Er war herausragender Fünfkämpfer und Fechter – aber seine Stimme war zeitlebens die eines Knaben im Stimmbruch. In den ersten Kriegsjahren verbrachte er seine Urlaube als Jagdflieger mit Einsätzen im feindlichen Hinterland. Auf dem Höhepunkt seines Lebens verfügte er über eine Machtfülle, die ihn zum Herrn über Leben und Tod im Deutschen Reich und den besetzten Gebieten machte.
Seine Karriere war ein Senkrechtstart. Mit 27 Jahren war er Chef des Sicherheitsdienstes des Reichsführers SS (SD), mit 32 gebot er über die Geheime Staatspolizei und die deutsche Kripo, zu Kriegsbeginn wurde das Reichssicherheitshauptamt in Berlin, ein gigantischer Sicherheitsapparat, eigens für ihn geschaffen. 1941 schickte ihn Hitler überdies als seinen Statthalter nach Prag. Mit der Politik von Zuckerbrot und Peitsche gelang es ihm, in wenigen Monaten die Vergewaltigung der Tschechen in Verführung und das unruhige Protektorat in eine gut funktionierende deutsche Waffenschmiede umzuwandeln. Auch aus diesem Grund ließ ihn die tschechische Exilregierung durch zwei aus England eingeflogene Agenten im Mai 1942 umbringen.
Neben allen anderen Aufgaben war Heydrich noch die »Endlösung der Judenfrage« anvertraut, die er von der Auswanderung bis zur Deportation und den Anfängen der Massentötung organisierte. Allerdings: Die Zionisten bewunderte er (»Als Nationalsozialist bin ich Zionist«), mit ihren Organisationen arbeitete er teilweise eng zusammen. In ihm wurde wie in keinem anderen der SS-Staat manifest.
Blond, groß, schlank und sportlich entsprach er schon rein äußerlich dem NS-Menschenideal. Hätte der Nationalsozialismus in einen Spiegel geblickt, Reinhard Heydrich hätte herausgeschaut. Doch weit mehr als alle ideologischen Positionen des Nationalsozialismus fesselten Effizienz, Perfektion und Macht Heydrichs Verstand. Das galt auch für die von ihm selbst am meisten akzeptierte Aufgabe – die Bekämpfung echter oder vermeintlicher »Staats- und Reichsfeinde«: des politischen Katholizismus etwa, der Kommunisten, der übrigen »Gegnergruppen« und der herkömmlichen Kriminellen.
Heydrich war kaum von der Bombe der Attentäter getroffen, da hatte sich schon ein Geflecht von Mythen und Legenden gebildet, das ihn bis heute umspinnt. Man hat Heydrich als »Hitlers schlimmsten Henker« bezeichnet. Das ist nicht abwegig, aber es trifft allenfalls die eine Seite der Medaille. In seinem eigenen Selbstverständnis sah sich Heydrich als Beschützer des Reiches, dem Wortsinne nach als »Reichsprotektor« – nicht nur im Hinblick auf seine Rolle als Statthalter in Böhmen und Mähren. Fasziniert von solcher Effizienz und Machtfülle fand – aus der Distanz von fünf Jahrzehnten – der US-Historiker Charles Sydnor für Heydrich ein wertneutrales und dennoch grandioses Bild: »Unter den zahllosen kleinen Sternen des Milchstraßensystems im Universum Hitler war Heydrich die einzige Supernova, die jüngste und – wenn man von Albert Speer absieht – fähigste Persönlichkeit des Dritten Reiches.«
Dabei war nichts von alldem dieser »Supernova« in die Wiege gelegt. Reinhard Tristan Eugen Heydrich war ein Kind der Musik. Am 7. März 1904 wurde er in Halle an der Saale geboren. Er lernte virtuos Violine spielen, besuchte neben dem Gymnasium die Konservatoriumsklassen für Klavier, Cello und Komposition – aber dem ewig musizierenden, zum Katholizismus konvertierten und frömmelnden Elternhaus entfloh der 18-jährige Abiturient in seine erste Karriere: Er wurde Seekadett in der ersten Nachkriegscrew der kleinen Kriegsmarine der Weimarer Republik. Fast zehn Jahre träumte er den Traum vom Admiral. Dann gab die ehrpusselige Marine dem Oberleutnant zur See Reinhard Heydrich wegen einer Mädchengeschichte, auch nach damaligen Ehrbegriffen eine Lappalie, den »schlichten Abschied«. Im April 1931, auf dem Höhepunkt der Weltwirtschaftskrise, war er arbeitslos.
