Kein Staat im Staate

pdf der Druckfassung aus Sezession 14 / Juli 2006

von Franz Uhle-Wettler

Als die Bundeswehr aufgestellt wurde, verlangten viele Politiker, die neuen Streitkräfte dürften nie wieder werden, was ihre Vorgänger (angeblich) gewesen waren: ein Staat im Staate; es wäre leicht, ganze Zettelkästen mit entsprechenden Forderungen zu füllen. dieses Ziel ist längst erreicht, denn wiederum könnte man ganze Zettelkästen mit Äußerungen von Politikern füllen, die feststellen, wie hervorragend die Bundeswehr in Staat und Gesellschaft „integriert“ sei. Doch gerade weil das Votum fast einstimmig ist, lohnt sich die Überprüfung, gemäß Lenins Diktum, daß die Praxis der Prüfstein der Theorie sei.

Zur Prü­fung der Theo­rie eig­nen sich unter ande­rem zwei Berei­che, die zudem fast unbe­kannt sind und viel­leicht auch absicht­lich so gehal­ten wer­den: die Bereit­schaft der Poli­ti­ker und Jour­na­lis­ten, sich selbst der von ihnen geschaf­fe­nen und meist bejah­ten Dienst­pflicht in den Streit­kräf­ten und damit der per­sön­li­chen Inte­gra­ti­on in die Bun­des­wehr zu unter­zie­hen – und die pro­to­kol­la­ri­sche Behand­lung der Bundeswehr.
Zum Pro­to­koll: Die „Rang­fol­ge bei Ver­an­stal­tun­gen … offi­zi­el­ler Art“ wird vom Bun­des­mi­nis­ter des Inne­ren zusam­men mit dem Aus­wär­ti­gen Amt erlas­sen und ist für alle Minis­te­ri­en ver­bind­lich. Wo sie den Gene­ral­inspek­teur der Bun­des­wehr ein­ord­net, ist sach­lich unbe­deu­tend. Aber die Ein­ord­nung zeigt, wo die­ser Staat den Reprä­sen­tan­ten sei­ner bewaff­ne­ten Macht und von ehe­mals 500.000, heu­te knapp 300.000 Sol­da­ten sieht. Inso­fern ist die Pro­to­koll­ein­ord­nung des Gene­ral­inspek­teurs doch kenn­zeich­nend. Bei der Prü­fung muß aller­dings eine Ara­bes­ke ein­be­zo­gen wer­den: Dem Ver­fas­ser ist es nicht gelun­gen, von den zustän­di­gen Minis­te­ri­en die neu­es­te Fas­sung der Pro­to­koll­lis­te zu erhal­ten; ihm wur­de nur ver­si­chert, nen­nens­wer­te Ände­run­gen gegen­über älte­ren Fas­sun­gen sei­en nicht erfolgt. War­um heu­te kein Staats­bür­ger Ein­blick erhal­ten darf, wur­de nicht mitgeteilt.
Die Sei­te eins der Lis­te: Ers­ten Rang hat natür­lich der Bun­des­prä­si­dent. Ihm fol­gen Kai­ser und Köni­ge sowie Staats‑, danach Regie­rungs­chefs frem­der Staa­ten. Zwei­ter Deut­scher ist der Prä­si­dent des Bun­des­ta­ges; ihm fol­gen der Bun­des­kanz­ler, dann der Prä­si­dent des Bun­des­ra­tes (obwohl er nicht den Gesamt­staat reprä­sen­tiert) und zahl­rei­che wei­te­re Wich­tig­kei­ten. Eine Aus­wahl: Alle Bot­schaf­ter frem­der Staa­ten, der Vor­sit­zen­de der deut­schen (katho­li­schen) Bischofs­kon­fe­renz, der Vor­sit­zen­de des Rates der evan­ge­li­schen Kir­che und – als Drit­ter auf die­ser Ebe­ne, obwohl nicht reli­giö­ses Ober­haupt – der Vor­sit­zen­de des Zen­tral­ra­tes der Juden in Deutsch­land; ein Ver­tre­ter der Mil­lio­nen von Mos­lems und Hin­dus fehlt. Nach wei­te­ren Wich­tig­kei­ten kommt der Leser zur zwei­ten Sei­te der Protokollliste.
