Das Neue erwarten – Weihnachten 2024

von Uwe Jochum - Viele vermuten, daß das, was wir in den vergangenen Wochen und Monaten erleben mußten, die Symptome eines Untergangs sind: Der bundesrepublikanische Parteienstaat hat nach 75 Jahren seinen Schöpfungsimpuls aufgebraucht und nähert sich seinem Ende.

Erkenn­bar wird das an der um sich grei­fen­den Skle­ro­se des Par­tei­en­sys­tems, das die AfD als neue Par­tei nicht mehr absor­bie­ren kann und will;

erkenn­bar wird es am Kol­laps der Gewal­ten­tei­lung, an deren Stel­le eine mono­ma­ni­sche Ver­tei­di­gung des Sta­tus quo durch Par­la­ment, Exe­ku­ti­ve und Judi­ka­ti­ve getre­ten ist, die alle­samt damit beschäf­tigt sind, den ver­meint­li­chen Sys­tem­geg­ner nicht nur zu bekämp­fen, son­dern in die­sem Kampf auch alle Regu­la­ri­en über Bord zu wer­fen, die für einen demo­kra­ti­schen Rechts- und Ver­fas­sungs­staat eigent­lich selbst­ver­ständ­lich sein müßten;

erkenn­bar wird das Ende des bun­des­re­pu­bli­ka­ni­schen Par­tei­en­staa­tes schließ­lich an der Fah­nen­flucht der seit lan­gem schon als Kar­tell ope­rie­ren­den Medi­en, die nichts mehr wis­sen wol­len von argu­ment­sat­ten Debat­ten, schar­fen und daher eo ipso umstrit­te­nen Den­kern und der Auf­de­ckung von Wider­sprü­chen und Machen­schaf­ten auf sei­ten der Macht, um statt des­sen als macht­po­li­tisch ein­ge­bet­te­te Schreib­kräf­te den Herr­schen­den jeder­zeit zu Diens­ten zu sein.

Es wun­dert nicht, daß in die­ser sich spät­an­tik anfüh­len­den Zer­fall­s­la­ge die Bür­ger, die sich zuneh­mend als Sub­jek­te im Wort­sinn — also als poli­tisch Ver­däch­ti­ge und frem­den Zwe­cken Unter­wor­fe­ne — erfah­ren müs­sen, nach Ret­tung Aus­schau hal­ten. Und schon fällt der Blick auf die eine oder ande­re Per­son, von der man hofft, sie hät­te das Zeug zum Volks­tri­bun, der die Inter­es­sen der ein­fa­chen Leu­te gegen die über miß­brauch­te Insti­tu­tio­nen orga­ni­sier­ten und vom Medi­en­kar­tell stets legi­ti­mier­ten Über­grif­fe der Mäch­ti­gen durchsetzt.

Wie immer in sol­chen Lagen ver­dich­ten sich die welt­li­chen Hoff­nun­gen zu über­welt­li­chen Ener­gien, die nicht nur ein Abstel­len der ein­ge­ris­se­nen Miß­bräu­che mit sich brin­gen sol­len, son­dern die­se und alle zukünf­ti­gen Miß­bräu­che ein für alle­mal abstel­len. Aus dem Volks­tri­bun wird so unter der Hand der Ret­ter und Hei­land, der die poli­ti­sche Wen­de zur Wel­ten­wen­de über­höht, in der aller Schla­mas­sel – das jid­di­sche Wort meint alles, was unter kei­nem glück­li­chen Stern steht – end­lich ein Ende haben möge, für alle Zeit und Ewigkeit.

Auch das ist nicht neu. Es ist die Lage zu Beginn unse­rer Zeit­rech­nung, als der römi­sche Staat nach lan­gen Bür­ger­krie­gen sich wie­der sta­bi­li­sier­te, frei­lich um den Preis, daß die alte Repu­blik durch ein mon­ar­chi­sches Sys­tem ersetzt wur­de, das die repu­bli­ka­ni­schen Insti­tu­tio­nen for­mell zwar bei­be­hielt, hin­ter den insti­tu­tio­nel­len Kulis­sen aber auto­kra­tisch agierte.