Durch familiäre Beziehungen kam er in Kontakt zu den Nationalsozialisten, von denen er bis dahin keine gute Meinung hatte. Die Bewegung schien ihm politisch wirr, die Parteimiliz, die SA, war ihm zu plebejisch. Doch der Sohn von Heydrichs Patentante, Freiherr Karl von Eberstein, Nationalsozialist der ersten Stunde und bereits »SA-Oberführer von München-Oberbayern«, kannte den Stabschef der SA, Ernst Röhm, und den diesem unterstellten »Reichsführer« der noch jungen SS, Heinrich Himmler. Die SA, machte er Heydrich klar, sei »die Linie«, doch in der SS werde »die Garde« aufgebaut, »eine absolute Elite, in der auch Akademiker, Intellektuelle, Ex-Offiziere und Adlige« gut aufgehoben seien.
So wurde der arbeitslose Heydrich überredet, sich bei Himmler vorzustellen. Der hatte von Hitler gerade den Auftrag erhalten, einen geheimen Nachrichtendienst aufzubauen, dessen Aufgabe es sein sollte, die zahlreichen Agenten der politischen Polizeien Weimars aufzuspüren sowie Strukturen gegnerischer Organisationen und besonders gefährliche Personen »aufzuklären«.
Himmler war beeindruckt von Heydrich. Der Marineoffizier a. D. wirkte auf den »Reichsführer« wie ein Diamant unter Glasperlen, »ein Mann aus einem Guß«. Er repräsentierte das germanische Ideal, wie es Himmler vorschwebte: hochgewachsen, blond, leistungsbereit und leistungsfähig – und er hatte jenen metallischen Zug im Wesen, der als Ausweis besonderer rassischer Begnadung galt. Heydrich nahm die Stelle an und baute – mit wenig Geld und aus kleinsten Anfängen heraus – einen schlagkräftigen Sicherheitsdienst (SD) auf.
Nach 1933, nach der Machtergreifung, wurden die Dimensionen sprunghaft größer: Heydrich blieb Chef des SD und wurde zusätzlich nacheinander Chef der Bayerischen Politischen Polizei, dann der Geheimen Staatspolizei und der gesamten deutschen Kripo, 1939 schließlich des Reichssicherheitshauptamts. Bei der Auswahl seiner engsten Mitarbeiter setzte er von Anfang an auf Fachleute, eine handverlesene Elite. Er warb Einser-Juristen an, »Summa-cum-laude«-Historiker, Volkswirte, Ingenieure und Pädagogen. Eine stramme NS-Gesinnung war ihm weniger wichtig als herausragendes fachliches Können. Was darunter zu verstehen war, verdeutlicht beispielhaft die Figur eines Theologen, dem er die Leitung des Referats zur Überwachung des »Politischen Katholizismus« anvertraute: Dr. Dr. Wilhelm Patin. Ihn ließ Heydrich die klerikale »Gegnergruppe « ausforschen und analysieren, die er für noch gefährlicher hielt als die Kommunisten. Patin, aus »bester Familie«, hatte Theologie studiert und war zum Priester geweiht worden. Nach Zwischenstationen als Religionslehrer und Bayerischer Hofstiftskanonikus hatte er nach dem Dr. theol. noch den Dr. jur. erworben. Er hatte ein Buch über Niceta, den Bischof von Remesiana, und eine Studie über das bayerische Religionsedikt von 1818 veröffentlicht und war Inhaber hoher bayerischer ziviler und kirchlicher Auszeichnungen. Wie er erlagen viele glänzende akademische Erscheinungen und herausragende Kenner ihres Fachs den Verlockungen von Heydrichs SD.
Nur einer nach Wissen, Haltung, Effizienz, Perfektion und Leistung hochselektierten Elite, davon war Heydrich überzeugt, konnte es gelingen, den Bestand des neuen Reiches zu sichern.
