Wer bringt die Verhältnisse zum Tanzen? Zur Frage des Subjekts eines konservativen Politikwechsels

pdf der Druckfassung aus Sezession 12 / Januar 2006

von Jost Bauch

Als Marxist hätte man es leicht: Da der Verlauf der Geschichte deterministisch im historischen Materialismus festgelegt ist, braucht man in der spröden Gegenwart nur die sozialen Gruppen und Klassen aufzuspüren, deren Interessen mit dem Endzustand der angenommenen Geschichtsentwicklung übereinstimmen, und schon hätte man das revolutionäre Subjekt, das ein „objektives Interesse“ an der Veränderung der Welt hat. Als Problem bleibt nur der „subjektive Faktor“: durch eine Avantgarde (also die leninistisch-marxistische Partei) müssen die subjektiven, also irrationalen Interessen in das objektive Interesse transformiert werden.


Als Kon­ser­va­ti­ver hat man es an die­ser Stel­le ungleich schwe­rer. Denn der Kon­ser­va­ti­vis­mus ver­fügt über kein deter­mi­nis­ti­sches Geschichts­bild, die Geschich­te bleibt offen und zufäl­lig. Als Zeu­gen kön­nen wir Carl Schmitt benen­nen, der zustim­mend Dono­so Cor­tés inter­pre­tiert: „Für ihn ist die Welt­ge­schich­te nur das tau­meln­de Dahin­trei­ben eines Schif­fes, mit einer Mann­schaft betrun­ke­ner Matro­sen, die grö­len und tan­zen, bis Gott das Schiff ins Meer stößt, damit wie­der Schwei­gen herrscht.“
Kon­ser­va­ti­ve Den­ker haben der lin­ken Geschichts­me­ta­phy­sik immer einen Vol­un­t­a­ris­mus und Dezi­sio­nis­mus ent­ge­gen­ge­setzt. Die Geschich­te ver­läuft nicht line­ar, ist nicht durch mate­ri­el­le Figu­ra­tio­nen von Pro­duk­tiv­kräf­ten und Pro­duk­ti­ons­ver­hält­nis­sen oder ande­re Ant­ago­nis­men, die dia­lek­tisch zu ihrer Auf­he­bung trei­ben, vor­her­be­stimmt, Geschich­te ist per se ris­kant und des­we­gen ist der Kon­ser­va­ti­vis­mus behut­sam im Aus­grei­fen in die Zukunft. Das Prä gehört zunächst ein­mal den Zustän­den, so wie sie sind. Da wir also zunächst nicht wis­sen kön­nen, in wel­che Rich­tung die Rei­se geht, ist es für uns Kon­ser­va­ti­ve ungleich schwe­rer als für alle Fort­schritts­my­tho­lo­gen, ein Sub­jekt aus­zu­ma­chen, das eine Ent­wick­lung, auch wenn sie noch so rück­wärts­ge­wandt ist, trägt.
Die Fra­ge nach einem kon­ser­va­ti­ven Sub­jekt, das im Sin­ne des Kon­ser­va­ti­vis­mus die Zukunft gestal­tet, ist eigent­lich inner­halb des kon­ser­va­ti­ven Para­dig­mas gar nicht zu stel­len, da die Annah­me eines Sub­jekts, das wie auch immer auf die Zukunft Ein­fluß nimmt, bereits gegen Grund­axio­me des kon­ser­va­ti­ven Den­kens ver­stößt. In der Fra­ge nach dem Sub­jekt wird bereits Gestal­tungs­mög­lich­keit und Hand­lungs­be­reit­schaft im Blick auf die Zukunft unter­stellt. Prin­zi­pi­en, die nicht ohne wei­te­res mit dem kon­ser­va­ti­ven Den­ken ver­ein­bar sind.

Der aka­de­mi­schen Fra­ge, ob ein Kon­ser­va­ti­vis­mus, der zur sozia­len Bewe­gung wird, noch Kon­ser­va­ti­vis­mus ist, soll hier aber nicht wei­ter nach­ge­gan­gen wer­den. Viel­mehr soll es um die sozio­lo­gisch hand­fes­te Fra­ge gehen, ob es sozia­le Grup­pen, Bewe­gun­gen, Par­tei­un­gen, sozia­le Schich­ten gibt, die eine zuneh­men­de Affi­ni­tät zum Kon­ser­va­ti­vis­mus auf­wei­sen und damit zum „sozia­len Sub­strat“ eines nach­hal­ti­gen kon­ser­va­ti­ven Poli­tik­wech­sels in Deutsch­land wer­den kön­nen. Um die­se Fra­ge zu beant­wor­ten, müs­sen drei Din­ge geklärt werden:

1. Was ist Kon­ser­va­ti­vis­mus in unse­rer Zeit? Was sind sei­ne Grund­la­gen und wel­che Form­be­stim­mun­gen muß er anneh­men, um zu einer sozia­len und poli­ti­schen Bewe­gung zu werden?
2. Wohin geht die gesell­schaft­li­che Ent­wick­lung? Wo gibt es auf sozio­struk­tu­rel­ler Ebe­ne Anknüp­fungs­punk­te für einen kon­ser­va­ti­ven Men­ta­li­täts­wan­del zumin­dest von Tei­len der Bevölkerung?
3. Wel­che Teil­men­ge der Bevöl­ke­rung ist für einen sol­chen Men­ta­li­täts­wech­sel prä­de­sti­niert, wel­che gesell­schaft­li­che Situa­ti­on muß ein­tre­ten, damit ein gesell­schaft­li­ches Sub­jekt eines kon­ser­va­ti­ven Poli­tik­wech­sels auf der poli­ti­schen Büh­ne erscheint?

Zum ers­ten: Auf die Fra­ge, was man brau­che, um eine Revo­lu­ti­on durch­zu­füh­ren, hat Lenin geant­wor­tet: Eine regu­la­ti­ve Idee, die die Mas­sen ergrei­fen kann und Orga­ni­sa­ti­on, Orga­ni­sa­ti­on, Orga­ni­sa­ti­on! Mit Ver­laub: Mit bei­den Kom­po­nen­ten steht es im kon­ser­va­ti­ven Lager nicht gut! Bereits in den sieb­zi­ger Jah­ren hat der Münch­ner Poli­to­lo­ge Man­fred Hät­tich for­mu­liert: „Das kon­ser­va­ti­ve Den­ken und die kon­ser­va­ti­ve Grund­stim­mung ver­mö­gen in der Regel kei­ne Mas­sen zu bewe­gen, weil sie kei­ne zün­den­den und sen­sa­tio­nel­len Ideen in die sozia­le Kom­mu­ni­ka­ti­on ein­brin­gen. Mobi­li­sie­rung in der Gesell­schaft geschieht in der Regel nicht durch Kon­ser­va­ti­ve. Sen­sa­tio­nell ist nicht das Bestehen­de und Her­ge­brach­te, son­dern das Neue und Umstürzlerische“.
So gibt es auch kei­ne eigent­li­che „kon­ser­va­ti­ve Theo­rie“. Das Bestehen­de legi­ti­miert sich durch sein Dasein, wohin­ge­gen die Pro­gres­si­ven eine Theo­rie brau­chen, damit die Idee zur Wirk­lich­keit wer­den kann. Geht man in heu­ti­ger Zeit auf die Suche nach einer kon­ser­va­ti­ven Theo­rie, so fin­det man allent­hal­ben mehr oder weni­ger kom­pa­ti­ble Theo­riefrag­men­te, begriff­lich nicht ent­fal­te­te Wer­te­be­kun­dun­gen, sub­jek­tiv begrün­de­te Men­schen- und Gesell­schafts­bil­der. Allei­ne die sozio­lo­gi­sche Anthro­po­lo­gie von Arnold Geh­len macht Hoff­nung, die wie­der eine gewis­se Renais­sance erlebt.
Gleich­wohl ist eine kon­ser­va­ti­ve Mobi­li­sie­rung der Mas­sen mög­lich! Der sei­ner Natur nach pas­si­ve Kon­ser­va­ti­vis­mus wird aktua­li­siert und mobi­li­siert in der Abwehr revo­lu­tio­nä­rer Neue­run­gen! Kon­ser­va­ti­vis­mus ist reak­tiv, er ist immer Gegen­be­we­gung. Die Antriebs­ur­sa­che kommt von außen, es gilt, Schä­den zu ver­mei­den. Da der Kon­ser­va­ti­vis­mus grund­sätz­lich die Ver­hält­nis­se nicht ver­än­dern will, braucht er auch kei­ne sich selbst tra­gen­de sozia­le Bewe­gung, die kon­ti­nu­ier­lich die Ver­hält­nis­se bis zur Iso­mor­phie von Idee und Wirk­lich­keit ver­än­dert. Der Kon­ser­va­ti­vis­mus wird aktiv in der Reak­ti­on auf sol­che Bewe­gun­gen. Der Kon­ser­va­ti­ve ist im wahrs­ten Sin­ne des Wor­tes ein „Kon­ter-Revo­lu­tio­när“.

