Singularitäten (Fundstücke 9)

Ein paar Bruchstücke zu einer immergrünen heiklen Debatte, die gerade wieder durch die Medien geistert.

Martin Lichtmesz

Martin Lichtmesz ist freier Publizist und Übersetzer.

Im zeit­ge­nös­si­schen Dis­kurs beinhal­tet die pos­tu­lier­te “Sin­gu­la­ri­tät” der Juden­feind­lich­keit in der Regel auch die Annah­me eines Son­der­sta­tus von “Ausch­witz” in der Geschich­te der Geno­zi­de. Zumin­dest läßt sich das eine aus dem ande­ren logisch, ja zwin­gend ablei­ten.  Das sagt aller­dings noch nicht viel über das Wesen die­ser “Sin­gu­la­ri­tät” aus – meis­tens ist damit ein­fach die quan­ti­ta­ti­ve Dimen­si­on der Ver­bre­chen gemeint.

“Sin­gu­la­ri­tät” an sich aber ist eine Leer­for­mel, und je nach Defi­ni­ti­on lei­ten sich dar­aus poli­ti­sche und geschichts­po­li­ti­sche Kon­se­quen­zen ab, die mit­un­ter sehr hand­fes­ten Zwe­cken die­nen, was wohl der Haupt­grund dafür ist, war­um es ein star­kes Enga­ge­ment von inter­es­sier­ter Sei­te gibt,  daß man “nicht ruhig dar­über reden kann”.

Die Fra­ge nach der Sin­gu­la­ri­tät des NS-Geno­zi­des wur­de auch auf der Win­ter­aka­de­mie des Insti­tuts für Staats­po­li­tik (IfS) zum The­ma “Faschis­mus” dis­ku­tiert. Sieg­fried Ger­lich hielt ein Refe­rat über Ernst Nol­tes Deu­tung des Faschis­mus als Epo­chen­phä­no­men und kam dabei auf Nol­tes Begrün­dung der “Sin­gu­la­ri­tät” zu spre­chen. Nol­te nann­te 1. die radi­ka­le Absicht: “die ten­den­zi­ell voll­stän­di­ge Ver­nich­tung eines Welt­vol­kes” und 2., für Nol­te ent­schei­den­der,  die radi­ka­le Moti­va­ti­on: “eine Ent­schei­dung im Hin­blick auf den Geschichts­pro­zeß im gan­zen, eine Ent­schei­dung gegen den Fortschritt.”

Nol­te lei­tet die “Sin­gu­la­ri­tät” also aus der “sin­gu­lä­ren” Pro­gram­ma­tik der Täter ab, deren “Sin­gu­la­ri­tät” aller­dings einer kom­pli­zier­ten geschichts­phi­lo­so­phi­schen Begrün­dung bedarf.  Mit­hin ist sie poli­tisch gese­hen eine Sack­gas­se, die kaum ver­wert­bar ist.

Ein ande­rer Weg (es gibt noch wei­te­re), die “Sin­gu­la­ri­tät” des NS-Geno­zi­des und/oder der Juden­feind­lich­keit zu begrün­den, liegt in der Annah­me einer “Sin­gu­la­ri­tät” nicht der Täter, son­dern der Opfer, also eines Son­der­sta­tus der Juden als “Welt-Volk” . Abge­se­hen von der ethi­schen Bewer­tung, tei­len die­se Ansicht Juden,  Phi­lo- und Anti­se­mi­ten glei­cher­ma­ßen.  Und daß nach Theo­dor Herzl die “Juden­fra­ge besteht”, auch noch nach der Grün­dung des Staa­tes Isra­el, kann kein Zwei­fel sein. Aber mit die­ser Fest­stel­lung ist noch nicht viel geklärt. Was macht die Juden zum “Welt-Volk”? Gibt es denn tat­säch­lich so etwas wie ein “jüdi­sches Volk”? Man wird bald bemer­ken, daß das his­to­risch gewach­se­ne Juden­tum, der Gegen­stand der Anti- und Phi­lo­se­mi­ten, weder allein reli­gi­ös, noch allein abstam­mungs­mä­ßig, noch allein “kul­tu­rell” bestimmt wer­den kann. Und eben das macht auch die “Juden­fra­ge” so ein­zig­ar­tig (“sin­gu­lär”) und komplex.

In die­sem Kom­plex wir­ken auch in einer säku­la­ri­sier­ten Welt theo­lo­gi­sche Momen­te vehe­ment nach. Das reicht vom “aus­er­wähl­ten Volk” der Bibel bis zum tra­di­tio­nel­len Anti­ju­da­is­mus der Kir­che. Hans-Diet­rich San­der, der als men­ta­le Grund­stim­mung des Juden­tums die Erfah­rung der per­ma­nen­ten Entor­tung sah, schrieb:

Die Juden­fra­ge hat unter christ­li­chen Völ­kern eine theo­lo­gi­sche Dimen­si­on, die sich Ver­stan­des­kräf­ten ent­zieht. Sie reicht vom furcht­ba­ren Spruch des Apos­tels Pau­lus, der im frü­hes­ten Stück des Neu­en Tes­ta­ments, 1. Thes­sa­lo­ni­cher­brief, 2,15, sei­nem Volk nach­rief, daß es allen Men­schen zuwi­der sei und Gott nicht gefal­le, weil es nicht nur Jesus, son­dern auch eige­ne Pro­phe­ten töte, bis hin zu Pas­cal, der in der geschicht­li­chen Exis­tenz der Juden einen wun­der­ba­ren Beweis für die Wahr­heit der christ­li­chen Reli­gi­on erblickte.