In der Forschung ist oft darauf hingewiesen worden, daß die Partei, vielleicht sogar Hitler selbst, mit diesem von Heydrich repräsentierten Verständnis von Herrschaft alsbald Schwierigkeiten bekommen hätte. Die Kluft, die sich zwischen der nüchternen, rationalen, technokratischen Haltung Heydrichs und seiner Intellektuellenriege des SD einerseits und den vielen schwadronierenden, ressentimentgeladenen Parteibonzen auf der anderen Seite, zwischen dem kalten Verstand und den bloßen Vorurteilen, dem blinden Glauben aufgetan hatte, wurde vielleicht nur durch den Ausbruch und Verlauf des Krieges verdeckt und nicht zum geschichtlichen Ereignis. Im geschlossenen Kreis der SS hatte Heydrich nach der Machtergreifung sogar vorgeschlagen, die Partei und mit ihr die SA aufzulösen. Mit der Machtergreifung hätten beide ihre Aufgaben erfüllt. »Jetzt«, so Heydrich, »kommt es doch auf die Sicherung der Macht an und nicht auf dieses ewige Weitermarschieren«.
Die Idee der neuen »Inneren Sicherheit« des neuen Staates wurde als System charakterisiert, »das den politischen Gesundheitszustand des deutschen Volkes überwacht, jedes Krankheitssymptom rechtzeitig erkennt und die Zerstörungskeime – mögen sie durch Selbstzersetzung entstanden oder durch vorsätzliche Vergiftung von außen hineingetragen worden sein – feststellt und mit jedem geeigneten Mittel beseitigt«. In dieser Sicherheitsidee machte sich Heydrich zum Arzt, dessen Schnitte den ganzen Organismus retten mußten. Die »organisatorische Entwicklung und Berührung zwischen Gestapo, Kripo und SD«, so Heydrich selbst, würde »in organischer und logischer Verbindung« immer nur das eine bezwecken: »Völliges Erfassen des Gegners in seinem geistigen Grundelement, totales Erkennen und kriminalistisches Ermitteln seiner organisatorischen Form sowie seiner personellen Besetzung, schließlich planvolles Bekämpfen, Vernichten, Lahmlegen, Ausschalten dieses Gegners mit exekutiver Gewalt. Für uns gilt die Grundidee: Vorbeugung sowohl im politischen wie im kriminalistischen Sektor«.
Aus diesem neuen polizeilichen Denken zog Heydrich den Bogen noch weit über den herkömmlichen Kriminalitätsbegriff hinaus und erklärte ganze Personengruppen zu potentiellen Volksschädlingen. Seine Sicherheitspolizei legte sich die Befugnis zu, sie nach dem Prinzip »Liebender Gärtner jätet Unkraut rechtzeitig aus« von Fall zu Fall in Vorbeugehaft zu nehmen. Eine Rechtsbegründung eigener Art wußte Heydrichs Amt »Recht und Verwaltung« nachzureichen: Nach dessen Rechtsauffassung waren sowohl die Behörden als auch jeder einzelne Volksgenosse Organe desselben Volkes, die nach dem vom Führer gesetzten Volkswillen zusammenzuarbeiten hätten. Auf der einen Seite fungiere aktiv die Polizei, und auf der anderen Seite, so das Amt, »wirkt passiv der Verbrecher mit, der in Vorbeugehaft mitgenommen wird«.
Allerdings: In den kalten Zonen, in die Heydrich im Verlauf seines Aufstiegs, vor allem durch die immer weiter um sich greifende Radikalisierung des Krieges vorgestoßen war, hielt es nicht jeder seiner SD-Intellektuellen lange aus.
Der Gestapo-Justitiar Dr. Werner Best wurde nach Schwierigkeiten mit Heydrich aus dem Amt gedrängt. Best hatte, obwohl glühender Nationalsozialist und SS-Führer noch aus der Kampfzeit, daran festgehalten, daß auch die Erfordernisse der Reichssicherheit die Rechtssicherheit nicht vollends beseitigen durften, daß es eine Grenze gab, an der Heydrichs Perfektionismus haltmachen mußte. Heydrich waren solche moralischen oder rechtsphilosophischen Bedenken fremd. Die ihm gestellten Aufgaben löste er mit jedem geeignet erscheinenden Mittel. Für ihn kam es letztlich nur darauf an, auf welcher Seite des Grabens man stand.