Ich darf mich wei­ter auf Hät­tich bezie­hen, wenn ich vier Grund­axio­me aus­ma­che, auf die die kon­ser­va­ti­ve Welt­an­schau­ung, egal wel­cher Cou­leur im ein­zel­nen, fußt:

1. Der Mensch stellt sich nicht aus­schließ­lich als Wesen auto­no­mer Ratio­na­li­tät dar. Der Mensch ist in sei­ner Unzu­läng­lich­keit und Gebro­chen­heit in eine gött­lich gestif­te­te oder geschicht­lich gewor­de­ne, nicht unmit­tel­bar ver­füg­ba­re Ord­nung eingegliedert.
2. In der Geschich­te gibt es kei­ne Ten­denz zur Ver­voll­komm­nung. In der Geschich­te gibt es kein Fort­schritts­ge­setz, Geschich­te ist im wesent­li­chen ein Tre­ten auf der Stel­le, und was geschicht­lich tra­diert ist, hat zunächst schon dadurch Vorrang.
3. Aus der posi­ti­ven und posi­ti­vis­ti­schen Auf­fas­sung zur Geschich­te ergibt sich eine Respek­tie­rung der Plu­ra­li­tät und Man­nig­fal­tig­keit aller Lebens­er­schei­nun­gen. Der Kon­ser­va­ti­vis­mus hat eine Abnei­gung gegen uni­for­mie­ren­de Ten­den­zen und Pla­nun­gen im gesell­schaft­li­chen Leben.
4. Der Mensch als „instinkt­ver­un­si­cher­tes Män­gel­we­sen“ (Arnold Geh­len) bedarf der Außen­stüt­zung sei­nes Ver­hal­tens durch sta­bi­le Ord­nun­gen, Insti­tu­tio­nen und Kon­ven­tio­nen. Ohne insti­tu­tio­nel­le Außen­stüt­zen ver­liert der Mensch den kul­tu­rel­len Boden unter den Füßen, er primitivisiert.

Aus die­sen Grund­axio­men lei­tet Hät­tich eine Ethik des Kon­ser­va­ti­vis­mus ab, die aus Ord­nung, Gleich­maß, Wach­sen­las­sen, Dis­zi­pli­nie­rung der Lei­den­schaf­ten besteht. Dabei wird durch­aus zuge­stan­den, daß es im gesell­schaft­li­chen und poli­ti­schen Leben Ver­än­de­run­gen und Evo­lu­tio­nen gibt, aller­dings soll­ten die­se orga­nisch aus der Sache selbst wach­sen und nicht arti­fi­zi­ell durch Ein­grif­fe von außen, durch Inter­ven­tio­nen beschleu­nigt sein. Die Fort­schritts­eu­pho­ri­ker glau­ben an die Mög­lich­keit der Ver­han­del­bar­keit aller Lebens­be­zü­ge. Seit der Auf­klä­rung herrscht die Idee, daß das gesell­schaft­li­che Zusam­men­le­ben auf einem Kon­trakt beruht. Der fort­schritt­li­che Mensch schwingt sich auf zum Demi­ur­gen der Ord­nung wenn er alle Insti­tu­tio­nen, Gebräu­che, Tra­di­tio­nen, Kon­ven­tio­nen unter das Kon­tin­genz­ge­bot stellt: Alles ist mög­lich, wenn es denn nur von gesell­schafts­re­le­van­ten Akteu­ren gewollt wird. Und so kön­nen wir seit den berühm­ten 68er Jah­ren ein gewal­ti­ges Gesell­schafts­um­ge­stal­tungs­pro­gramm beob­ach­ten, des­sen ver­hee­ren­de Aus­wir­kun­gen wir heu­te auf allen Ebe­nen spüren.

Die­ses Pro­gramm zur Umge­stal­tung der gesell­schaft­li­chen Ord­nung ist schon sehr weit fort­ge­schrit­ten, was sich im wesent­li­chen an fünf Sach­ver­hal­ten zeigt:

1. In der Zer­schla­gung von Nati­on und Staat und der Her­vor­brin­gung einer mul­ti­kul­tu­rel­len Gesellschaft.
2. In der Ent­funk­tio­na­li­sie­rung der Familie.
3. In der Öff­nung der Märk­te ohne gebüh­ren­de Berück­sich­ti­gung natio­na­ler oder regio­na­ler Inter­es­sen mit der Fol­ge der Deindus­tria­li­sie­rung klas­si­scher Industrieländer.
4. In der Zer­schla­gung der klas­si­schen Bil­dungs- und Erzie­hungs­ein­rich­tun­gen durch Per­sön­lich­keits­ma­nage­ment und peo­p­le pro­ces­sing, das Bil­dungs- und Leis­tungs­be­reit­schaft durch eine Selbst­ver­wirk­li­chungs- und Betrof­fen­heits­se­man­tik erset­zen will.
5. In der Umwer­tung der tra­dier­ten Wer­te: Moral und Reli­gi­on wer­den ent­funk­tio­na­li­siert und in die Selbst­ver­füg­bar­keit einer gesell­schaft­lich geför­der­ten Bas­tel- und patch-work-Iden­ti­tät gestellt.

