Nach den polnischen Teilungen war es Österreich zugeschlagen worden. Für die Soldaten der K.u.K.-Armee hatte man am Stadtrand zu beiden Seiten einer langen Pappelallee eine Reihe roter Backstein-Kasernen errichtet. Im Zweiten Weltkrieg geriet Auschwitz erneut unter deutsche Herrschaft. Unter Verwendung der ehemaligen Kasernengebäude wurde dort ein Konzentrationslager eingerichtet, auch Arbeitslager für die nahegelegene kriegswichtige Industrie geheißen. Im Juli 1944 betrug die Gesamtzahl der im Stamm- und in allen Nebenlagern festgehaltenen Gefangenen 155168 Personen.
Ende Januar 1945 eroberte die Sowjetarmee das Gelände, nutzte das Lager noch eine Weile für ihre deutschen Gefangenen und löste es dann auf. Die Welt nahm von der erneuten Rückkehr des Städtchens nach Polen zunächst kaum Notiz. Obwohl man „nur“ einige Tausend Sieche fand – die anderen Gefangenen waren in so genannten Hungermärschen kurz vor Auflösung des Lagers von den Wachmannschaften herausgetrieben worden – zählten die Sowjets jedoch in Auschwitz vier Millionen Ermordeter. Dieser Umstand nun machte Auschwitz zur Metapher des absolut und unvorstellbar Bösen, die Opferzahl wurde für eine Zeit lang kanonisch.
Im Mai 2002 erschien sehr zum Erstaunen einiger Hundert Osteuropahistoriker und –politologen in der Zeitschrift Osteuropa ein Artikel von Fritjof Meyer: Die Zahl der Opfer von Auschwitz. Neue Erkenntnisse durch neue Archivfunde. Einen besonderen Anlaß für die Veröffentlichung gab es nicht: Es stand kein Jahrestag an, auch wurden keine wissenschaftliche Kontroverse und keine öffentliche politische Debatte geführt. Fritjof Meyer, Jahrgang 1932, wurde den Lesern als Diplom DHP, Diplom-Politologe und Diplom-Kameralist vorgestellt. Was der Sache eine besondere Bedeutung gab: Meyer arbeit als Leitender Redakteur des Hamburger Journals Der Spiegel.
Der für das Ressort Ausland verantwortliche Journalist – kein ausgebildeter Historiker – war zuvor noch nie mit Veröffentlichungen zum weltweit wohl heikelsten zeitgeschichtlichen Thema in Erscheinung getreten. Gleichwohl kann man davon ausgehen, daß er sich über das engmaschige Netz aus juristischen, politischen und gesellschaftlichen Fallstricken bewußt war, mit dem er es in seiner Beschäftigung mit den Opferzahlen zu tun bekommen würde. Meyer wird gewußt haben, daß viele Historiker, Journalisten und andere Personen Stelle, Pension und Reputation verloren haben oder sogar Erfahrungen mit dem politischen Strafvollzug machen mußten, weil sie Zweifel an der Größenordnung des Holocaust angemeldet hatten.
Dessen ungeachtet nahm Meyer gleich zu Beginn seines Aufsatzes das Ergebnis vorweg: „Vier Millionen Opfer im nationalsozialistischen Arbeits- und Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau zählte 1945 die sowjetische Untersuchungskommission, ein Produkt der Kriegspropaganda. Lagerkommandant Höß nannte unter Druck drei Millionen und widerrief. … Ein Schlüsseldokument, das Auskunft gibt über die Kapazität der Krematorien von Auschwitz-Birkenau, ist jetzt aufgefunden worden. Zu deren Nutzungsdauer ist zugleich eine Aussage des Lagerkommandanten Höß ans Licht gekommen. In Verbindung mit den vorhandenen, aber weithin unbeachtet gebliebenen Unterlagen über die in dieses Lager Eingelieferten läßt sich nun genauer berechnen, wie viele Menschen in Auschwitz ermordet wurden. Um es gleich vorweg zu nehmen: Eine halbe Million fiel dem Genozid zum Opfer.“ Von diesen, so stellte Meyer im weiteren Verlauf seiner Berechnungen fest, waren 356000 Juden.
