Die These von der Linken, die sich neu erfunden hat, wurde in jüngster Zeit von einem französischen Politikwissenschaftler, Marc Crapez, eindrucksvoll belegt. Crapez behandelte in seinem ersten Buch über die „reaktionäre Linke“ (La gauche réactionnaire. Mythes de la plèbe et de la race dans le sillage des Lumières, Paris: Berg International 1996, 339 S.) vor allem die in Deutschland wenig bekannten „Hébertisten“. Diese Gruppierung stand in der Nachfolge Jacques René Héberts, der während der Revolution zu den Führern der radikalen Jakobiner gehörte, allerdings mit Robespierre konkurrierte. Während Robespierre ein treuer Schüler Rousseaus war, hing Hébert einer materialistischen Philosophie an, die nur von einer Minderheit der Aufklärer akzeptiert wurde. Auf Grund dessen vertrat er einen scharfen Atheismus (gegen die deistischen Ideen Robespierres) und ein zynisches Politikkonzept. Der Machtkampf innerhalb der jakobinischen Partei endete trotzdem zu Gunsten Robespierres, der Hébert 1794 unter der Guillotine sterben ließ. Dessen Einfluß auf die französische Linke des 19. Jahrhunderts blieb allerdings erhalten.
Dieser Einfluß erklärt nach Crapez viele irritierende Züge in den linken Programmen, die nicht etwa auf die Übernahme „rechter“ Vorstellungen zurückzuführen seien, sondern aus dem Fundus der eigenen Denktradition stammten: der ausgeprägte Antisemitismus, der nicht nur antikapitalistisch, sondern auch antichristlich motiviert war und schließlich wissenschaftlich – also rassistisch – argumentierte, dann der Nationalismus und schließlich die Verklärung der Gewalt als politisches Mittel. Vor allem unter den Blanquisten (benannt nach dem Frühsozialisten Auguste Blanqui) genoß man die Beschimpfung der Sozialisten als „Barbaren“ und wendete sie gegen die herrschenden „dekadenten“ Klassen, die die „Kultur“ reklamieren mochten, wenn man selbst doch die ungebrochene „Lebenskraft“ besaß. Wie das römische Reich an seiner Weichlichkeit zugrunde ging, werde der Kapitalismus zugrunde gehen, wie die Germanen über die Grenzen fluteten und die Herrschaft übernahmen, werde das Proletariat sich mit der sozialistischen Revolution erheben und die Macht gewinnen.
Crapez kann nachweisen, daß die Hébertisten in der Zeit des zweiten Kaiserreichs – vom englischen Exil aus, im Untergrund, aber dann auch offen agierend – ihre Stellung stärken konnten. Das erkläre den nachhaltigen Widerstand innerhalb der französischen Linken gegen den (deutschen und jüdischen) Marxismus, aber auch das Auftreten sozialistischer Einzelgänger wie Vacher de Lapouge, der rassische Segregation und Eugenik zu zentralen Anliegen der Linken machen wollte, und die Stärke der linken Antidreyfusards, die einen autoritären und nationalen Sozialismus propagierten.
Für Crapez war die Dreyfus-Affäre der wichtigste Einschnitt in der Geschichte der modernen Linken, eigentlich ihre „Geburtsstunde“ wie er in einem zweiten Buch dargelegt hat (Naissance de la gauche. Essai, Paris: Editions Michalon 1998). In der Auseinandersetzung um Schuld oder Unschuld des Hauptmanns jüdischer Herkunft, dem man Spionage für Deutschland vorwarf, spaltete sich der französische Sozialismus. Gerade auf der äußersten Linken gab es viele, die instinktiv von der Berechtigung der Vorwürfe überzeugt waren: der Haß auf die Juden als Verkörperung des Reichtums, der Haß auf das Bürgertum, dem der Offizier entstammte, und der Haß auf Deutschland motivierten den Anschluß an die Feinde von Dreyfus, die eine Verurteilung forderten und auch dann noch verteidigten, als dessen Unschuld offensichtlich geworden war. Letztlich hat der Sieg der Dreyfusards – des „Republikanismus von Clemenceau“ und des „Sozialismus von Jaurès“ wie Crapez sagt – die alte Linke marginalisiert oder deren „Abgleiten“ nach rechts zur Folge gehabt.
Dieser eigenartige Vorgang ist am Beispiel von Georges Sorel und anderen Meisterdenkern schon häufiger beschrieben worden, Crapez spürt seinen Folgen aber auch an der Basis nach. Er sieht in Frankreich besonders klar bestätigt, was für den romanischen Faschismus allgemein geltend gemacht werden kann: den Ursprung dieser neuartigen Bewegung im Bemühen, dem Sozialismus sein revolutionäres Subjekt zurückzugewinnen. Crapez ergänzt damit die Thesen des israelischen Historikers Zeev Sternhell, die mittlerweile auch in Deutschland eine gewisse Bekanntheit erlangt haben. Sternhells Untersuchungen zur Vor- und Frühgeschichte des Faschismus postulierten allerdings eine Konvergenz der enttäuschten Rechten und Linken, während Crapez den Akzent eindeutig auf die Linke setzt. Er betont ausdrücklich das Scheitern des Versuchs, die Rechte (in Gestalt der Action Française) neu zu gründen, so daß die innenpolitische Entwicklung der Dritten, der Vierten und der Fünften Republik dahin tendierte, alle Konflikte innerhalb des jakobinischen Lagers auszutragen: zwischen der kommunistischen, der sozialdemokratischen und der nationalistischen Linken. Sie alle stützen sich auf die Massen, müssen deshalb ein tendenziell egalitäres Programm vertreten, unterscheiden sich aber hinsichtlich der Grenzen von Inklusion und Exklusion. Wenn in dem Zusammenhang die nationalistische Linke – etwa der Front National – als „rechts“ apostrophiert wird, handelt es sich nur um eine Maskerade: Auch die Weltanschauung Le Pens wurzelt in den „Ideen von 1789“.