Erkennbar wird das an der um sich greifenden Sklerose des Parteiensystems, das die AfD als neue Partei nicht mehr absorbieren kann und will;
erkennbar wird es am Kollaps der Gewaltenteilung, an deren Stelle eine monomanische Verteidigung des Status quo durch Parlament, Exekutive und Judikative getreten ist, die allesamt damit beschäftigt sind, den vermeintlichen Systemgegner nicht nur zu bekämpfen, sondern in diesem Kampf auch alle Regularien über Bord zu werfen, die für einen demokratischen Rechts- und Verfassungsstaat eigentlich selbstverständlich sein müßten;
erkennbar wird das Ende des bundesrepublikanischen Parteienstaates schließlich an der Fahnenflucht der seit langem schon als Kartell operierenden Medien, die nichts mehr wissen wollen von argumentsatten Debatten, scharfen und daher eo ipso umstrittenen Denkern und der Aufdeckung von Widersprüchen und Machenschaften auf seiten der Macht, um statt dessen als machtpolitisch eingebettete Schreibkräfte den Herrschenden jederzeit zu Diensten zu sein.
Es wundert nicht, daß in dieser sich spätantik anfühlenden Zerfallslage die Bürger, die sich zunehmend als Subjekte im Wortsinn — also als politisch Verdächtige und fremden Zwecken Unterworfene — erfahren müssen, nach Rettung Ausschau halten. Und schon fällt der Blick auf die eine oder andere Person, von der man hofft, sie hätte das Zeug zum Volkstribun, der die Interessen der einfachen Leute gegen die über mißbrauchte Institutionen organisierten und vom Medienkartell stets legitimierten Übergriffe der Mächtigen durchsetzt.
Wie immer in solchen Lagen verdichten sich die weltlichen Hoffnungen zu überweltlichen Energien, die nicht nur ein Abstellen der eingerissenen Mißbräuche mit sich bringen sollen, sondern diese und alle zukünftigen Mißbräuche ein für allemal abstellen. Aus dem Volkstribun wird so unter der Hand der Retter und Heiland, der die politische Wende zur Weltenwende überhöht, in der aller Schlamassel – das jiddische Wort meint alles, was unter keinem glücklichen Stern steht – endlich ein Ende haben möge, für alle Zeit und Ewigkeit.
Auch das ist nicht neu. Es ist die Lage zu Beginn unserer Zeitrechnung, als der römische Staat nach langen Bürgerkriegen sich wieder stabilisierte, freilich um den Preis, daß die alte Republik durch ein monarchisches System ersetzt wurde, das die republikanischen Institutionen formell zwar beibehielt, hinter den institutionellen Kulissen aber autokratisch agierte.
Welche Entlastung dieser Umschwung für die geplagten Menschen bedeutete, mag man an Vergils vierter Ekloge ablesen, einem Hirtengedicht, das um das Jahr 40 v.Chr. entstand. Es feiert die Geburt eines göttlichen Kindes, mit dem nicht nur der Frieden auf Erden einkehren wird, sondern als Zeichen des Friedens die Felder reiche Frucht tragen, die Weinberge Reben, an den Bäumen der Honig herabtropft und die Tiere wie von selbst dem Menschen nützlich werden: omnis feret omnia tellus — »die gesamte Erde möge trächtig sein«.
Und Vergil meint: Wo diese Zeichen auftreten, beginnt ein neues saeculum, ein neues Zeitalter, das Zeitalter des »befriedeten Erdkreises«, des pacatus orbis.
Etwa einhundert Jahre später nimmt ein christlicher Autor, der Evangelist Lukas, das Thema der ein neues Zeitalter heraufführenden Kindsgeburt auf. Aber bei Lukas erscheint das göttliche Kind nicht mit göttlichen Attributen, die für alle sofort sichtbar wären; das Kind, das bei Lukas geboren wird, ist zwar, was die Genealogie anbelangt, von der Vaterseite her von königlicher Abkunft (Lk 2,4) und, was die Theologie anbelangt, der Messias (Lk 2,11), aber diese Attribute bleiben der großen Welt verborgen und werden nur unter der Hand von einfachen Hirten als dem Typus des belanglosen Menschen weitererzählt, während die unmittelbar betroffene Mutter lieber schweigt (Lk 2,19).