Zehn Seiten genügen Meyer, um eine Zusammenfassung der Forschungsdebatte der letzten Jahre zu geben und seine eigene Revision der Opferzahlen darzulegen. Meyer macht deutlich, daß die zunächst kanonische Zahl der Opfer in Auschwitz bereits mehrmals revidiert wurde und zumindest unter Wissenschaftlern seit langem nicht mehr Stand der Forschung ist. Von den ursprünglich gezählten vier Millionen blieben in Lexika zunächst 2,5 Millionen und in Standardwerken (beispielsweise in der Enzyklopädie des Holocaust) über eine Million Opfer übrig, die Gedenktafel in Auschwitz wurde entsprechend geändert. Polnische Auschwitz-Historiker sprachen dann von einer Million Toten, und Forschern wie Jean Claude Pressac und Robert Jan van Pelt gehen heute von 631000 bis 711000 Toten aus, Zahlen, die auch der Leiter des Auschwitz-Museums, Frantiszek Piper, für zutreffend hält. Dennoch sahen sich Pressac und van Pelt gelegentlich mit dem Vorwurf konfrontiert, revisionistisch gearbeitet zu haben.
Ähnliches war für die Auseinandersetzung mit Meyers Text zu erwarten. Jedoch geschah etwas Verblüffendes: Die Medien, sonst für jede Schlagzeile dankbar, prangerten Meyer nicht als neuen Holocaustverharmloser oder ‑leugner an. Auch der Zentralrat der Juden warnte nicht vor Meyer, weil dieser damit die Opfer verhöhnt habe. Und auch der Spiegel sah sich zu keiner „Hausmitteilung“ veranlaßt. Die Umstände dieser Veröffentlichung warfen zahlreiche Fragen auf, die bis heute nicht beantwortet wurden.
(1) Warum beschäftigte sich ausgerechnet Fritjof Meyer mit diesem hochbrisanten Thema?
(2) Warum veröffentlichte Meyer seinen Aufsatz in Osteuropa, einer Zeitschrift also, die sich sonst kaum mit dem Holocaust befaßt und eine Auflage von vielleicht 1000 Exemplaren hat?
(3) Warum publizierte er – wenn es schon eine wissenschaftliche Fachzeitschrift sein sollte – nicht in den für diese Themenstellung zuständigen Vierteljahrsheften für Zeitgeschichte?
(4) Warum bot er seinen Sensationsbefund nicht einfach seinem Hausblatt, dem Spiegel, an, der sich nie scheute, Auschwitz zur Titelgeschichte zu erheben? Die Nummern 3 / 1979 (Vernichtungslager Auschwitz. Häftling Nr. 290 berichtet) und 4 / 1995 (Auschwitz. Die letzten Tage) waren nicht die einzigen Spiegel-Auschwitztitel.
(5) Welche Gründe bewogen den Vorstand der „Deutschen Gesellschaft für Osteuropakunde“, deren Präsidentin Prof. Dr. Rita Süßmuth ist, ein solches Thema ausgerechnet in ihrem Organ zu veröffentlichen? Dieser Aufsatz wird nicht nur von den drei Redakteuren, sondern mit Sicherheit auch jedem der neun anderen Vorstandsmitglieder (sechs Professoren und drei promovierte Hochschuldozenten) vorgelegen haben, und es ist kaum anzunehmen, daß ihnen die Brisanz dieses Themas und die daraus möglicherweise erwachsenden Konsequenzen nicht bekannt gewesen wären.
Nachdem der Artikel veröffentlicht war, hat keine Tages- oder Wochenzeitung, kein Magazin, kein Radiosender und auch kein Fernsehkanal es für Wert befunden, die Ergebnisse Meyers dem Publikum zu präsentieren oder sie in Frage zu stellen. Eine Zeitlang war es sogar schwierig, in Universitätsbibliotheken eine Originalnummer der Mai-Ausgabe von Osteuropa zu erhalten; entweder war das Heft monatelang ausgeliehen oder vorgemerkt oder der Jahrgang befand sich gerade beim Buchbinder. Zu den oben gestellten Fragen stößt also nun eine weitere: Warum hat nicht ein einziger Journalist, nicht einmal ein Wissenschaftler dieses Thema aufgegriffen und zu den umwälzenden Ausführungen Meyers Stellung bezogen?
Sven Felix Kellerhoff, Leitender Redakteur der Welt, bildete eine rühmliche Ausnahme, wenn er in seinem Blatt Meyer vorwurfsvollkopfschüttelnd die Leviten las: Die „unbelehrbaren Auschwitz-Leugner“ warteten doch nur auf eine Bestätigung „des ihrer Ansicht nach gelenkten ‚Medien- und Wissenschaftsapparats‘“. Meyer habe durch seine Ausführungen den falschen Freunden in die Hände gespielt.
