Verwerfungen gekennzeichnet: Die Innenpolitik ist reduziert auf das traurige Schauspiel einer losen Folge von Offenbarungseiden, die allesamt nur die Frage aufwerfen, wer das trudelnde Land abfangen und stabilisieren könnte. Außenpolitisch findet sich Deutschland nach seiner sentimentalen und machtlosen Aufwallung in einer letztendlich vereinzelten und damit schärfer konturierten Position wieder und hat ausschließlich jenseits der Machtzentren neue Freunde gefunden.
Besonders die Demographie-Diskussion der letzten Monate hat mehr oder weniger direkt auf einen seltsam unmodernen Zusammenhang der in diesem Land versammelten Individuen verwiesen und selbst eingefleischten Kinderlosen die Fragen nach dem „Wir?“, „Woher?“ und „Wohin?“ in Erinnerung gerufen.
Es könnte diese Rückkehr banalen Wissens den Beginn einer Selbstfindung und – ins Kräftige gewendet – eines Selbstbewußtseins markieren: Die Tatsachen sind so mächtig geworden, daß bestimmte Fragen mehr als nur auf der Zunge liegen. Und tatsächlich geschieht das eine oder andere: Von Bonn aus – dies bereits wieder symbolisch bedeutend und verhängnisvoll – hat sich ein „BürgerKonvent“ mit millionenschweren Anzeigen zu Wort gemeldet, der Proteste kanalisiert und noch einmal der „Mitte“ der Gesellschaft eine Frischzellenkur verabreichen möchte.
Zu allem Überfluß haben sich dann noch europaweit Intellektuelle um den Staatsphilosophen der Bundesrepublik, Jürgen Habermas, geschart, um aus der durch den Irakkrieg provozierten Neuauflage der Uneinigkeit Europas ein deutliches Signal der Einigkeit herauszudestillieren. Bemüht werden in einem FAZ-Artikel, den Habermas und sein französicher Kollege Jacques Derrida unterzeichnet haben, alte Hüte der Diskussion über dieses völlig uninspirierte, blutleere Europakonstrukt, das als Beamtenüberbau trotz der Habermasschen Appelle keine Integrationskraft aufbringen wird.
Denn wie immer läuft alles Argumentieren, Räsonieren, alles Hinterfragen, Entwerfen und Betonen auf den Rückzug in die immer offene Fluchtburg einer moralischen Überlegenheit hinaus. Von dort läßt sich der gute Wille stets bekunden, und in der Vergangenheit hat dieses Bekunden oft gereicht, um aus der Flucht vor den besseren Argumenten der Gegner die Verweigerungsgeste einer moralischen Instanz zu machen. Seltsam ist für diesmal, daß in der Wochenzeitung Die Zeit Jan Ross eine Antwort auf Habermas verfaßte, die in der Aussage gipfelt: „Europa muß mehr aufbieten als überlegene Moral.“ Habermas habe die heißen Eisen nicht angepackt, sondern viel Wirbel um eine Position gemacht, deren Fundament bei näherem Hinsehen nicht solide erscheine.
Solches gilt auch – und noch umfassender – für Gerhard Schröder. Seine Aufwallungen und moralischen Höhenflüge der letzten sechs Monate sind noch deutlich in Erinnerung. Seine Position hätte die Aufstellung einer Interventionsarmee gegen die USA nahegelegt. Aber das vermochte Schröder nicht und so ist seine moralische Position einem Politiker nicht angemessen. Sie ist unpolitisch, weil sie unwirksam ist, irrelevant, konsequenzlos, ehrenwert gerade noch für einzelne, verzweifelte Bürger, lächerlich für einen Bundeskanzler.
Das Unwirkliche des Verhaltens von Schröder und der Intellektualitäten von Habermas rührt aus einer nichtgestellten Frage: Es ist die Frage nach der deutschen Nation und nach den Grundbedingungen einer Identität, die den Einzelnen für das Ganze zu mobilisieren imstande wäre. Und daß es darum geht, den Einzelnen zur Kraftanstrengung für ein festgefahrenes System zu treiben, ist so ziemlich das einzige, was aus den Durchhalteparolen der letzten Monate so richtig haften blieb. Der Trümmerfrauenappell des „BürgerKonvents“ legt eindrucksvoll Zeugnis ab von der geänderten Bildsprache angesichts eines kollabierenden Sozialsystems. Und von hier aus ist auch die Verschiebung der Diskussion in Richtung Europa durch Habermas zu interpretieren. Habermas ist klug genug, um zu sehen, daß ganz allmählich alle Diskussionen um die Nation zu kreisen beginnen, anders ausgedrückt: daß Solidarität und Gemeinsamkeit als Grundforderung einen Rahmen brauchen, der den Sinn eines Zusammenstehens eindeutig und nachvollziehbar vermitteln kann.
Die Nation als Schicksalsgemeinschaft zu verstehen, setzt voraus, daß ein „Wir“ im Bewußtsein jedes Einzelnen verankert ist. Daß es die Bundesrepublik Deutschland insgesamt versäumt hat, dieses „Wir“ zu bestimmen und vom „Nicht-Wir“ abzugrenzen, liegt am Einfluß von Leuten wie Habermas. Seine Experimentierfreude und Risikobereitschaft verblüffen immer wieder, wobei die Folgen dadurch schon gemildert sind, daß das Habermassche Haus am Starnberger See längst gebaut ist, und er soziale Zerrüttungen nicht zu Gesicht bekommen wird. Aus solchermaßen individuell gesicherter Zukunft heraus klingt die Forderung seltsam, ungesicherte Zukunft müsse auch ohne Identitätskorsett ertragen werden können.
Denn „Europa“ wird auf absehbare Zeit keine Identität stiften können, und deshalb liegt nichts näher, als auf die Nation zu verweisen und die alte Lehre der Schumacher-SPD ernst zu nehmen: daß nämlich eine Vernachlässigung des Nationalen die Loyalität der Massen in dem Moment kostet, in dem abstrakte Problemlösungen nicht mehr greifen.
Für Gerhard Schröder lag es in diesem Jahr schon einmal nahe, die Frage nach der Nation zu stellen: Denn noch immer ist die Nation das einzige wirklich handlungsfähige Subjekt der Außenpolitik. Alle internationalen Gremien und Vereinigungen basieren auf einzelnen Nationen. Auch der amerikanische Alleingang basiert auf der Nation, auf einer Nation allerdings, die mit mächtigen Erzählungen, Bildern und Botschaften dem Individuum den Tod als äußerste Konsequenz nationaler Politik aufzubürden imstande ist. Das ist es: In ihrer Bereitschaft, Konsequenzen zu tragen, ist die Geschlossenheit der amerikanischen Nation phänomenal.
Gerhard Schröder hat seine Nation zu Alleingängen verführt, ohne daß sie wüßte, wozu sie in der Lage und was sie zu ertragen imstande ist, und ohne daß der Kanzler selbst es wüßte. Verantwortungslosigkeit ist wohl eine der Lehren von Habermas, der mit seiner Europa-Debatte einmal mehr bewies, daß er den Menschen nicht als Menschen erträgt und deshalb die notwendige anthropolgische Kehre nicht vollzieht: weg von der Überforderung, hin zur mobilisierenden Eindeutigkeit der Identität.