Mit anderen Worten: Das Neue, das hier in die Welt tritt, bringt keine schlagartige Veränderung der Lage, es bringt vielmehr den Keim zu einer allmählich sich entwickelten Lageveränderung. Und diese geschieht nicht von alleine, sondern benötigt die Mitarbeit der Menschen, die von der prinzipiell eingetretenen Lageveränderung überzeugt sind. Wer glaubt, daß der in Bethlehem im Winter geborene Jesus der Messias ist, findet in diesem Glauben das Motiv, um weltverändernd wirken zu können und also, wie der Apostel Paulus formulierte, zu »Gottes Mitarbeiter« (1 Kor 3,9) zu werden.
Natürlich ist das ein Anspruch, der belächelt wurde, seit es ihn gibt. Denn viele wären viel lieber auf der sicheren Seite — der Seite, auf der sich berechnen ließe, was auf uns zukommt, und planen ließe, was genau wir mit welchen Mitteln erreichen könnten. Nun zeigt sich aber: Die Planungsseite ist die Seite der Macht, für die nur zählt, wie man die nicht ganz so Mächtigen aus dem Feld schlagen kann und dabei noch mächtiger wird. Sie ist die Seite der Macht, die sich zu temporären Bündnissen und Kartellen formiert, um alles Unerwartete auszuschließen und zu verhindern, daß sich der Keim des Neuen irgendwo einwurzelt. Sie ist daher insgesamt die Seite von Sklerose und Ödnis, in der alles erstickt wird, was das Planen gefährdet und zu unvorhergesehenen Ergebnisse führen könnte.
Wir dürfen uns daher nicht wundern, daß auf dieser Seite die Kinder im Mutterleib getötet werden, weil sie Angst machen statt Freude; daß auf dieser die Seite die aus sich heraus fruchtbaren Felder und grünenden Wälder zur windradbestandenen Industrielandschaft umgeformt werden, in der der Bauer durch den planenden Ingenieur ersetzt wird; daß auf dieser Seite der lebendige Austausch der Menschen untereinander durch einen gelenkten Fluß von Ansichten ersetzt wird, von Ansichten also, deren Alternativlosigkeit von staatlich approbierten Gremien und Medien garantiert wird.
Wer genau hinschaut, kann hinter dem überlegenen Lächeln der Planer und Technokraten die Angst vor dem Wirklich-Neuen wahrnehmen. Das erklärt nicht nur den grauen Habitus dieses Menschenschlags, sondern auch den Umstand, daß all ihr scheinbar so zukunftsträchtiges Tun darauf hinausläuft, Zukunft als offenen Raum von ungeahnten Möglichkeiten zu verhindern. Wo sie regieren, werden wir alle gezwungen, in eine Zeitsparkasse einzuzahlen, die uns in Ewigkeit keine Zinsen zahlen wird, weil unser Vermögen eine Weltbeschleunigung finanzieren muß, die längst den Zustand des rasenden Stillstands erreicht hat. In ihm zerstäubt alle Phantasie.
Das ist die Lage. Sie ist, wie jede Lage, eine Entscheidungslage. Entweder versuchen wir uns weiterhin am Großen Plan, der in möglichst kurzer Frist eine der vielen versprochenen »Wenden« bringen soll, am besten endgültig und basta. Oder wir schauen darauf, wo sich der unscheinbare Keim des Neuen finden läßt, der unsere behutsame Pflege braucht und mit dem zusammen wir uns entwickeln können.
Das Entweder, das mit dem Anspruch auftritt, daß wir nichts zu fürchten hätten, wenn wir denn nur richtig planten, krankt daran, daß es in seiner Angst vor der Angst vor dem Neuen ebendieses Neue abwürgt, wo immer es sich zeigt.
Das Oder hat außer dem Vertrauen auf das Neue nichts zu bieten, aber in ebendiesem Vertrauen bleibt es zukunftsoffen und angstfrei.
Wer sich für das Oder entscheidet, kann angesichts der realen Pressionen und Repressionen sich und anderen immer wieder ebenjenen Satz sagen, der einer der häufigsten im Neuen Testament ist: »Fürchte dich nicht!«