Nun steht außer Zweifel, daß der größte moralische Schaden, die fast täglich niedersausende „Auschwitz-Keule“ (Martin Walser), aus der juristischen Offenkundigkeit des singulären Verbrechens „Holocaust“ ihre Legitimation zieht. Die Unvergleichbarkeit des Verbrechens liegt auch in der schieren Zahl der Opfer des versuchten Genozids, und Vorstellungen davon, was an einem Ort geschehen muß, damit vier Millionen Menschen in rascher Folge getötet werden könnten, führen tatsächlich stets ins nicht faßbare Grauen.
Es wäre deshalb nicht unmoralisch, der Freude über die Tatsache Ausdruck zu verleihen, daß 3644000 Juden weniger umgekommen sein könnten als bislang angenommen, und daß damit „die Dimension des Zivilisationsbruchs endlich in den Bereich des Vorstellbaren“ rückte, wie Meyer in seiner Einleitung schreibt. Auch könnte sich Erleichterung darüber verbreiten, daß die Verbrechen der Deutschen ein wesentlich geringeres Ausmaß hatten, als die feindliche Kriegspropaganda Glauben machen wollte. Doch nichts dergleichen geschah.
Auch von Rita Süßmuth, der Präsidentin der „Deutschen Gesellschaft für Osteuropakunde“, kam keine Stellungnahme. Süßmuth muß zwingend von Meyers Aufsatz Kenntnis gehabt haben, und letztlich hätte sie nur die Wahl zwischen zwei Handlungen gehabt: bei einer Ablehnung der Erkenntnisse konsequenterweise eine Anzeige gegen den Autor wegen der Verharmlosung des Holocaust und damit die Einleitung eines staatsanwaltlichen Ermittlungsverfahrens; bei einer Billigung aber die Anregung einer breit geführten Debatte.
Eine prognostizierte Reaktion jedoch trat ein: Der Artikel von Fritjof Meyer wurde in der national-revisionistischen Szene bekannt und machte die Runde. Viele in- und ausländische Historiker, Politologen, Juristen, Chemiker und
Publizisten, die fernab eigentlicher Öffentlichkeit in geächteten Kleinverlagen oder in Samisdat-Auflagen ähnliche Thesen vertreten hatten, waren deswegen mit dem Gesetz in Konflikt gekommen, verurteilt, finanziell ruiniert oder gar inhaftiert worden.
Sie erkannten in Meyer nun einen Kronzeugen des Establishments und verbreiteten seinen Aufsatz in Kopie oder in Nachdrucken. Diese wurden kommentiert und – oft mit Begleitschreiben versehen – Parlamentariern, Hochschullehrern, Journalisten und politischenMultiplikatoren geschickt. Und die von manchen dieser Personen aufgeworfenen Fragen, von denen viele im Internet kursierten,schienen eine Antwort erforderlich zu machen, denn die moralische Entrüstung, die aus ihnenersichtlich wurde, ist alarmierend. Hier nur ein Beispiel eines Lehrers:
„Jahrzehnte hindurch hatte ich das immervollständiger und satanischer werdende Bild des Verbrechens geglaubt, das in der Dimension seinesaußermenschlichen Grauens in der gesamtenMenschheitsgeschichte seinesgleichen nicht findetund für das in den siebziger Jahren sich dasso infernalisch suggestive Wort Holocaust einbürgerte. Im letzten Traum hätte ich nicht für möglich gehalten, daß eines angesichts so beschriebenenGeschehens Lüge auch nur denkbar sei. Ich fühlte mich verpflichtet, unseren Kindern und meinen Schülern dieses Grauen vor dieSeele zu führen, damit sie gewappnet seien, falls jemals Menschen sich anschickten, derartiges zuwiederholen …“.
