von Claus‑M. Wolfschlag –
In der NS-Zeit wurden Teile der Kunst als »entartet« bezeichnet. Diese Methode der Ausgrenzung ist allgemein bekannt, »entartete Kunst« ist zum stehenden Begriff geworden. Weniger gut im kollektiven Bewußtsein verankert ist die Tatsache, daß es auch in der kommunistischen Herrschaftszeit künstlerische Restriktionen gab. Sie wurden mit dem Vorwurf des »Formalismus« begründet.
Die Beschäftigung damit ist lehrreich, sollte aber nicht zu einfachen Reaktionsmustern führen. Weder ist die einst als »entartet« oder als »formalistisch« klassifizierte Kunst automatisch von sonderlichem Wert, noch sind die Werke der offiziell anerkannten Künstler der NS-Ära oder des »Sozialistischen Realismus« generell ohne Qualität. Vielmehr soll die Beschäftigung mit den historischen Vorgängen als Lehrstück über die politische Instrumentalisierung des Kulturschaffens dienen.
Nach der Oktoberrevolution 1917 erfolgte in Rußland rasch politische Einflußnahme auf die Kunst mit dem Ziel, sie für die pädagogische Erziehung des Volkes hin zum Kommunismus nutzbar zu machen. Lenin formulierte einen »Plan zur Monumentalen Propaganda«. Analog dazu äußerte 1928 in Deutschland der kommunistische Dramatiker Friedrich Wolf, Vater des späteren Chefs des DDR-Auslandsnachrichtendienstes Markus Wolf: »Kunst ist Waffe.«
Innerhalb dieser Ideologie existierte anfangs ein Stilpluralismus aus verschiedenen Strömungen. Die sogenannte russische Avantgarde, also Suprematisten wie Kasimir Malewitsch und Konstruktivisten wie El Lissitzky oder Wladimir Jewgrafowitsch Tatlin, konnte eine bedeutende Rolle im staatlichen Propagandaapparat übernehmen. Rasch allerdings bemerkte die Parteiführung, daß die großenteils abstrakten avantgardistischen Konzepte nur spärlichen Anklang bei der breiten Bevölkerung fanden. Es galt, nach anderen Rezepten zu suchen.
Der »Sozialistische Realismus« wurde erstmals 1932 als künstlerische Methode der sowjetischen Literatur erwähnt. Er entwickelte sich aus Lenins Abbildtheorie, nach der sozialistische Kunst im Gegensatz zu den Verzerrungen bürgerlicher Kultur eine Widerspiegelung der Wirklichkeit sei. Sie ist somit ein Gipfelpunkt aller vorangegangenen künstlerischen Methoden in der Erkennung der real existenten Objekte. Das Leben und das Ziel der Arbeiterklasse sollten dadurch erfaßt und ästhetisch gewertet werden.
Da Kunst und Politik als untrennbar miteinander verbunden betrachtet wurden, schaffe die Wirklichkeitsabbildung des »Sozialistischen Realismus« gesellschaftliches Bewußtsein. Dem stünden aber »spätkapitalistisch-modernistische« Methoden gegenüber, die nicht die Realität abbildeten, sondern völlig frei dem Schöpfertum eines individuellen Künstlers entsprungen seien. Da aber Pluralismus und individuelles Konkurrenzverhalten den kulturellen Fortschritt hemmen würden, müsse dem bürgerlichen Kulturverfall entgegengewirkt werden.
Die dargestellten Figuren in »sozialistisch-realistischen« Kunstwerken hatten demnach keinen Eigencharakter, sondern fungierten als Ikonen für eine durch sie dargestellte Moral. Die Darstellung war meist agitatorisch. Der künstlerische Inhalt hatte sich demgemäß auf die Darstellung der Arbeitswelt und technischer Prozesse zu reduzieren. Wirklichkeitsdarstellungen in Kunstwerken mußten ideologisch umgeformt werden, um der Erziehung der Rezipienten zu dienen.