Ich sage nicht, daß die­se fünf Punk­te in ihrer Erschei­nungs­form von den Gesell­schafts­ver­än­de­rern Punkt für Punkt so geplant und gewollt sind, ich sage nur, daß sie (auch nicht­ge­woll­tes) Resul­tat ihres Wir­kens sind. Natür­lich sind Ver­än­de­run­gen die­ses Aus­ma­ßes nicht durch eine gesell­schaft­li­che Teil­grup­pe – und sei sie noch so bedeu­tend – gesamt­ge­sell­schaft­lich durch­setz­bar. Aber mit dem Marsch durch die Insti­tu­tio­nen ist die­ses 5‑Punk­te-Pro­gramm in Deutsch­land – und wie wir sehen wer­den auch in den USA – zum Groß­teil „Staats­pro­gramm“ und Staats­auf­ga­be geworden.
Paul Edward Gott­fried hat in sei­nem auf­se­hen­er­re­gen­den Buch Mul­ti­kul­tu­ra­lis­mus und die Poli­tik der Schuld auf­ge­zeigt, wie sich der Staat in den letz­ten Jahr­zehn­ten vom rechts­staat­lich ver­an­ker­ten Ver­fas­sungs­staat zum, wie er es nennt, „the­ra­peu­ti­schen Staat“ gewan­delt hat.
Aus­gangs­punkt des the­ra­peu­ti­schen Staa­tes ist eine Auf­fas­sung von Gesell­schaft, die als schuld­be­la­den gilt. Die Gesell­schaft ist durch­wo­ben von fort­schritts­feind­li­chen, into­le­ran­ten, das Zusam­men­le­ben erschwe­ren­den Vor­stel­lun­gen, Ein­stel­lun­gen und Prak­ti­ken, die aus einer „unbe­wäl­tig­ten Ver­gan­gen­heit“ her­rüh­ren und durch den the­ra­peu­ti­schen Zugriff des Staa­tes neu­tra­li­siert und eli­mi­niert wer­den müs­sen. In Deutsch­land ist der Ansatz­punkt des the­ra­peu­ti­schen Zugriffs auf die Gesell­schaft klar: Es ist die unbe­wäl­tig­te Ver­gan­gen­heit des Natio­nal­so­zia­lis­mus und die ver­meint­li­che Faschis­mus­an­fäl­lig­keit des Deut­schen, die eine Dau­er­the­ra­pie durch staat­li­che und para­staat­li­che Instan­zen erfor­der­lich macht.
Inter­es­sant ist nun, daß die­ses uns wohl­be­kann­te Denk­mus­ter in ande­rer inhalt­li­cher Aus­rich­tung auch für die USA gilt. Die wei­ße (Noch-) Mehr­heit gilt als zumin­dest latent ras­sis­tisch, sexis­tisch, homo­phob, vor­ur­teils­be­la­den in Bezug auf Min­der­hei­ten und bedarf der the­ra­peu­ti­schen Dau­er­inter­ven­ti­on, um auf den Weg der Beja­hung einer offe­nen, mul­ti­kul­tu­rel­len, plu­ra­lis­ti­schen, nicht-dis­kri­mi­nie­ren­den Gesell­schaft gebracht zu wer­den. Kurz: eine zumin­dest latent böse Gesell­schaft muß durch staat­li­che Dau­er­the­ra­pie zu einer guten Gesell­schaft trans­for­miert werden.
Nach Gott­fried hat die post­kom­mu­nis­ti­sche Lin­ke längst das Ziel der Ver­ge­sell­schaf­tung der Pro­duk­ti­ons­mit­tel fal­len­ge­las­sen, um sich ganz der Logik des the­ra­peu­ti­schen Staa­tes zu wid­men, nicht die Natio­na­li­sie­rung der Schwer­indus­trie als For­de­rung des tra­di­tio­nel­len Sozia­lis­mus steht auf ihrer Fah­ne, son­dern poli­ti­cal cor­rect­ness und wohl­fahrts­staat­li­che Dau­er­be­treu­ung von sozi­al Benachteiligten.

