Zehn Jahre später, Anfang 1999 sollte dann ein gesamtdeutscher Staatsminister für Kultur und Medien eingedenk der einstmaligen Befreiung eines Konzentrationslagers durch die Rote Armee verkünden, man werde jetzt tatkräftig die Kasernen der Bundeswehr umbenennen. Die Parole „Auschwitz“ diente kurz darauf einer rot-grünen Bundesregierung als Rechtfertigung, erstmals seit 1945 wieder deutsche Truppen in den Krieg zu schicken und am NATO-Angriff auf Serbien teilzunehmen. Zahlreiche Kasernen und Straßen sind mittlerweile umgetauft, die Namen von „Nazi-Generalen“ wurden erfolgreich getilgt. Deutsche Soldaten marschieren wieder unbefangen auf dem Balkan, sie stehen für ihre Regierung mit der Waffe am „Hindukusch“ und schwitzen fern der Heimat in Afrika. Seit 2001 dürfen endlich auch Frauen dienstlich auf andere Menschen schießen und sich „Mörder“ nennen lassen, nachdem das Bundesverfassungsgericht diesen Ehrentitel für „Staatsbürger in Uniform“ bereits 1995 abgesegnet hat. Der Grundwehrdienst soll in neun Monaten ausgetragen werden, während das Verteidigungsministerium doch bis 2004 brauchte, um hetero- und homosexuelle Partnerschaften auch zwischen Vorgesetzten und Untergebenen zuzulassen. Teile der Armee hat man wagrationalisiert, andere privatisiert und zahlreiche Standorte nach hermetischen Kriterien geschlossen, während der Aktionsradius der Truppe von der platten Heimatscholle gelöst und durch einen offensiven Verteidigungsbegriff auf den ganzen Planeten ausgedehnt wurde. Kein Zweifel: Die Bundeswehr und ihr gesellschaftliches Umfeld haben sich in den letzten fünfzehn Jahren drastischer verändert als in den dreieinhalb Jahrzehnten zuvor. Nicht nur Zeit also, sonder auch Anlaß genug für Rückblick und Vergegenwärtigung.
Zu jenen kriegsgedienten Männern der ersten Stunde, die zur „Wende“ bereits aus dem Dienst geschieden waren, gehört auch der Militärhistoriker Franz Uhle-Wettler: Dessen Soldatenleben ist selbst Teil der Geschichte jener Bundeswehr, die er von 1956 bis 1987 als Kampftruppenoffizier im Heer und in NATO-Verwendungen aktiv mitgestaltet hat. Sein Rückblick Rührt Euch! Weg, Leistung und Krise der Bundeswehr (Graz: Ares 2006, 216 S., geb, 19.90 €) besteht aus einer chronologischen Collage von Briefzeugnissen und anderen Texten aus der Dienstzeit sowie später eigens beigefügten Kommentaren. Auf diese Weise entstand ein facettenreiches und reflektiertes Bild vom Zustand der Truppe aus der Perspektive verschiedener Verwendungen, wobei die Maßstäbe Uhle-Wettlers schnell klarwerden: Er repräsentiert nicht nur eine Generation, sondern auch einen bestimmten Soldatentypus, der es in dieser Armee nicht immer leicht hatte. „Unser Auftrag ist die Sicherung des Friedens“, setzte ein bis 1989 gängiger Witz ein. „Was tun, wenn’s doch Krieg gibt? Dann heißt’s Auftrag nicht erfüllt, und wir geh’n nach Hause“. Während man in der Bundeswehr angesichts des atomaren Patts nicht wirklich mit Krieg rechnete, blieb die Richtschnur für Uhle-Wettler stets der Kriegsfall und damit die Kriegstüchtigkeit der Truppe.
So konnte der Kommandeur einer Panzerdivision unter jüngeren Infanterieoffizieren als Geheimtip gehandelt werden, als er 1980 mit seiner Studie Gefechtsfeld Mitteleuropa zu enfant terrible avancierte. Debatten über strategische Alternativen zur NATO-Doktrin waren damals im Schwange, um Horst Afheldt und Jochen Löser, den Österreicher Emil Spannocchi oder den Franzosen Guy Brossollet. Uhle-Wettler aber schlug besonders stark ein, weil mit ihm ein aktiver General zu Diskussion stellte, ob die Bundeswehr in ihrer damaligen Struktur einem realistischen Kriegsbild und dem potentiellen Gefechtsfeld zweckmäßig entsprach. Sein Rückblick auf die miterlebten Entwicklungen bis 1989 fällt auf jeder zeitlichen Stufe sachlich, differenziert und kritisch aus; die Ausführungen und Fallbeispiele etwa zur Menschenführung, zur kriegsnahen Ausbildung oder zu Theorie und Praxis der „inneren Führung“ haben nichts von ihrer Aktualität verloren.
