Mattheuer wurde 1927 geboren, lernte als Lithograph, erlebte Krieg und Gefangenschaft. Ab 1946 besuchte er die Kunstgewerbeschule in Leipzig und wechselte an die Leipziger »Hochschule für Graphik und Buchkunst«. Dort war er bis 1974 künstlerisch beheimatet. Seit 1965 lehrte Mattheuer als Professor. Zusammen mit den ebenfalls dort tätigen Malern Werner Tübke und Bernhard Heisig formierte er die zeitkritische Bewegung der bildenden Kunst – die »Leipziger Schule«. Die stille Abkehr vom parteilich vorgeschriebenen Kunstempfinden war Thema zahlloser Auseinandersetzungen in Wort und Bild; eine immerwährende »Gratwanderung zwischen Ja und Nein«, wie es Mattheuer selbst nannte.
Als sich die DDR 1949 selbst ausrief, war Mattheuer gerade 22 Jahre alt. Drei Jahre zuvor hatte er seine spätere Frau Ursula kennengelernt, mit der er bis zu seinem Tod zusammenlebte. Mattheuer wuchs also von Anbeginn in das sich entfaltende Problemgeflecht der DDR hinein, sah ihren Aufstieg und erkannte früh die statikgefährdenden Lufteinschlüsse im Fundament dieser Gesellschaft.
Vermittelten die ersten Aufschwungsjahre des entstehenden »Arbeiter- und Bauernstaates« mit ihrem bescheidenen Wohlstand tatsächlich den Eindruck einer lebensfähigen Alternative zum Kapitalismus, brachten spätestens die 60er Jahre Stagnation und Resignation. Auch die Künstler der »Leipziger Schule« blieben von dieser Entwicklung nicht unberührt. Allen voran zeichnete sich Mattheuer stets als gegenwartskritischer Maler aus. Die von der zunehmenden Sinnlosigkeit seines Tuns hervorgerufene »Flucht des Sisyphos«, klar den Mythos der Zeit entlarvend, ist heute ebenso berühmt wie sein Werk zum biblischen Brudermordmotiv. Immer wieder spielten für ihn auch allgemeine soziale oder ökologische Fragen eine entscheidende Rolle. In seiner »Bratsker Landschaft« (1967) sieht man scheinbar fröhliche Frauen auf einem Fernwärmerohr tanzen. Umrahmt wird die heitere Szene von einer zerstörten und erodierenden Landschaft. Der Himmel teilt sich, das Dämmerlicht des herannahenden Abends läßt einen unguten Ausgang der Szene erahnen.
Die 70er Jahre wurden seine zeitkritischste Epoche. Werke wie »Ein Blitz aus heiterem Himmel «, »Requiem Victor Jara«, »Hinter den sieben Bergen« und »Die Ausgezeichnete« entstanden zwischen 1970 und 1975. Doch: Keines dieser offenkundig entlarvenden Bilder wurde von den wichtigen DDR-Kunstausstellungen ausgeschlossen. 1973 erhielt Mattheuer den Kunstpreis der DDR, ein Jahr später sogar den Nationalpreis II. Klasse. Sein Hineinwachsen in das Gesellschaftsexperiment DDR bedingte auch die von Anbeginn seines Schaffens gültige künstlerische Sprache: den Realismus. Während sich im Westen viele Künstler in künstlerischer Abstraktion artikulierten, waren die Spannungen und Widersprüche innerhalb der Grenze zu stark, zu brennend, als daß sie abstrakt hätten zutage gefördert werden können. Der Wert des Realismus war in der Kunst der DDR ohnehin nicht wegzudenken. Allein die Bezeichnung »Sozialistischer Realismus« macht deutlich, wo die Prämisse lag.
Auch die Künstler der »Leipziger Schule« werden von der BRD-Kunstlehre aufgrund ihrer zeitlich-lokalen Einordnung sowie einem ähnlichen Malduktus gern als dem »Sozialistischen Realismus« zugehörig eingestuft. Was heute ein Problem in der Wahrnehmung ist, war es auch zu Zeiten Mattheuers. Genau darin lag die List, das Potential. Der formale Realismus einte, was inhaltlich nicht vereinbar war: ein Grund für Wolfgang Mattheuers Sonderrolle innerhalb des Regimes.
Mattheuer war es außerdem gelungen, auch im Westen Gehör zu finden. 1977 konnte er gemeinsam mit Heisig und Tübke an der documenta 6 in Kassel teilnehmen und gleichzeitig im Hamburger Kunstverein ausstellen. Die sozialistischen Funktionäre waren sich seiner Bedeutung bewußt. Mattheuer eroberte sich mit Können und Besonnenheit einen Freiraum, von dem viele DDR-Künstler nur träumen konnten.
