undemokratisch denken, nicht von der Mitte, sondern vom Rand der Gesellschaft her, der muß Minderheiten zurück an die Macht bringen, zum Wohle dessen, was dann vielleicht sogar mal wieder in eine echte Demokratie übergehen könnte. Mittlerweile sind wir nämlich auch im größer gewordenen Deutschland fällig … für eine neue gesellschaftliche Revolution. Diesmal allerdings für eine elitäre, jenseits des alten Lagerdenkens und angezettelt nicht etwa bloß von einer task force im Beckenbauer-Format, sondern im Sinne von Platons Konzept einer Herrschaft der Besten.“
Derjenige, der hier ausführlich und nicht ohne Pathos aus rechter Sicht zu Wort kam, heißt Matthias Politycki. Er ist freier Schriftsteller, 1955 geboren, und lebt in Hamburg und München (weil kaum ein freier Schriftsteller in nur einer einzigen Stadt lebt). Im Oktober erschien Polityckis Roman Herr der Hörner, und man vermeint während und nach der Lektüre dieses dicken Buchs zu verstehen, warum sein Autor nach einer Revitalisierung unseres lahmen Kulturkreises lechzt.
Herr der Hörner spielt auf Kuba, Hauptfigur ist ein Durchschnittsdeutscher, der während eines Urlaubs in Santiago de Cuba im Schweiß einer Salsa-Tänzerin ein lebendigeres Leben wittert als jenes, welches er dann tatsächlich ein halbes Jahr später abbricht, um die Tänzerin wiederzusehen. Während er jagt, ist er selbst längst Wild, ausersehen als Opfer in einem der geheimbündischen Kulte des schwarzen Teils Kubas.
Es fällt auf: Polityckis Kuba ist nicht das Land der letzten kommunistischen Utopie, auch nicht der Fleck, auf dem sich die edlen Wilden auf die Füße treten. Es ist ein hartes, schnelles Land, oft unerträglich für den, der aus Deutschland kommend dort zu leben versucht wie jene, die ihr ganzes Leben lang so leben müssen. Und trotzdem wird Kuba zur Sucht: vital, abrupt, geheimnisvoll, nicht ausgeleuchtet, gierig, voller Kampf ums nackte Dasein, nicht ums angezogene Mehr-Sein.
Seit einiger Zeit steckt Politycki in diesem Sinne voller Kuba, wenn er gesellschaftskritische Beiträge in der Presse veröffentlicht. Das lange Eingangszitat stammt aus einem Artikel mit dem vitalen Titel Jungs, nehmt den Finger aus dem Arsch, es gibt Arbeit, der im Juli 2004 unter leicht gekürzter Überschrift im Tagesspiegel erschien. Es geht darin um einen psychisch Kranken und physisch Ausgelaugten: „Deutschland wird zur Zeit in allen Disziplinen gedemütigt, als Insasse Deutschlands lebt man halbgeduckt voran, mit der Gewißheit, daß es selbst nach der nächsten Wahl nicht besser werden wird.“
Ein anderer Beitrag, der Essay Weißer Mann – was nun?, erschien vor wenigen Monaten in der Zeit (36 / 2005). Eine Kostprobe? „Die Brutalität des vitalen Lebens, keinerlei Rücksicht auf die moralischen und ästhetischen Standards eines Alten Europäers nehmend, diese ungebremste Wildheit des Willens, die sich nicht selten in schierer Gewaltanwendung Bahn brach – durfte ich sie als Mangel an Kultur verachten? … Mitunter war ich so restlos beschämt von dieser Eruption physischer Macht, daß ich mir einzureden suchte, in meiner weißen Haut die epochale Erschöpfung der gesamten Alten Welt zu spüren.“ Dies ist hautnah aus Kuba berichtet und in einem jener Gehirne voller Gebrochenheit reflektiert, das von einem deutschen, einem zur Wehrlosigkeit erzogenen Körper auf schmalem Halse balanciert wird.
Beide Zitate – jenes über das notwendig Undemokratische und dieses über die Brachialität – lassen sich leicht zusammensetzen: Der Westen und Deutschland benötigen, um ihre moralischen und ästhetischen Normen zu retten, etwas von der Vitalität zurück, die in Ländern wie Kuba erlebbar ist, die sich jedoch als unerträglich für jeden erweist, der im Westen, in Deutschland seine Heimat hat. Politycki möchte das Gebilde, in dem er so leben kann und darf, wie er lebt, wiederbelebt sehen, dosiert aggressiv im weltweiten Kampf, der längst ein Kampf im Innern geworden ist. Und es scheint ihm dieser Kampf nicht die Zeit für kurze Legislaturperioden zu sein, auch nicht die Zeit für das unendliche Geschwätz der auf den Pöbel schielenden Medien- und Erregungsdemokratie.