Greift man dagegen zu dem als „offizieller Jubiläumsband“ deklarierten Buch 50 Jahre Bundeswehr. 1955 bis 2005 (Hamburg: Mittler 2005, geb., 289 S., 29.80 €), bietet sich darin allenfalls Quellenmaterial zum ideologischen Überbau bundesdeutscher Streitkräftepolitik: Den Journalisten Rolf Clement und Paul Elmar Jöris, beide Mitglieder des Beirats für Fragen der Inneren Führung beim Bundesministerium für Verteidigung, geht es ums große Ganze. Dabei kann es für ein Organ der Exekutive natürlich kein falsches Leben im wahren geben. Was etwa „Affären“ angeht, so komme es „darauf an, ob man aus ihnen lernt“: Da wir hierzulande ja „die Öffentlichkeit“ haben, wird am Ende stets alles gut. Kritische Fragen an die Rolle der mit Ämtern bestallten Parteipolitiker in mancher echten Affäre um die Bundeswehr stellen sich solchen Dienstleistern nicht. Um Mißverständnisse vorzubeugen: Selbstverständlich hat diese Armee bis auf den heutigen Tag enorme Leistungen vollbracht, die bei einem Jubiläum öffentlich herauszustellen sind. Sie sind der Truppe aber umso höher anzurechnen, als sich diese einer oft wankelmütigen widersprüchlichen und opportunistischen Politik ausgeliefert, selten aber staatspolitischem Weitblick anvertraut sieht. Deutlicher bringt Clemens Ranges umfassend angelegter Band Die geduldete Armee. 50 Jahre Bundeswehr (Berlin: Translimes Media 2006, 312 S., geb, 45 €) schon im Titel zum Ausdruck, daß die politischen Rahmenbedingungen der militärischen Institutionengeschichte anders in den Blick geraten müssen. Dieser Journalist sieht die Bundeswehr im sechsten Jahrzehnt ihres Bestehens in einer Schieflage. Die vormalige Wehrpflichtarmee mutiere zu einer „atlantischen Legion“, die der Bevölkerung mittlerweile recht gleichgültig sei. Range, der als Reserveoffizier die Truppe von innen kennt, weiß um die Auswirkungen politisch „Lösungen“ in der Praxis und verfällt daher nicht der Affirmation. In den 1990er Jahren wurde vor allem das Heer durch eine Reihe hektischer Strukturreformen in Unruhe gehalten, die zudem immer mit drastischer Einsparungen und Reduktionen verbunden waren. Aber auch Marine und Luftwaffe haben ihr Gesicht deutlich verändert; weitere tiefgreifende Einschnitte und Umstrukturierungen stehen diesen Teilstreitkräften bevor. Dabei ist die neue Bundeswehr in manchen Bereichen inzwischen wirklich eine einsatzorientierte Truppe geworden; die fast ausschließliche Ausrichtung auf ein multinationales Operationsumfeld und weltweite Interventionen bei gleichzeitiger Ausdünnung birgt jedoch Gefahren, die schon auf mittlere Sicht kaum weniger gravierend sein dürften als die schleichende Entmilitarisierung der alten Friedensarmee vor 1989. Eine „koloniale Überdehnung“ durch internationale Polizeieinsätze, die schon heute nur mit massivem Reservistenaufkommen zu bewältigen sind, ist nur eines der offensichtlicheren Probleme, vom politischen Sinn mancher Unternehmung ganz abzusehen. Daß die rot-grüne Kriegszielpolitik oder die Einsatzaufträge der rot-schwarzen Koalition hierzulande nicht kontrovers debattiert werden, ist dem konstatierten Desinteresse der permissiven deutschen Gesellschaft geschuldet. Eine handfeste Belastungsprobe aber wird diesen Desinteressierten und ihrem „Heer der Zukunft“ früher oder später unweigerlich bevorstehen: Was passiert, wenn auf einen Schlag fünfzig bis hundert tote Staatsbürger in Leichensäcken statt in Uniform aus Übersee heimkehren, weil unter fremdem Himmel ein Bundeswehr-Konvoi in einen einfachen, aber effektiven Hinterhalt uneinsichtiger Eingeborener geraten ist?