Einfachheit und Volkstümlichkeit wurden propagiert, was bedeutete, daß die Inhalte für die breiten Massen rasch verständlich transportiert werden sollten. Gefährliche Situationen wurden im Rahmen der Darstellung mit pauschalisierenden Gefühlen wie Sentimentalität oder Haß beantwortet. Eigentlich traurigen Ereignissen wurde eine optimistische, utopisch-aufbruchhafte Stimmung gegeben. Als Perspektive galt der Klassenkampf aus Sicht der Arbeiter und Bauern.
Diese Beschränkung der künstlerischen Sujets ging einher mit einer Ausweitung der Bürokratie, deren Aufgabe die Überwachung des künstlerischen Geschehens war. 1936 schuf die KPdSU mit dem Komitee für Kunstangelegenheiten ein Instrument, mit dem direkt Einfluß auf die weitere kulturelle Entwicklung in der Sowjetunion genommen werden konnte. Dazu gehörte eine in den dreißiger Jahren aufbrandende Kampagne gegen den »Formalismus«.
Dieser Begriff war zuerst von den Konstruktivisten verwendet worden. Sie wollten mit ihm zum Ausdruck bringen, daß eine neue Form auch zwangsläufig zu neuen Inhalten führe. Somit habe die Form Einfluß auf das menschliche Bewußtsein, was die Konstruktivisten im »progressiven« Sinn zu nutzen versuchten. Unter »Formalismus« wurden in der weiteren Entwicklung zahlreiche Strömungen der künstlerischen Moderne verstanden, vom Surrealismus über Kubismus, Futurismus und Expressionismus bis zur Neuen Sachlichkeit.
Der Begriff wurde gegen die künstlerische Moderne verwendet. Der kulturpolitische Streit in der Sowjetunion hatte dadurch natürlich Auswirkungen auf die künstlerische Entwicklung im ab 1945 vom östlichen Hegemon kontrollierten Teil Deutschlands. Da die Herrschaft der SED keine echte demokratische Legitimation aufweisen konnte, erfolgte jene über eine höhere Moral, in diesem Fall durch die geschichtsdeterminierende Ideologie des Marxismus-Leninismus und den Antifaschismus.
In den Anfangsjahren der DDR war der »Sozialistische Realismus« nach sowjetischem Vorbild als dominierende Kunstdoktrin etabliert. Da das Land als Vasall der Sowjetunion fungierte, wurde also nicht nochmals die Aufbruchszeit kommunistischer Kunst mit ihren Abstraktionsexperimenten durchgespielt. Kunst fungierte als Mittel innerhalb der Erziehungsdiktatur der DDR. Diese Kulturrevolution beinhaltete den »ständigen Kampf« gegen Einflüsse »reaktionärer« oder »imperialistischer« Ideologie und Kultur. Schon frühzeitig wurden deshalb durch Partei und Kunstbetrieb Abweichungen von der offiziellen Doktrin abgelehnt und als »Formalismus« verfolgt.
Stand in der Anfangsphase der SBZ-Kunst die Bewältigung der Vergangenheit im kommunistischen Geist im Vordergrund der Sujets, so rückten nach der DDR-Gründung die Aufgaben der Gegenwart in den Fokus künstlerischer Verarbeitung. Das Konzept des »Sozialistischen Realismus« war nicht nur von oben angeordnet, sondern wurde durchaus von Künstlern mitgetragen. So forderten zum Beispiel die Schriftsteller Anna Seghers und Johannes R. Becher auf dem IV. Schriftstellerkongreß 1956, das Leben arbeitender Menschen als Teil des sozialistischen Aufbaus zu verstehen.