Meint es Matthias Politycki aber wirklich so ernst, wie er es zuweilen sagt? Wenn er in einem Interview sagt, daß wir (wir!) im Grunde „ein runderneuertes Wertesystem, eine runderneuerte Moral und einen vollkommen neuen Glauben“ bräuchten, dann können wir (wir!) sicher sein: Die in Kuba erlernte Brachialität – unbedingt notwendig für die geforderte Runderneuerung – wäre in moralisch-ästhetischer Hinsicht nichts für ihn, käme sie in Deutschland zur Entfaltung. Runderneuerungen aber sind nie aseptisch, und wer über die Umkehrung der Verhältnisse nachdenkt, sollte die Drecksarbeit im Blick behalten. Sein Kuba-Ausflug nun hat ja trotz aller Härte-Wahrnehmungen etwas von der großen Flucht an sich, die Intellektuelle allenthalben antreten, wenn ihnen in Deutschland etwas nicht mehr paßt. Polityckis Fluchtversuch führte wenigstens nicht in die Toskana. Und außerdem ist er zurückgekehrt, um zu erzählen, was er in der Fremde gesehen und gelernt hat. Über sich? Über uns? Über den „Weißen Mann“? Das ist nicht so wichtig. Wichtig ist die Art und Weise, wie da einer geht und wiederkehrt. Denn wenn Politykki ginge, um heimzufinden, wäre das viel.
So sind also seine intellektuellen Töne willkommen, und in einem dritten Text heißt es über die Aufgabe der Autorschaft heute, sie sollte dem Gebot eines „relevanten Realismus“ folgen. Auf diese Forderung nach einer relevanten gesellschaftspolitischen Beteiligung der schreibenden Zunft, die Politycki gemeinsam mit drei Kollegen wiederum in der Zeit (26 / 2005) stellte, antwortete unter anderem Uwe Tellkamp: Die Aufgabe des Schriftstellers sei es, gute Bücher zu schreiben. Alles andere sei irrelevant.
Tellkamp (Jahrgang 1968) sprach so, weil er einige Monate zuvor – im März 2005 – seinen ersten Roman, Der Eisvogel, vorgelegt hatte und von Teilen der Kritik ob dessen politischer Relevanz in der Luft zerrissen wurde: „Verstörend“ und „umstritten“ waren beliebte Vokabeln für das, was Tellkamp in einer Mischung aus Faszination und Ekel angesichts einer Veränderung der Verhältnisse aus rechtem (hier: neurechtem) Geist niedergeschrieben hatte.
Der Inhalt ist rasch erzählt: Wiggo Ritter, ein junger Mann mit abgeschlossenem Philosophiestudium, sucht angesichts der geistigen Sackgasse Deutschland zunächst intellektuelle, dann politische Alternativen im rechten Lager. Er ist hochintelligent, von Hause aus reich, schlagfertig, elitär und kompromißlos. Er trifft auf Mauritz Kaltmeister, einen elitären Faschisten seines Alters, der als politischer Aktivist eines finanziell potenten Kreises aus Industriellen, Großbürgern und Adligen an der politischen „Wiedergeburt“ Deutschlands arbeitet. Begleitet wird Mauritz stets von seiner Schwester Manuela, und beide zusammen sind in etwa das genaue Gegenteil dessen, was gemeinhin als „rechte Szene“ in Deutschland verkauft wird: gebildet, diszipliniert, sportlich, sensibel, gepflegt, unbestechlich, einsam, leidend.
Und kalt: Vor allem Mauritz Kaltmeister ist von schneidender Kälte, wenn er im Verlauf des Romans die Einzelteile einer rechten Gesellschaftskritik referiert und seine Schlüsse daraus zieht: Rettung werde nur ein Terror bringen, der den Staat erschüttere und ihn an seine Aufgabe gemahne, seine Staatlichkeit durchzusetzen. Terror mit Selbstopfer ist also der Schlußpunkt des Denkens aus dem Geiste der Konservativen Revolution, und daß am Ende der großbürgerliche Unterstützerkreis dem einsamen Attentäter in den Rücken fällt, gehört zwingend mit dazu.
Wünscht sich Tellkamp einen Mauritz Kaltmeister? Für einen Autor ist das irrelevant, er hat ja „erfunden“. Näher läge ihm wohl Wiggo Ritter, der in den entscheidenden Momenten stets die ethische Notbremse zieht. Aber insgesamt ist Tellkamp so fasziniert von seinen Romanfiguren, daß er sie wechselweise von allem abgrenzt, was ihn ekelt. Dies wird nirgends deutlicher als dort, wo Mauritz ein Skinhead-Grüppchen samt Kampfhund in der U‑Bahn mittels aseptischer, fernöstlicher Schlagkunst erledigt: Plumpe Nazis will der Faschist nicht, wenns um die Wiedergeburt geht. Auch in der Konfrontation von Geldgebern und Tätern sind die Sympathien klar verteilt: Der Industriemagnat, der Staatssekretär, der Bischof, die Gräfin – alle altkonservativen Gruppen sind vertreten und haben allenfalls die Aufgabe, den jungen Soldaten den Nachschub an die Front zu karren. Daß der Etappe selbst dies nicht gelingt, gehört zu den tiefen Einsichten, die Tellkamp in ein Milieu gewann, mit dem er zumindest Berührung gehabt haben muß: Zu authentisch sind seine Schilderungen.
Zwei Schriftsteller also schauen hinein in den Raum, aus dem allein noch eine Regeneration der Verhältnisse kommen kann. Tellkamps Figuren werden deutlicher als Politycki in seinen Essays. Das eine aber ist Kunst, das andere ein öffentliches Nachgrübeln im politischen Deutschland. Seltsam, daß sich keiner diesen Politycki zur Brust nimmt!