Für den Kon­ser­va­ti­vis­mus sind der­ar­ti­ge Vor­stel­lun­gen kaum erträg­lich. Und wenn wir den moder­nen Kon­ser­va­ti­vis­mus inhalt­lich typi­sie­ren wol­len, so fin­den wir bei allen gro­ßen inhalt­li­chen Dif­fe­ren­zen der ein­zel­nen Frak­tio­nen – von einem reli­gi­ös bis hin zu einem natio­nal moti­vier­ten Kon­ser­va­ti­vis­mus – in der Beur­tei­lung der fünf oben genann­ten Punk­te der Gesell­schafts­ver­än­de­rung einen Mini­mal­kon­sens. Die­ser besteht

1. in der Ableh­nung des mul­ti­kul­tu­rel­len und mul­ti­eth­ni­schen Gesell­schafts­kon­zepts. Das Pro­jekt ist ins­ge­samt geschei­tert. Mul­ti­kul­tur als Bevöl­ke­rungs­po­li­tik in Pau­schal­tou­ris­ten­per­spek­ti­ve erweist sich als demo­gra­phi­sche, öko­no­mi­sche, poli­ti­sche und kul­tu­rel­le Kata­stro­phe für die Ein­wan­de­rungs­län­der. Soweit der kon­ser­va­ti­ve Kon­sens. In der Fra­ge der Reak­ti­on auf die­se Her­aus­for­de­rung herrscht gro­ße Unei­nig­keit: Die Emp­feh­lun­gen rei­chen von grö­ße­ren Rück­füh­rungs­ak­tio­nen bis hin zu stär­ke­rer Integration;
2. in der For­de­rung nach einer völ­lig ande­ren Fami­li­en­po­li­tik. Fami­lie (dabei ist gemeint: Frau, Mann, Kind) muß wie­der in das Zen­trum der Gesell­schafts- und Sozi­al­po­li­tik gestellt wer­den. Die eta­blier­ten Par­tei­en (bis hin­ein in Tei­le der CDU) haben die Fami­lie als eine Art Ad-hoc-Ver­ei­ni­gung ange­se­hen, aus der der Mann belie­big ver­trie­ben wer­den darf, wäh­rend die Frau außer­fa­mi­liä­re Kar­rie­re­per­spek­ti­ven zum Ver­las­sen locken, wäh­rend das Kind mög­lichst bald nach der Geburt in Kin­der­hor­te und ähn­li­che Ein­rich­tun­gen abge­stellt wer­den soll. Gegen die­se desas­trö­se Poli­tik ist wie­der die För­de­rung der hete­ro­se­xu­el­len, man wagt es kaum zu sagen, „Nor­mal­fa­mi­lie“ ein­zu­for­dern, in der die Mut­ter­schaft der Frau zumin­dest ein funk­tio­na­les Äqui­va­lent zur mög­li­chen Kar­rie­re darstellt.
3. Kon­ser­va­ti­ver Kon­sens besteht in der Fra­ge, daß zum Woh­le der ein­hei­mi­schen Bevöl­ke­rung mit dem Pro­zeß der Glo­ba­li­sie­rung zumin­dest lis­tig und stra­te­gisch umzu­ge­hen ist. Glo­ba­li­sie­rung ist kein Natur­ge­setz und man muß die­ses Land nicht schutz­los dem Heu­schre­cken­fraß preisgeben.
4. Wir brau­chen drin­gend eine Keh­re in der Bil­dungs­po­li­tik. Der Spaß- und Erleb­nis­päd­ago­gik ist eine defi­ni­ti­ve Absa­ge zu ertei­len. Man muß der Wahr­heit wie­der zum Durch­bruch ver­hel­fen, daß Ler­nen mit Anstren­gung und Mühe ver­bun­den ist. In die­sem Zusam­men­hang gilt es auch, den Pisa-Nebel zu ver­trei­ben, dadurch her­vor­ge­ru­fen, daß man Glau­ben macht, es kön­ne durch mehr Päd­ago­gik und durch mehr sozi­al­the­ra­peu­ti­sche Betreu­ung die deut­sche Bil­dungs­mi­se­re beho­ben wer­den. Das wäre ledig­lich mehr von dem, was uns die­se Mise­re ein­ge­brockt hat. Nein, wir brau­chen eine ande­re Bil­dungs­po­li­tik, ande­re Bil­dungs­in­hal­te und ande­re päd­ago­gi­sche Kon­zep­te, die den jun­gen Men­schen viel stär­ker mit For­de­rung und För­de­rung in die Pflicht nehmen!
5. Dem Wer­te­re­la­ti­vis­mus ist nach­drück­lich Ein­halt zu gebie­ten. Aus der Tra­di­ti­on der abend­län­disch-christ­li­chen Kul­tur her­aus sind die spe­zi­fi­schen Wer­te­bin­dun­gen gegen jede Form des Wer­te­re­la­ti­vis­mus zu brin­gen. Ins­be­son­de­re die jun­gen Men­schen soll­ten wie­der ver­stärkt eine wer­te­ba­sier­te Sozia­li­sa­ti­on erfahren.