Als Erbe der aristokratischen und bürgerlichen Porträtkultur wurde das Typenporträt von Arbeitern propagiert. Die Darstellungen dieses Sujets in der DDR-Kunst waren meist ent-individualisiert, vielmehr wurden ideelle Helden der Arbeit dargestellt. Kunst kam demnach unmittelbare politische Funktion zu. Sie wurde als Waffe im Klassenkampf verstanden, war auf die Gruppen der Arbeiter und Bauern zentriert, durfte Parteilichkeit und Volksverbundenheit ausdrücken. Das bedeutete, daß die Inhalte verständlich, massenwirksam und hinsichtlich der Ästhetik an klassischen nationalen Mustern orientiert transportiert werden sollten. Heute würde man es so ausdrücken: »Die Menschen abholen, wo sie sind.«
Ein zusätzliches Anliegen war es von Anfang an, die zuvor als »entartet« geltenden Künstler zu rehabilitieren. Die Allgemeine Kunstausstellung 1946 in Dresden präsentierte beispielsweise in der NS-Zeit verbotene Kunst. Künstlerischen Einfluß hatte der ursprünglich in allen vier Besatzungszonen aktive »Kulturbund zur demokratischen Erneuerung Deutschlands« unter dem Vorsitz Johannes R. Bechers. Kommunistische Künstler sollten sich nicht wieder in ihren traditionellen Vereinigungen wie der Assoziation Revolutionärer Bildender Künstler Deutschlands (Asso oder ARBKD) organisieren, sondern Offenheit für »Volksfront«-Bündnisse mit nicht explizit kommunistischen Kollegen demonstrieren.
Doch in der UdSSR leitete Stalins Chefideologe Andrei Schdanow bereits 1946 Kampagnen gegen kulturelle Dekadenz ein, die bald auch in den Bereich der sowjetisch besetzten Zone überschwappen sollten. Die Thesen wurden in den Organen der Sowjetischen Militäradministration in Deutschland (SMAD) und der SED publiziert. Mit der Umsetzung wurde 1948 der Leiter der Kulturabteilung der SMAD, Alexander Dymschitz, betraut. Die Vermittlung der sowjetischen Kunstideen oblag in der DDR dabei Massenorganisationen wie der Gesellschaft für Deutsch- Sowjetische Freundschaft (DSF).
Die künstlerisch also relativ freie Phase endete mit der Staatsgründung der DDR 1949 und ging in eine restriktive Periode über. Rasch richtete sich der sowjetische Kulturoffizier Alexander Dymschitz gegen die »bürgerliche Dekadenz« in der Kunst. In der Täglichen Rundschau erschien 1949 sein Aufsatz »Über die formalistische Richtung in der deutschen Malerei«. Das bürgerliche Feindbild wurde damit markiert, das von Pablo Picasso über Karl Schmidt- Rottluff bis zum »kranken Schaffen Marc Chagalls« reichte. Sie alle hätten »das Gefühl für die Harmonie und das Schöne« verloren, würden statt Menschen »stumpfe Roboter« darstellen und die Welt durch das »Prisma des Wahnsinns« zeigen. Historische Künstler wie Dürer, Cranach oder Zille wurden hingegen als »von Leidenschaft erfüllt« gelobt.
Dymschitz kritisierte zudem das thematische Verharren vieler Künstler in der unmittelbaren Nachkriegszeit, die sich mit der Aufarbeitung der Vergangenheit beschäftigten, statt sich inhaltlich dem neuen Menschen und einem lebensbejahenden Optimismus zuzuwenden. Gemeint waren damit Gemälde wie Wilhelm Lachnits »Der Tod von Dresden« von 1945 oder Hans Grundigs »Den Opfern des Faschismus« von 1946.
1951 begann dann offiziell der Kampf gegen den »Formalismus« in der DDR. Er wurde eingeleitet durch den Aufsatz »Wege und Irrwege der modernen Kunst«, den ein Autor unter dem Pseudonym N. Orlow in der Täglichen Rundschau veröffentlichte. Man gab dem »Formalismus« die Schuld am angeblich mangelnden Mithalten der Kunst beim gesellschaftlichen Fortschritt.
Künstler, die sich nicht den Richtlinien des »Sozialistischen Realismus« anschlossen hatten, mußten mit starkem Gegenwind der Partei rechnen: Der Druck mißliebiger Bücher wurde verboten, Ausstellungen wurden geschlossen – so beispielsweise die Ernst-Barlach-Schau 1952 in Dresden kurz nach der Eröffnung, da Barlach nach Einschätzung des Neuen Deutschland nur »ein auf verlorenem Posten stehender, in seinem Grundzug rückwärts gewandter Künstler« gewesen sei, der das Leid mystifiziert habe.
