« verweist auf die Schaffung von Parallelstrukturen, die eines Tages die zerfallende alte Ordnung durch eine neue ersetzen sollen. Nach einem Crashkurs über die historische Genese und die systemische Funktion des amerikanischen Mainstream-Konservatismus führt Wegner aus, inwiefern »neoreaktionäre« Ideen heterodoxe Strömungen wie die »Alt-Right«-Bewegung beeinflußt haben.
Etwa ab 2016 tauchen Konkurrenzbewegungen auf, die die neoreaktionäre »Trichotomie« aufspalten und in einen verwässerten, systemkompatibleren Rahmen überführen: Aus dem »Dark Enlightenment« wird das sich rationalistisch-aufklärerisch gebende, eigentlich klassisch liberale »Intellectual Dark Web« (u. a. Jordan Peterson, Eric Weinstein, Ben Shapiro), der ethnonationalistische Strang wird von Yoram Hazony mit Hilfe eines buchstäblich »koscheren« Nationalkonservatismus establishmentfreundlich gemacht, während die »Traditionalisten« im »Postliberalismus« ein Zuhause gefunden haben (etwa im US-Online-Magazin Compact).
Schließlich geht Wegner der Frage nach, inwiefern die anti-woken, technokratischen Milliardäre Peter Thiel und Elon Musk als »rechtslibertär« oder zumindest als neoreaktionär beeinflußt einzustufen sind. Schon diese Rundschau sollte deutlich machen, daß aus diesem Reservoir für den sogenannten rechten Rand eine Menge geistiger Anregungen zu holen sind. Die praktische »Verwertbarkeit« des Materials wird durch etliche Momente eingeschränkt, etwa durch seine individualistisch-asozialen Prämissen, die »autistische« Esoterik der Texte, den virtuell-subkulturellen Nischencharakter, aber auch durch den dezidierten Antipopulismus, Antiaktivismus und »Passivismus« (Yarvin).
Zusammenfassend sieht Wegner in der »neoreaktionären Ideologie« einen Libertarismus, der seine Illusionen verloren und »sich eingestanden hat, daß Moral in real existierender Politik keine Bedeutung hat und irgend jemand immer herrschen wird.« Wer über das Thema Bescheid wissen will, ohne sich allzu tief in den »Dschungel« der entsprechenden Literatur zu stürzen, der greife zu diesem Buch.
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Nils Wegner: Neoreaktion und Dunkle Aufklärung. Die rechtslibertäre Versuchung, Dresden: Jungeuropa 2024. 120 S., 14 €
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