Sei­te zwei: Eine klei­ne – klei­ne! – Aus­wahl: Da fin­den sich der Prä­si­dent der Kom­mis­si­on der Euro­päi­schen Uni­on, alle frem­den Gesand­ten (die Bot­schaf­ter hat­ten wir schon), die ehe­ma­li­gen (!) Prä­si­den­ten des Bun­des­ver­fas­sungs­ge­richts, die Patri­ar­chen (ost­eu­ro­päi­scher oder asia­ti­scher christ­li­cher Kir­chen), Par­tei- und die Frak­ti­ons­vor­sit­zen­den der im Bun­des­tag ver­tre­te­nen Par­tei­en, die (ins­ge­samt 48?) Lan­des­su­per­in­ten­den­ten, Lan­des­bi­schö­fe und Lan­des­rab­bi­ner, die Minis­ter der Län­der, dann der Prä­si­dent der Bun­des­bank und mit „Höchs­te Reprä­sen­tan­ten der Gemein­den“ was das auch sein mag, endet die zwei­te Seite.
Sei­te drei beginnt mit den „Stän­di­gen Geschäfts­trä­gern des Diplo­ma­ti­schen Korps“ (die Bot­schaf­ter und die Gesand­ten hat­ten wir längst), dann kom­men die Nicht­stän­di­gen Geschäfts­trä­ger (wer weiß, was das ist?), nach wei­te­ren Wich­tig­kei­ten erschei­nen der Koor­di­na­tor für deutsch-fran­zö­si­sche Zusam­men­ar­beit und alle Vor­sit­zen­den von Bun­des­tags­aus­schüs­sen (deren gibt es zwei­und­zwan­zig, bis hin zum „Aus­schuß für Tou­ris­mus“), es fol­gen der Prä­si­dent des Rech­nungs­ho­fes, alle Rich­ter des Bun­des­ver­fas­sungs­ge­richts (den amtie­ren­den und die ehe­ma­li­gen Prä­si­den­ten hat­ten wir schon), die ehe­ma­li­gen Bun­des­mi­nis­ter (wir sind also schon deut­lich bei ehe­ma­li­gen Wich­tig­kei­ten), wei­te­re Wich­tig­kei­ten, der Kanz­ler der Frie­den­klas­se des Ordens Pour-le-Méri­te – und dann, sie­he da, da kommt „ganz hin­ter­drein und Klim­per­klein“ nicht, wie das Kin­der­lied singt, „das Mari­en­kä­fer­lein“, son­dern der Gene­ral­inspek­teur, der Reprä­sen­tant der bewaff­ne­ten Macht, der ulti­ma ratio unse­res Staates.
Man möch­te ein­wen­den, die Sol­da­ten wür­den durch den Ver­tei­di­gungs­mi­nis­ter reprä­sen­tiert? Aber dem wäre zu erwi­dern, daß auch die Gesand­ten frem­der Staa­ten nicht durch ihre Bot­schaf­ter, die Bischö­fe der deut­schen Län­der nicht durch die gesamt­deut­schen Ver­tre­ter ihrer Kir­chen reprä­sen­tiert wer­den, eben­so­we­nig wie die Frak­ti­ons­vor­sit­zen­den und die Vor­sit­zen­den der Bun­des­tags­aus­schüs­se durch den Prä­si­den­ten des Bun­des­tags und die Rich­ter des Bun­des­ver­fas­sungs­ge­richts durch des­sen Prä­si­den­ten ver­tre­ten werden.