Gemälde wurden übermalt oder eingestampft. Das betraf auch ganz linientreue Bilder wie Horst Strempels Wandbild »Trümmer weg – baut auf« von 1948 in der Eingangshalle des Bahnhofs Berlin-Friedrichstraße. Das in der Form eines Triptychons gestaltete Bild spielte optisch mit dem christlichen Auferstehungsmotiv. 1951 fiel das zuvor gefeierte Gemälde bei der Parteispitze aber unter »Formalismus«-Verdacht und wurde drei Jahre nach seiner Fertigstellung übermalt.
Zu einer Verhärtung der Praxis führte der Ungarn-Aufstand 1956, der in vielen Ländern das kurze Tauwetter beendete, das nach dem Tod Stalins eingesetzt hatte. Weiteren Auftrieb erhielt der scharfe Kurs 1957. In jenem Jahr propagierte die sogenannte Harich-Janka-Gruppe um Wolfgang Harich entstalinisierende Reformen innerhalb des DDR-Sozialismus, was zu einer Anklage wegen Hochverrats führte. SED-Funktionäre wie Kurt Hager und Alfred Kurella sprachen sich gegen jede Liberalisierungstendenz im Kultursektor aus.
Der »Sozialistische Realismus« diente auch der bewußten Abgrenzung von der Kunstentwicklung im Westen, die ab 1955 durch die »Documenta«-Ausstellungen in Kassel und einen starken Hang zur Abstraktion bestimmt war. »Formalismus« wurde mit Kapitalismus und Imperialismus verknüpft. Die Kunst der Bundesrepublik, so ein Vorwurf, lenke von den politischen Erfordernissen der Zeit ab. Ihr mangele es häufig an der Darstellung einer klaren politischen Meinung. Sie sei nicht nur weltanschaulich reaktionär, sie vermittele oft keinen klaren Inhalt, keinen funktional nutzbaren Zweck.
Ein Versuch, die geistige Trennung von Volk und Kultur aufzuheben, war die 1958 auf dem SED-Parteitag beschlossene Förderung der Laienkunst. Dieser »Bitterfelder Weg« entstand nicht von unten, sondern wurde oktroyiert. Er führte zu keinen qualitativ überzeugenden Ergebnissen.
Kulturpolitik wurde in der DDR dabei durchaus flexibel anhand der aktuell bestehenden innen- und außenpolitischen Erfordernisse betrieben. Die kulturpolitischen Zügel lockerten sich somit, wenn auch erst ab Anfang der 1960er Jahre. Nun setzte die SED im Rahmen einer verhaltenen Liberalisierung auf weniger offensichtliche Repression, sondern auf geduldige Überzeugungsarbeit. Künstler forderten zudem weniger staatliche Bevormundung,
die SED lenkte ein, ohne jedoch die »Formalismus«-Kampagne zu beenden. Ende der 1960er Jahre wurde der »Formalismus«-Begriff durch Bezeichnungen wie »bürgerlich-dekadent« ersetzt. Nochmalige Lockerungen erfolgten ab 1971 mit dem Aufstieg Erich Honeckers zum Generalsekretär des Zentralkomitees der SED und Vorsitzenden des Staatsrats der DDR. Die Typenporträts wichen langsam wieder Charakterstudien der Porträtierten.
Zudem entstanden auch sogenannte Konfliktbilder, wie Uwe Pfeiffers »Feierabend«, die den Blick auf mögliche gesellschaftliche Probleme innerhalb der DDR-Gesellschaft lenkten. Die Transformationen der DDR-Kunst wurden nachträglich von der Partei legitimiert. Darin offenbarte sich ein langsamer Machtverlust der SED über die Kunst, dem ein Utopieverlust auf der geistigen Ebene vorangegangen war.