Über die­se fünf Punk­te soll­te im kon­ser­va­ti­ven Lager Einig­keit bestehen. Sobald man aber die hier ein­ge­hal­te­ne Abs­trak­ti­ons­ebe­ne ver­läßt, also poli­tisch kon­kre­ter wird, wird man fest­stel­len, daß es in den Vor­stel­lun­gen zur inhalt­li­chen Umset­zung gro­ße Dif­fe­ren­zen gibt.

Ich kom­me nun zum zwei­ten Punkt mei­ner Aus­füh­run­gen und möch­te mich der Fra­ge wid­men, wel­che gesell­schaft­li­che Ent­wick­lung zukünf­tig zu erwar­ten ist und wel­che Anknüp­fungs­punk­te für eine kon­ser­va­ti­ve Wen­de bestehen. Mit Samu­el Hun­ting­ton kön­nen wir zunächst fest­stel­len, daß der west­li­che Kul­tur­kreis spä­tes­tens in den neun­zi­ger Jah­ren sei­nen Zenit über­schrit­ten hat und zuneh­mend die Füh­rungs­rol­le an den sini­schen Kul­tur­kreis mit dem Kern­staat Chi­na abge­ben muß. Der west­li­che Kul­tur­kreis befin­det sich im Nie­der­gang. Die Anzei­chen der „inne­ren Fäul­nis“ sind für Hun­ting­ton unüber­seh­bar: sin­ken­des Wirt­schafts­wachs­tum, sin­ken­de Spar- und Inves­ti­ti­ons­ra­ten, dra­ma­ti­scher Gebur­ten­rück­gang und Über­al­te­rung, schwin­den­de Bedeu­tung des Chris­ten­tums und mora­li­scher Zer­fall, Zunah­me des aso­zia­len Ver­hal­tens (Kri­mi­na­li­tät, Dro­gen­kon­sum, Gewalt­be­reit­schaft), Zer­fall der Fami­lie, Rück­gang des sozia­len Enga­ge­ments, Auto­ri­täts­ver­fall der Insti­tu­tio­nen, Kult um indi­vi­dua­lis­ti­sche Selbst­ver­wirk­li­chung und hedo­nis­ti­sches Ver­hal­ten, Absin­ken von Bil­dung und aka­de­mi­schen Leis­tun­gen. Inter­es­sant ist in die­sem Zusam­men­hang, daß die moder­ne Sozio­lo­gie in ihrer Beschrei­bung der aktu­el­len Gesell­schaft die­se Phä­no­me­ne des Nie­der­gangs noch gar nicht auf den Begriff gebracht hat. Sie ist in der sozio­lo­gi­schen Beschrei­bung der Gesell­schaft, deren Teil sie auch ist, gleich­sam am Anfang der neun­zi­ger Jah­re ste­hen­ge­blie­ben, als die Pro­ble­me gera­de anfin­gen, sich zur Kri­se zu ver­dich­ten. Die Begriff­lich­keit reflek­tiert und the­ma­ti­siert phä­no­ty­pi­sche Ver­än­de­run­gen der Gesell­schaft, ohne über einen Sen­sor zu ver­fü­gen, der Erschei­nungs­for­men der gesell­schaft­li­chen Ent­wick­lung auch als Nie­der­gang und Invo­lu­ti­on deu­tet. So spricht Ger­hard Schul­ze wei­ter­hin mun­ter von der „Erleb­nis­ge­sell­schaft“, Ulrich Beck von der „Risi­ko­ge­sell­schaft“, so als ob öko­lo­gi­sche Pro­ble­me uns noch wirk­lich inter­es­sie­ren wür­den, Peter Gross von der „Mul­ti­op­ti­ons­ge­sell­schaft“, Ami­tai Etzio­ni von der „guten Gesell­schaft“ und so wei­ter und so fort. Ande­re Sozio­lo­gen wie Pierre Bour­dieu in Frank­reich und Antho­ny Gid­dens in Eng­land füh­ren Rück­zugs­ge­fech­te gegen die „neo­li­be­ra­le Heimsuchung“.
Das begriff­li­che Poten­ti­al ist dabei gar nicht geeig­net, den Zer­fall und die Deka­denz als Rück­wärts­be­we­gung, also als Nie­der­gang, wahr­zu­neh­men, weil sie die­se Phä­no­me­ne als Über­gang zu einer neu­en „Hoch­kul­tur“ inter­pre­tie­ren. Das Neue, das auf uns zukommt, ist in der Vor­stel­lung des größ­ten Teils der moder­nen Sozio­lo­gie anders aber gleich­wer­tig. Ein­zig die moder­ne sozio­lo­gi­sche Sys­tem­theo­rie in der Tra­di­ti­on Niklas Luh­manns bie­tet einen frame of refe­rence, der nicht nur gesell­schaft­li­che Höher­ent­wick­lung, son­dern auch gesell­schaft­li­chen Nie­der­gang inter­pre­tie­ren kann. Ich kann die­ses Kon­zept an die­ser Stel­le nur sehr grob nachzeichnen.
Im Kern han­delt es sich um die Beschrei­bung des Prin­zips der „funk­tio­na­len Dif­fe­ren­zie­rung“, die sich als man­nig­fa­che funk­tio­na­le Teil­ha­be des Men­schen am sozia­len Leben kenn­zeich­nen läßt: Ich bin gleich­zei­tig inklu­diert (so Luh­manns Begriff) ins Wirt­schafts­sys­tem, ins poli­ti­sche Sys­tem, ins Rechts­sys­tem und so wei­ter. Unter den Bedin­gun­gen des gesell­schaft­li­chen Nie­der­gangs kommt es nach Luh­mann nun zu „Exklu­si­ons­ver­ket­tun­gen“: Immer mehr Men­schen ver­lie­ren ihren Arbeits­platz und damit mit­tel- und lang­fris­tig die Mög­lich­keit, Publi­kums­rol­len in ande­ren Teil­sys­te­men wahr­zu­neh­men. Das gesell­schaft­li­che Leben fin­det dann ohne die exklu­dier­te Per­son statt. Die exklu­dier­te Per­son ist damit kein gesell­schaft­li­cher Sym­bol- und Bedeu­tungs­trä­ger mehr, sie ist nackt, nur noch Bedürf­nis­we­sen und Körper.

