Zu diesem Zeitpunkt war in der Führung der RAF schon lange klar, daß das »Morale Bombing« die deutsche Zivilbevölkerung nicht brechen würde. Dennoch wurden die Terrorangriffe in den letzten Kriegsmonaten zu einem bislang unbekannten Ausmaß gesteigert.
Um dieses Vorgehen nachvollziehen zu können, beginnt Willmy bei der Kolonialgeschichte des Empires. Um ein besetztes Gebiet mit wenigen Soldaten unter Kontrolle zu halten, führte die britische Armee Strafexpeditionen durch. So sollten durch extrem abschreckende Kollektivstrafen Aufstände und Guerilla-Aktionen verhindert werden.
Als Beispiel führt der Autor das »Massaker von Amritsar« von 1919 an, bei dem friedliche Demonstranten ohne Vorwarnung niedergeschossen wurden. Mit über 370 toten Männern, Frauen und Kindern verfehlte das Blutbad seine Wirkung in der indischen Bevölkerung nicht. Winston Churchill distanzierte sich damals öffentlich von diesem grausamen Vorgehen – was Willmy als »klugen politiktaktischen Schachzug« charakterisiert.
Tatsächlich sprach sich der spätere Premierminister Großbritanniens in der Folgezeit immer wieder für die Nutzung von Militärtechnik und Strafexpeditionen zum Einsparen von Soldaten aus. Sowohl im Britisch-Somaliland als auch im Irak wurde dafür schon die Luftwaffe eingesetzt. Das Konzept der »Air Control« war geboren. Diese Strategie der kostensparenden Gebietskontrolle aus der Luft wurde in der »Trenchard-Doktrin« gebündelt.
Die nach Hugh Trenchard, dem damaligen Kommandeur der RAF, benannte Leitlinie blieb bis 1945 maßgeblich, was von der Forschung, so Willmy, bisher nicht hinreichend erkannt worden sei. Sie besagt, daß für das Ziel der Pazifizierung im Falle des Widerstands eine harte Lektion nötig sei. Diese muß so stark sein, daß sie für lange Zeit im Gedächtnis bleibt (»Morale Effect«).
Bereits nach Kriegsbeginn 1939 warb die Luftwaffe intern dafür, die Bevölkerung im Ruhrgebiet zu bombardieren, um im Sinne Trenchards Angst und Schrecken zu verbreiten. Premierminister Chamberlain bestand aber darauf, nur militärstrategische Einsätze zu fliegen. Dies änderte sich am 10. Mai 1940, als Churchill das Amt übernahm. Noch vor dem deutschen Luftschlag auf Rotterdam sprach sich der neue Premier für die Bombardierung des Ruhrgebiets aus. Die deutschen Luftangriffe auf London nutzte Churchill – wie später Coventry – als »einwandfreien Anlaß« für die Strategie der Massenbombardements.
Um das Kriegsrecht formal einzuhalten, konzentrierte sich die RAF in der Phase bis Frühjahr 1942 auf Infrastruktur in der Nähe von Wohngebieten wie Bahnhöfe. Dabei wurden »Fehlwürfe« oder das Abladen der Bomben bei schlechter Sicht (etwa in der Nacht) über dem Stadtgebiet explizit begrüßt. Selbstverständlich wurde darüber in der Öffentlichkeit geschwiegen und sogar gezielte Desinformation verbreitet, die »bis in die heutige Zeit hinein nachwirkt«.
Der Autor zeigt auf, daß es auch weit vor der berüchtigten »Area Bombing Directive« Pläne für das offene Bombardieren der Zivilbevölkerung gab. Das deutsche Volk reagierte auf diese Strategie des »Morale Bombing« trotz der Einäscherung ganzer Großstädte nur apathisch, und es kam nicht zu Aufständen gegen das NS-Regime. Der Oberkommandierende des Bomber Command, Arthur Harris, glaubte entgegen dem offensichtlichen Mißerfolg weiter an eine Kriegsentscheidung aus der Luft.
Charles Portal, Oberbefehlshaber der RAF, war hier mehr Realist und stimmte 1944 für Angriffe auf die deutsche Treibstoffversorgung, wie sie von der US Air Force erfolgreich betrieben wurden. Willmy betont aber, daß Portal genauso wie Harris »Trenchardist« blieb und nur Gegner eines exklusiven »Moral Bombing« war. Der Portal-Plan, eine »augenscheinlich übersehene Quelle«, bildete sogar eine wichtige Grundlage für die spätere Operation »Donnerschlag«. Der Oberbefehlshaber der RAF forderte eine harte Lektion noch während des Krieges, die die Deutschen so einschüchtern sollte, daß man in der Besatzungszeit davon profitieren könne.
Diese Ansicht setzte sich trotz Kritik des Heeres durch, und die RAF plante den »spektakulären Massentod aus der Luft«, wofür man kulturell bedeutende, bisher unbeschädigte Städte auswählte. Es wurde entschieden, einen geeigneten Zeitpunkt kurz vor Kriegsende abzuwarten. Ende Januar 1945 gab Churchill persönlich den Befehl, »Donnerschlag« zu verwirklichen, um die Deutschen zu pazifizieren. Erst Ende März 1945 ging er vorsichtig auf Distanz, weil er die Öffentlichkeit und eine Sowjetisierung der Deutschen fürchtete.
Die archivalisch fundierte Herausarbeitung der Motive und der Entscheidungsträger hinter der völkerrechtswidrigen Operation »Donnerschlag« ist das Hauptverdienst des Buches. Insgesamt lesen sich die über 500 Seiten Haupttext aufgrund häufiger Wiederholung und vieler englischer Zitate leider nicht sehr flüssig. Dennoch wird die zukünftige Forschung vor allem wegen der ungezählten, oftmals unbeachteten Archivquellen im gewaltigen Fußnotenapparat nicht an diesem Werk vorbeikommen.
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Lukas Willmy: Operation Donnerschlag. Imperiale Aufstandsbekämpfung aus der Luft und das »Morale Bombing« deutscher Städte durch die britische Royal Air Force 1945, Göttingen: Wallstein 2024. 600 S., 45 €
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