Wel­che Ent­las­tung die­ser Umschwung für die geplag­ten Men­schen bedeu­te­te, mag man an Ver­gils vier­ter Eklo­ge able­sen, einem Hir­ten­ge­dicht, das um das Jahr 40 v.Chr. ent­stand. Es fei­ert die Geburt eines gött­li­chen Kin­des, mit dem nicht nur der Frie­den auf Erden ein­keh­ren wird, son­dern als Zei­chen des Frie­dens die Fel­der rei­che Frucht tra­gen, die Wein­ber­ge Reben, an den Bäu­men der Honig her­ab­tropft und die Tie­re wie von selbst dem Men­schen nütz­lich wer­den: omnis feret omnia tel­lus — »die gesam­te Erde möge träch­tig sein«.

Und Ver­gil meint: Wo die­se Zei­chen auf­tre­ten, beginnt ein neu­es sae­cu­lum, ein neu­es Zeit­al­ter, das Zeit­al­ter des »befrie­de­ten Erd­krei­ses«, des paca­tus orbis.

Etwa ein­hun­dert Jah­re spä­ter nimmt ein christ­li­cher Autor, der Evan­ge­list Lukas, das The­ma der ein neu­es Zeit­al­ter her­auf­füh­ren­den Kinds­ge­burt auf. Aber bei Lukas erscheint das gött­li­che Kind nicht mit gött­li­chen Attri­bu­ten, die für alle sofort sicht­bar wären; das Kind, das bei Lukas gebo­ren wird, ist zwar, was die Genea­lo­gie anbe­langt, von der Vater­sei­te her von könig­li­cher Abkunft (Lk 2,4) und, was die Theo­lo­gie anbe­langt, der Mes­si­as (Lk 2,11), aber die­se Attri­bu­te blei­ben der gro­ßen Welt ver­bor­gen und wer­den nur unter der Hand von ein­fa­chen Hir­ten als dem Typus des belang­lo­sen Men­schen wei­ter­erzählt, wäh­rend die unmit­tel­bar betrof­fe­ne Mut­ter lie­ber schweigt (Lk 2,19).

Mit ande­ren Wor­ten: Das Neue, das hier in die Welt tritt, bringt kei­ne schlag­ar­ti­ge Ver­än­de­rung der Lage, es bringt viel­mehr den Keim zu einer all­mäh­lich sich ent­wi­ckel­ten Lage­ver­än­de­rung. Und die­se geschieht nicht von allei­ne, son­dern benö­tigt die Mit­ar­beit der Men­schen, die von der prin­zi­pi­ell ein­ge­tre­te­nen Lage­ver­än­de­rung über­zeugt sind. Wer glaubt, daß der in Beth­le­hem im Win­ter gebo­re­ne Jesus der Mes­si­as ist, fin­det in die­sem Glau­ben das Motiv, um welt­ver­än­dernd wir­ken zu kön­nen und also, wie der Apos­tel Pau­lus for­mu­lier­te, zu »Got­tes Mit­ar­bei­ter« (1 Kor 3,9) zu werden.