Der »ganze Heydrich« zeigte sich etwa in der Art, wie er an die für alle anderen unlösbar gewordenen Tschechenfrage im Herbst 1941 heranging. Slawenhaß, eine Verachtung der Tschechen, wie sie für manche Nationalisten des Sudetenlandes und der Volksdeutschen Böhmens und Mährens charakteristisch war, war für ihn kein Thema.
Die Worte, mit denen er sich in einer Geheimrede bei den deutschen Amtsträgern in Prag als der neue Reichsprotektor einführte, haben wohl manches eingefleischte NSDAP-Mitglied an seinem Kalender zweifeln lassen: Es interessiere ihn hier nichts anderes, sagte er, als daß dieser Raum befriedet und der deutschen Kriegsindustrie nutzbar gemacht werde. Er werde deswegen mit allen jenen Deutschen und Tschechen zusammenarbeiten, die diesem Ziel förderlich seien, er werde alle jene, auch Deutsche, ausschalten, die dieses Ziel behinderten. Und dann: »Das ist das Wesentliche, daß wir nicht gedankenlos auf dem Tschechen herumknüppeln, sondern daß wir uns wirklich um die Dinge kümmern, die tatsächlich nicht in Ordnung sind.«
Heydrich war stolz auf seine geschichtliche Leistung: Er hatte der Führung des Reiches erstmalig in der Geschichte eine die zersplitternden Ländertraditionen überwindende, mit völlig neuem Sinngehalt erfüllte, reichseinheitliche Polizei und einen umfassenden politischen Sicherheitsdienst herangebildet. Aber immer wieder brachten ihn die Aufgaben, die ihm gerade wegen dieser gelungenen »Reform« der Inneren Sicherheit zugeschoben wurden, in inneren Zwiespalt: Schon seine Rolle bei der Ausschaltung Röhms, des einzigen Mannes, dem er in der Partei Freundschaft entgegengebracht hatte, dann die Massenerschießungen seiner Einsatzgruppen im Ostkrieg und schließlich seine Funktion als der Beauftragte für die »Endlösung« machten ihm mehr als einmal die tiefe Problematik des Verhältnisses von Zweck und Mittel bewußt. Mit bitterem Zynismus beklagte er sich darüber, er sei manchmal nur »der oberste Müllkipper des Deutschen Reiches«. »Merkwürdig ist«, so hat seine Witwe festgestellt, »daß er sich seiner Henkersarbeit völlig bewußt war und daß er vor sich selbst sogar eine Art Rechtfertigung zur Hand hatte«. Er habe in seiner Tätigkeit so etwas Ähnliches wie eine mit großen persönlichen Belastungen verbundene Tat erblickt, die er um der Sache und der Zukunft des Reiches willen vollbringen zu müssen glaubte. »Ich kann mich zur Verfügung stellen«, faßte der mit sich selbst ringende Heydrich manchmal zusammen, »andere können egoistische Ziele verfolgen«.
Oft ist Heydrich dieser Haltung wegen mit Saint-Just, dem Revolutionstribun von 1789, verglichen worden. Von ihm wird berichtet, er habe sein Haupt hoch getragen wie eine Monstranz, als er einen Kopf nach dem anderen forderte. In diesem Sinn war Reinhard Heydrich nicht nur »die fähigste«, sondern vielleicht auch die zerrissenste Persönlichkeit des Dritten Reiches. Erläuternde Parallelen zu dieser Persönlichkeit, so hat das einer der besten Mitarbeiter festgestellt, kann man wohl nur unter den Eroberern früherer Zeiten finden, die nicht aus doktrinären Motiven und nicht um des materiellen Ertrages willen auszogen, sondern deshalb, weil die elementaren Instinkte ihrer unbändigen Vitalität nur im Ausgreifen in die Umwelt und in fortschreitender Vermehrung ihrer Macht ihre Selbstbestätigung finden konnten.