Kein anderer Künstler und Professor der »Leipziger Schule« wagte auf zeitkritischem Wege so viel wie Mattheuer. Ein beispielhaft kritisches Werk ist »Horizont«(1970). Das Ölgemälde offenbart dem Betrachter eine düstere Szenerie. Wie häufig bei Mattheuer spielt auch diese Allegorie vor dem Hintergrund einer stilisierten Landschaft. Diese steht symbolisch für sein Land. Alle oben genannten Schlüsselwerke bedienen sich dieses Querverweises auf den ganz konkreten Heimatboden. Weder »Kain« noch »Sisyphos« oder eine der vielen Prometheus-Adaptionen spielen im luftleeren Raum.
In »Horizont« finden wir das breite Querformat in klarer horizontaler Gliederung geordnet. Dem hellen, farblich optimistisch gestimmten oberen Viertel steht eine den Hauptteil des Bildes einnehmende blau-graue Farbfläche entgegen. Dieser Abschnitt ist von einer düster-melancholischen Grundstimmung erfaßt und wird nur im oberen Teil der hügelig mit dem Horizont verschmelzenden Fläche von leichten Lichtreflexen erhellt. Eine Bespitzelungsapparatur dominiert die Szene. Wir sehen in einer allegorischen Zusammenführung Täter und Opfer vor dem Hintergrund einer großen aufgeschlagenen Zeitung und dem allgegenwärtigen »lauschenden Ohr«. Diesem Ohr kommt im Werke Mattheuers eine Schlüsselfunktion zu, welche einerseits für die Kritik am Überwachungsstaat, andererseits ebenso für die allgemeingültige Sensibilität des Künstlers steht. Die Hauptszene zeigt einen schlafenden jungen Mann, der, an einen Spitzel gerückt, im Traum spricht. Offenkundig ist ihm der Spitzel bekannt, an den er wie an einen Vater gelehnt sorglos dämmert. Der hält die Augen auf ein Schriftstück geheftet, wohl einen Abhörbericht, während seine andere Hand bereits zum Telefon greift. Beide befinden sich über einem Abgrund, der – von Gewürm erfüllt – sowohl Unruhe als auch Zersetzung symbolisieren könnte. Die gesamte Szene ist in grau-verwaschenen Tönen gehalten: Dämmerung. Obgleich der gutmütig Schlafende nichts von seiner Gefahr bemerkt, könnten doch zumindest die dem Tag zuströmenden Jugendlichen am Horizont von dieser Angelegenheit informiert sein.
Sie sind es! Die gegenseitige Kenntnis zwischen der unbefangenen, vielleicht sogar »staatstreuen « Jugend und dem alptraumhaften Bespitzelungsapparat ist unverkennbar. Jedoch hat eine Veränderung stattgefunden. Die spitzt die Aussage des Werkes zu und verleiht ihm auch den Namen. Die dem »Horizont« zustrebende Jugend kehrt sich vom Betrachter ab. Wenn sie auch nicht direkt in Flucht begriffen ist, so doch zumindest im Fortgehen. Der schmale Horizont verdeutlicht eine Anhöhe, nach deren Überschreiten man die Nacht verläßt und hinab in ein – vielleicht blühendes – Tal schreiten kann. Farblich steht dieser Horizont für Frühling, für Licht, Hoffnung. Das belebte und fröhliche Gestenspiel der dort vielleicht sogar tanzenden Menschen verleiht ihrer Befreiung Ausdruck, während im rückwärtigen Tal das Gewürm weiterarbeitet und zersetzt.
Mattheuers Bildaussage ist insofern klar, als sie den Kontrast zweier Zustände, das Verlassen eines alten und unerträglichen hin zu einem neuen, lebenswerteren Zustand dokumentiert. Es muß sich hierbei nicht exklusiv um eine DDR-Problemstellung handeln. Modernisiert man die Kleidung der Personen, fügt man dem Telefon in Gedanken einen Computer hinzu, ist man beinahe in der Gegenwart.
Wolfgang Mattheuer selbst sah sich nie als »Politkünstler«. Seine herausragende künstlerische Position in ganz Deutschland liegt in zwei Tatsachen begründet: In seiner immerwährenden, dabei formwahrenden und nie allzu speziellen Zeitkritik und seinem rein künstlerischkompositorischen Können. Eine Stigmatisierung als »DDR-Künstler«, und sei es als »kritischer«, ist ungenügend, ja unzutreffend. Mattheuers Bedeutung leitet sich bis heute aus der Vielschichtigkeit und Fülle seines Werkes ab. Der Wunsch nach Freiheit ist heute ebenso aktuell wie die Kritik an Bevormundungen und Bespitzelungen durch den Staat. Eine meisterhafte Farb-Form-Komposition ist heute ebenso wertvoll wie 1960. Leider hat es die BRD bislang nicht verstanden, dieses Werk selbstkritisch zu erschließen.