Hartz IV bei­spiels­wei­se ist die kon­se­quen­te Reak­ti­on auf die­se Ent­wick­lung: Der Arbeits­lo­se wird auf sei­ne Kör­per­be­dürf­nis­se redu­ziert, indem er nur soviel Trans­fer­leis­tun­gen bekommt, um als Kör­per zu über­le­ben, sei­ne Bedürf­nis­se auf Nah­rung, Woh­nung und ein Min­dest­maß an Unter­hal­tung (Fern­se­hen) wer­den befrie­digt, ansons­ten steht er außer­halb der Sozi­al­ord­nung. Zbi­gniew Brze­zinski hat die­se Form der Mini­mal­ver­sor­gung „Titty­tain­ment“ genannt. Die so Aus­ge­schlos­se­nen kön­nen nur noch als Kör­per gesell­schaft­li­che Wir­kun­gen erreichen.
Die­ser Exkurs in die Gesell­schafts­theo­rie war not­wen­dig, weil es nun um die Fra­ge nach dem Sub­jekt einer kon­ser­va­ti­ven Keh­re geht. Dabei zeich­nen sich im wesent­li­chen drei Ziel­grup­pen ab, die Affi­ni­tät zum Kon­ser­va­ti­vis­mus haben:

Ers­tens sind dies die Tra­di­tio­nell-Kon­ser­va­ti­ven des bür­ger­li­chen Lagers (im Sin­ne des Kon­ser­va­ti­vis­mus als Gegen­be­we­gung), die genug haben von den chao­ti­schen Zustän­den, die nicht mehr glau­ben, daß die „Alt­par­tei­en“ die Kraft zur Gegen­steue­rung auf­brin­gen und einen neu­en kon­ser­va­ti­ven Flü­gel oder eine neue selb­stän­di­ge Par­tei unter­stüt­zen wür­den. Hier fin­den wir gleich­sam das kon­ser­va­ti­ve Poten­ti­al „im Sys­tem“, also Men­schen, die eta­bliert sind und geord­ne­te gesell­schaft­li­che Ver­hält­nis­se wol­len. Ein Groß­teil die­ser Kli­en­tel wählt tra­di­ti­ons­ge­mäß die Uni­on, ist aber mit dem kon­ser­va­ti­ven Pro­fil die­ser Par­tei nicht zufrieden.
Zu die­sen „Alt­kon­ser­va­ti­ven“ gehört eigent­lich auch die zwei­te Grup­pe: die zuneh­men­de Schar von arbeits­lo­sen Aka­de­mi­kern, die bür­ger­li­che Wer­te ver­in­ner­licht haben, aber unter – wie der Sozio­lo­ge sagt – „rela­ti­ver Depri­va­ti­on“ lei­den, weil sie trotz Stu­di­um ihr Lebens­ziel wohl ver­feh­len wer­den. Ins­ge­samt dürf­te die­ser Kreis wach­sen und eine „natür­li­che“ Kli­en­tel für eine kon­ser­va­ti­ve Wen­de darstellen.