Den Entor­tungs-Aspekt hob auch Emil Cioran 1937 in sei­nem Buch Die Ver­klä­rung Rumä­ni­ens her­vor (der gan­ze spä­te­re Cioran ist dar­in bereits ent­hal­ten, beson­ders was den letz­ten Satz des Zita­tes betrifft) :

Da sie sich nir­gend­wo hei­misch füh­len, ist für sie die Ent­wur­ze­lung,  die für ande­re tra­gi­sche Dimen­sio­nen hat, kein Begriff. Die Juden sind das ein­zi­ge Volk, das sich nicht mit einer Land­schaft ver­bun­den fühlt. Es gibt kei­nen Win­kel der Erde, der ihre See­le geformt hät­te; aus die­sem Grun­de sind sie immer die glei­chen, in jedem Land oder auf jedem Kon­ti­nent. (…) In jeder Sache sind die Juden ein­ma­lig; sie glei­chen nie­man­dem auf der Welt, gebeugt wie sie sind, unter einem Fluch, des­sen Urhe­ber ein­zig und allein Gott ist. Wäre ich Jude, wür­de ich mich in die­sem Augen­blick umbringen.

Cioran schrieb die­se Zei­len als er noch Sym­pa­thi­sant der mys­tisch-natio­na­lis­ti­schen, anti­se­mi­ti­schen “Eiser­nen Gar­de” war.  Als Emi­grant in Frank­reich wur­de Cioran bald selbst zum “Ent­wur­zel­ten”, zum Phi­lo­so­phen der radi­ka­len Ver­ein­ze­lung und meta­phy­si­schen Unbe­haust­heit. Sol­cher­ma­ßen selbst zum “Juden” gewor­den, ver­schob sich die Per­spek­ti­ve und er schrieb in dem 1956 erschie­ne­nen Essay “Ein Volk von Ein­zel­gän­gern” (in: Dasein als Ver­su­chung, Stutt­gart 1983):

Ich will ver­su­chen, über die Heim­su­chun­gen eines Vol­kes zu phan­ta­sie­ren, über sei­ne Geschich­te, die jeder his­to­ri­schen Norm wider­spricht, über sein Schick­sal, das einer über­na­tür­li­chen Logik zu gehor­chen scheint, wo das Uner­hör­te sich mit dem Selbst­ver­ständ­li­chen, das Wun­der mit der Not­wen­dig­keit ver­mischt. Man­che nen­nen es Ras­se, ande­re Nati­on, ande­re Sipp­schaft. Da es allen Klas­si­fi­ka­tio­nen wider­steht, ist alles unrich­tig, was man davon prä­zi­sie­ren kann; kei­ne Defi­ni­ti­on paßt zu ihm. (…)

Mensch sein ist ein Dra­ma; Jude sein ein zwei­tes. Dar­um hat der Jude das Pri­vi­leg, unse­re con­di­tio zwei­mal zu leben. Er reprä­sen­tiert das Son­der­da­sein par excel­lence oder, um einen Aus­druck zu gebrau­chen, den die Theo­lo­gen auf Gott anwen­den, das ganz Ande­re. Sei­ner Ein­ma­lig­keit bewußt, denkt er unauf­hör­lich dar­an und ver­gißt sich nie­mals; daher die­se gezwun­ge­ne, ver­krampf­te oder Selbst­be­wußt­sein vor­täu­schen­de Mie­ne, die bei denen so häu­fig zu fin­den ist, die die Last eines Geheim­nis­ses tra­gen. Anstatt auf sei­ne Her­kunft stolz zu sein, sie über­all zu pla­ka­tie­ren und aus­zu­ru­fen, tarnt er sie: doch ver­leiht ihm nicht sein Schick­sal, das kei­nem ande­ren gleicht, das Recht hoheits­voll über die mensch­li­che Her­de hinwegzublicken? (…)

Das into­le­ran­tes­te und am meis­ten ver­folg­te der Völ­ker ver­eint den Uni­ver­sa­lis­mus mit dem strik­testen Par­ti­ku­la­ris­mus. Ein Wider­spruch, der in ihrer Natur liegt: nutz­los ihn auf­lö­sen oder erklä­ren zu wollen.

Nun ist Cioran ein Schrift­stel­ler, der für sei­ne geziel­te Anstö­ßig­keit und sei­nen Hang zu scho­ckie­ren­den Para­do­xa und über­stei­ger­ten Zuspit­zun­gen berüch­tigt ist. Gera­de dadurch gelangt er aber oft zu blitz­ar­ti­gen Erkennt­nis­sen, die den bien-pens­ants ver­wehrt sind. Die Dis­kus­si­on um die “Sin­gu­la­ri­tät” hat einen Janus­kopf und steckt von Beginn an in einem Sumpf von Ambi­va­len­zen, die sich “nicht auf­lö­sen lassen”.

Dar­um zieht sie auch mit Vor­lie­be Geis­ter in ihren Bann­kreis, die ein star­kes, oft fana­ti­sches Bedürf­nis nach einer in Schwarz und Weiß geteil­ten Welt haben, ein Bedürf­nis, das zu den pro­ble­ma­ti­sche­ren Zonen der deut­schen See­le gehört.

Martin Lichtmesz

Martin Lichtmesz ist freier Publizist und Übersetzer.

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