Zwei­fel­los: Der Gene­ral­inspek­teur erscheint dort, wo er noch dem Urteil der Poli­ti­ker und Minis­te­ri­al­be­am­ten hin­ge­hört. Des­halb ist eine Her­auf- oder Her­ab­stu­fung nicht wün­schens­wert; sie wür­de dem Staats­bür­ger ver­schlei­ern, wie unse­re poli­ti­sche Klas­se die­je­ni­gen schätzt, denen sie gegen­wär­tig im Koso­vo, in Afgha­ni­stan und mitt­ler­wei­le auch in ande­ren Regio­nen befiehlt, ihr Leben einzusetzen.
Einen zwei­ten Prüf­stein für die Inte­gra­ti­on der Bun­des­wehr in Staat und Gesell­schaft lie­fert eine Zah­len­grup­pe. Sie illus­triert, wie es Poli­ti­ker und Jour­na­lis­ten mit der Inte­gra­ti­on von Gesell­schaft und Streit­kräf­ten dann hal­ten, wenn sie per­sön­lich betrof­fen sind.
Im vier­zehn­ten Bun­des­tag (bis 2002) waren 330 Abge­ord­ne­te männ­li­che „Wes­sis“ der Jahr­gän­ge 1940 oder jün­ger, waren also fast alle gesetz­lich ver­pflich­tet, sich für eini­ge Zeit in die Streit­kräf­te zu inte­grie­ren. Von die­sen 330 haben gemäß ihren Lebens­läu­fen im Hand­buch des Bun­des­tags 81 Wehr­dienst geleis­tet. Kon­kret: Von 139 Abge­ord­ne­ten der SPD 27 (Ersatz­dienst 19), von 106 Abge­ord­ne­ten der CDU 34 (Ersatz­dienst 1), von 37 Abge­ord­ne­ten der CSU 9 (0), bei den Bünd­nis­grü­nen von 18 Abge­ord­ne­ten 2 (7), von 27 Abge­ord­ne­ten der FDP 8(0) von 3 Abge­ord­ne­ten der PDS 1 (0). Ins­ge­samt hat sich also ein Vier­tel der dienst­pflich­ti­gen Abge­ord­ne­ten per­sön­lich in die Bun­des­wehr „inte­griert“, 27 wei­ter Abge­ord­ne­te waren wenigs­tens „Zivi“ gewe­sen und 222 kei­nes von bei­dem. Die Zah­len im fünf­zehn­ten Bun­des­tag waren fast iden­tisch. Zum Ver­glich: Die Aus­schöp­fungs­quo­te“ beim „gemei­nen Volk“ lag bis 1989 je nach Jahr­gangs­stär­ke bei 65 bis 70 Prozent.
Schließ­lich der sech­zehn­te, 2005 gewähl­te Bun­des­tag: 327 Abge­ord­ne­te (ein­schließ­lich eini­ger Nach­rü­cker) gehör­ten den Jahr­gän­gen 1940 bis 1970 an – vor­her bezie­hungs­wei­se nach­her war bezie­hungs­wei­se wur­de die Bun­des­wehr zu klein, die Mas­se der Wehr­pflich­ti­gen auf­zu­neh­men. Hier­von hat­ten sich 99, also 30 Pro­zent, als jun­ge Män­ner per­sön­lich in die Bun­des­wehr „inte­griert“, 228, dabei 20 „Zivis“, hat­ten sich nicht inte­grie­ren wol­len oder können.
Viel­leich hat die­ser oder jener Abge­ord­ne­te sei­nen Wehr- oder Ersatz­dienst ver­schwie­gen oder erfun­den; das ist jedoch meist aus­zu­schlie­ßen, etwa wenn ein ehe­ma­li­ger Ver­tei­di­gungs­mi­nis­ter angibt: „1962 Abitur. 1962–68 Univ. Ham­burg, 1968 1. Staat­ex­amen“. Den­noch darf man jene Zah­len nicht unge­prüft gegen den ein­zel­nen wen­den. Manch einer dürf­te ehren­wer­te Grün­de gehabt haben, nicht zu die­nen; zum Bei­spiel war ein ehe­ma­li­ger Bun­des­kanz­ler als Kriegs­wai­se sowie mach einer, der in Ber­lin auf­wuchs, nicht dienst­pflich­tig. Aber die Mas­se macht’s. Sie spricht eine deut­li­che Spra­che und zeigt, was auch das letz­te Kabi­nett Kohl zeig­te: von Bohl bis zu Wiss­mann hat­te sich kein ein­zi­ger der wehr­pflich­ti­gen Minis­ter in die Streit­kräf­te „inte­griert“
Die Pres­se? Sie sieht sich gern als Wäch­ter und not­falls Kri­ti­ker der Regie­rung. Doch hier schweigt sie – und der Grund ist leicht zu ver­mu­ten. Die Frank­fur­ter All­ge­mei­ne Zei­gung gibt in ihrer Selbst­dar­stel­lungs­bro­schü­re mit dem Titel Die Redak­ti­on stellt sich vor 2004, die Lebens­läu­fe aller ihrer Redak­teu­re an. 256 sind dienst­pflich­tig gewe­sen. Hier­von hat­ten 55 Wehr- und 37 Zivil­dienst geleis­tet – also wie­der­um etwa das bekann­te Vier­tel (Wehr­dienst) bezie­hungs­wei­se Drit­te (ins­ge­samt). Da wäre es schwie­rig gewe­sen zu kri­ti­sie­ren, daß die Mehr­zahl der bun­des­tags­ab­ge­ord­ne­ten und sogar Ver­tei­di­gungs­mi­nis­ter und – staat­s­e­kre­tä­re ihre gesetz­li­che Pflicht nicht erfüllt hat­te; wer im Glas­haus sitzt, wird sich scheu­en, mit Stei­nen zu werfen.
Die Schluß­fol­ge­rung: Frü­her dien­te die Obrig­keit, die poli­ti­sche Klas­se. Sie führ­te auch im Krie­ge an, auf dem Schlacht­feld und unter Ein­satz des eige­nen Lebens. Unse­re heu­ti­ge poli­tisch Klas­se hin­ge­gen dient nicht, son­dern sie läßt meist die­nen. Bei einem Kampf­ein­satz führt sie nicht an, son­dern sie schickt ande­re in den Kampf. Sie rühmt den Ver­fas­sungs­pa­trio­tis­mus und auf­er­legt dem Volk die Wehr­pflicht durch Gesetz. Aber sie nutzt in hoher Zahl die Gele­gen­hei­ten, das Gesetz nur auf ande­re anzu­wen­den. Sie rühmt die „Inte­gra­ti­on“ der Streit­kräf­te in Staat und Gesell­schaft – hält sich selbst aber meist fern.
Sum­ma sum­ma­rum: Die Bun­des­wehr ist kein Staat im Staa­te. Oder doch, da sie ein Eigen­le­ben am Ran­de von Staat und Gesell­schaft führt? Nicht inte­griert, son­dern von Poli­tik und vie­len Medi­en­fürs­ten sowie Intel­lek­tu­el­len gemie­den, bes­ten­falls gedul­det? Es gibt noch ande­res, das die letzt­ge­nann­te Deu­tung nahelegt.

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