Die drit­te Ziel­grup­pe ist die rapi­de wach­sen­de Schar der sozi­al Aus­ge­schlos­se­nen. Ein Groß­teil von die­sen wird sich natür­lich zunächst nach links ori­en­tie­ren oder aber als Nicht­wäh­ler dem poli­ti­schen Sys­tem den Rücken keh­ren. Gleich­wohl ist hier ein über­aus gro­ßes Poten­ti­al für kon­ser­va­ti­ve Poli­tik­ge­stal­tung vor­han­den, aber nur, wenn es dem Kon­ser­va­ti­vis­mus gelingt, sich genü­gend trenn­scharf von der Poli­tik der „sozia­len Käl­te“ des Neo­li­be­ra­lis­mus abzu­gren­zen und gleich­zei­tig nach­zu­wei­sen, daß die Pro­ble­me der sozi­al Exklu­dier­ten lin­ker Poli­tik geschul­det sind, die bei­spiels­wei­se durch die Ermög­li­chung einer unkon­trol­lier­ten Zuwan­de­rung die „indus­tri­el­le Reser­ve­ar­mee“, wie es bei Marx heißt, erwei­tert und damit Lohn­dum­ping und Arbeits­lo­sig­keit mit ver­ur­sacht hat. Die sozia­le Kom­pe­tenz des Kon­ser­va­ti­vis­mus muß her­aus­ge­stellt und darf nicht den Lin­ken über­las­sen wer­den. Dazu ist es erfor­der­lich, daß die „nega­to­ri­sche Schief­la­ge“ des Kon­ser­va­ti­vis­mus über­wun­den wird. Die wesent­li­chen inhalt­li­chen Aus­sa­gen des aktu­el­len Kon­ser­va­ti­vis­mus sind „Gegen-Aus­sa­gen“, man ist sich einig gegen Mul­ti­kul­tu­ra­lis­mus und Glo­ba­lis­mus. Es feh­len gleich­sam posi­ti­ve Gegen- und Gesell­schafts­bil­der, es fehlt, so para­dox das klingt, die kon­ser­va­ti­ve Uto­pie. Also, wie hat das, was wir unter Nati­on ver­ste­hen, unter moder­nen Bedin­gun­gen aus­zu­se­hen? Wie ist im Zeit­al­ter der Glo­ba­li­sie­rung ein intel­li­gen­ter Pro­tek­tio­nis­mus mög­lich? Wie sol­len die sozia­len Siche­rungs­sys­te­me gestal­tet sein?
Mit der intel­li­gen­ten Beant­wor­tung die­ser Fra­gen erzeugt der Kon­ser­va­ti­vis­mus Anschluß­fä­hig­keit für die Nöte und Pro­ble­me der an den Rand der Gesell­schaft gedräng­ten Men­schen und erschließt die­se als mög­li­ches Sub­jekt eines Para­dig­men­wech­sels. Dabei ist die Arbeit im vor­po­li­ti­schen Raum von gro­ßer Bedeu­tung. Vor­trags­ver­an­stal­tun­gen, Zeit­schrif­ten, Semi­na­re, Krei­se frei­er Rede, Beob­ach­tung des (partei)politischen Felds, Ver­net­zung im Wort­sinn: Die Orga­ni­sa­ti­on und Mobi­li­sie­rung der vie­len Ent­täusch­ten, Ver­än­de­rungs­wil­li­gen ist das eigent­li­che Meis­ter­stück, das voll­bracht wer­den muß. Die Dra­ma­tur­gie der Zuspit­zung berei­tet dann den Boden.

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