Natür­lich ist das ein Anspruch, der belä­chelt wur­de, seit es ihn gibt. Denn vie­le wären viel lie­ber auf der siche­ren Sei­te — der Sei­te, auf der sich berech­nen lie­ße, was auf uns zukommt, und pla­nen lie­ße, was genau wir mit wel­chen Mit­teln errei­chen könn­ten. Nun zeigt sich aber: Die Pla­nungs­sei­te ist die Sei­te der Macht, für die nur zählt, wie man die nicht ganz so Mäch­ti­gen aus dem Feld schla­gen kann und dabei noch mäch­ti­ger wird. Sie ist die Sei­te der Macht, die sich zu tem­po­rä­ren Bünd­nis­sen und Kar­tel­len for­miert, um alles Uner­war­te­te aus­zu­schlie­ßen und zu ver­hin­dern, daß sich der Keim des Neu­en irgend­wo ein­wur­zelt. Sie ist daher ins­ge­samt die Sei­te von Skle­ro­se und Ödnis, in der alles erstickt wird, was das Pla­nen gefähr­det und zu unvor­her­ge­se­he­nen Ergeb­nis­se füh­ren könnte.

Wir dür­fen uns daher nicht wun­dern, daß auf die­ser Sei­te die Kin­der im Mut­ter­leib getö­tet wer­den, weil sie Angst machen statt Freu­de; daß auf die­ser die Sei­te die aus sich her­aus frucht­ba­ren Fel­der und grü­nen­den Wäl­der zur wind­rad­be­stan­de­nen Indus­trie­land­schaft umge­formt wer­den, in der der Bau­er durch den pla­nen­den Inge­nieur ersetzt wird; daß auf die­ser Sei­te der leben­di­ge Aus­tausch der Men­schen unter­ein­an­der durch einen gelenk­ten Fluß von Ansich­ten ersetzt wird, von Ansich­ten also, deren Alter­na­tiv­lo­sig­keit  von staat­lich appro­bier­ten Gre­mi­en und Medi­en garan­tiert wird.

Wer genau hin­schaut, kann hin­ter dem über­le­ge­nen Lächeln der Pla­ner und Tech­no­kra­ten die Angst vor dem Wirk­lich-Neu­en wahr­neh­men. Das erklärt nicht nur den grau­en Habi­tus die­ses Men­schen­schlags, son­dern auch den Umstand, daß all ihr schein­bar so zukunfts­träch­ti­ges Tun dar­auf hin­aus­läuft, Zukunft als offe­nen Raum von unge­ahn­ten Mög­lich­kei­ten zu ver­hin­dern. Wo sie regie­ren, wer­den wir alle gezwun­gen, in eine Zeit­spar­kas­se ein­zu­zah­len, die uns in Ewig­keit kei­ne Zin­sen zah­len wird, weil unser Ver­mö­gen eine Welt­be­schleu­ni­gung finan­zie­ren muß, die längst den Zustand des rasen­den Still­stands erreicht hat. In ihm zer­stäubt alle Phantasie.

Das ist die Lage. Sie ist, wie jede Lage, eine Ent­schei­dungs­la­ge. Ent­we­der ver­su­chen wir uns wei­ter­hin am Gro­ßen Plan, der in mög­lichst kur­zer Frist eine der vie­len ver­spro­che­nen »Wen­den« brin­gen soll, am bes­ten end­gül­tig und bas­ta. Oder wir schau­en dar­auf, wo sich der unschein­ba­re Keim des Neu­en fin­den läßt, der unse­re behut­sa­me Pfle­ge braucht und mit dem zusam­men wir uns ent­wi­ckeln können.

Das Ent­we­der, das mit dem Anspruch auf­tritt, daß wir nichts zu fürch­ten hät­ten, wenn wir denn nur rich­tig plan­ten, krankt dar­an, daß es in sei­ner Angst vor der Angst vor dem Neu­en eben­die­ses Neue abwürgt, wo immer es sich zeigt.

Das Oder hat außer dem Ver­trau­en auf das Neue nichts zu bie­ten, aber in eben­die­sem Ver­trau­en bleibt es zukunfts­of­fen und angstfrei.

Wer sich für das Oder ent­schei­det, kann ange­sichts der rea­len Pres­sio­nen und Repres­sio­nen sich und ande­ren immer wie­der eben­je­nen Satz sagen, der einer der häu­figs­ten im Neu­en Tes­ta­ment ist: »Fürch­te dich nicht!«

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