Solche Reaktionen waren der Grund für den bereits erwähnten Artikel, den Sven Felix Kellerhoff in der Welt am 28. August 2002 unterdem Titel Linksliberaler Kronzeuge für Holocaust-Leugner veröffentlichte. Da der Journalistim Grunde nicht in der Lage war, Meyer sachlichzu widerlegen, beschuldigte er ihn bei allerzugestandenen Wertschätzung, Rechtsextremen und Neonazis mit seiner Argumentation eine Steilvorlage geliefert zu haben und machte im Untertitel daraus den „Fall des angesehenen Journalisten Fritjof Meyer“. Kellerhoff räumte am Ende seiner Philippika ein: Fritjof Meyer ist ein ehrenwerter Mann. Allerdings hat er den rechtsradikalen „Geschichtsrevisionisten“ unbeabsichtigt den kleinen Finger gereicht – und nun vereinnahmen sie ihn. Da hilft es auch nicht, daß sein Aufsatz an sich gut gemeint war.
Am 9. September 2002 erhielt Meyer Gelegenheit für eine kurze Replik in den Leserbriefspalten der Welt. Artig bedankte sich der „gestandene Antifaschist“ bei Kellerhoff, daß dieser seine Ausführungen „im Wesentlichen korrekt wiedergegeben hat“. Außerdem begründet er, warum er David Irving für einen „als erfolgreichen Rechercheur ausgewiesenen Autor“ bezeichnet habe. Die Debatte wurde auf diesem inhaltlich belanglosen Niveau kurioserweise im Internet auf den Seiten des IGDR (Informationsdienst gegen Rechtsextremismus) geführt. Dort bezog Meyer auch Stellung zu einem umfangreichen Aufsatz von Frantiszek Piper, dem Leiter des Auschwitz-Museums, der Meyer in mehreren Punkten unsaubere Recherche und falsche Schlußfolgerungen vorwarf. Meyer ging auf Pipers Argumentation ein und erhärtete seine Position noch einmal.
Kellerhoff blieb ihm auch hier eine staatstragende Replik nicht schuldig. Mit einem Satz, den man in England als klassischen cant bezeichnen würde und der die britische Form derpublizistisch-politischen Heuchelei ist, bedauert er den Wunsch Meyers, einen Schlußstrich unter die Debatte zu ziehen, denn nach seiner festen Überzeugung sei es notwendig, darüber „eine öffentliche Auseinandersetzung“ zu führen. Nun kann man sicher sein, daß Kellerhoff für eine solche Debatte sofort die Seiten der Welt, der Berliner Morgenpost, der Hörzu oder eines der anderen auflagenstarken Organe des Springerkonzerns zur Verfügung stünden, die Notwendigkeit einer Debatte also doch nicht so drängend gewesen sein kann.
Derweil war die Angelegenheit noch auf eine andere, auf die juristische Ebene gezerrt worden. Der Anwalt und ehemalige RAF-Terrorist Horst Mahler hatte die juristische Dimension und die publizistischen Möglichkeiten des Meyer-Artikels erkannt. Folgerichtig stellte er beim Generalstaatsanwalt in Berlin Strafanzeige gegen Fritjof Meyer und Rita Süßmuth wegen Verharmlosung des Holocausts. Pikanterweise stellte er zugleich Selbstanzeige mit der Begründung, er teile die Ansichten und Ergebnisse Meyers und verteile konsequenterweise Kopien des Aufsatzes.
Diesem Beispiel folgten nun mehrere Dutzend Akademiker in der ganzen Bundesrepublik, die Selbstanklage wegen Volksverhetzung erhoben, denn etwas anderes konnte das Kopieren und Verteilen der Meyerschen Ergebnisse nicht darstellen. Was nun geschah, hätte eine zweite Welle der Berichterstattung über den „Fall Fritjof Meyer“ auslösen müssen. Bundesweit erhielten die ehrlichen Selbstanzeiger gleichlautende Schreiben der jeweils zuständigen Staatsanwaltschaft:
Betr.: Ermittlungsverfahren gegen Sie. Tatvorwurf: Volksverhetzung. Sehr geehrter Herr XY, das Ermittlungsverfahren gegen Sie habe ich gemäß § 170 Absatz 2 der Strafprozessordnung (StPO) eingestellt.
Hochachtungsvoll XY Staatsanwalt. Anwalt Mahler und die Selbstankläger hatten natürlich gehofft, vor den Schranken des Gerichts Öffentlichkeit herstellen und so eine Kontroverse erzwingen zu können. Dies ist bisher bundesweit vor keinem Gericht ermöglicht worden. Ein mißtrauischer Beobachter müßte an diesem Punkt eine Weisung oder eine Absprache unterstellen. Jedenfalls läßt die Debatte weiter auf sich warten.