verlesen, er ist in Gänze auf der Internetseite dradio.de nachlesbar.
Ich empfehle dem ein oder anderen dringend die Lektüre. Der auch Konservative und Rechte hin und wieder ergreifende Drang zur “Mitte” wird von unverdächtiger Seite als das entlarvt, was er ist: die Verdrängung des Politischen, eine gefährliche Konsens-Sucht, ein Schwächeanfall. Im einzelnen:
1. Die Verdrängung des Politischen
Lenk zitiert den französischen Politikwissenschaftler Maurice Duverge, der von einem “natürlichen Phänomen des Dualismus der Parteien” spricht. Die Mitte als Ort einer Synthese sei nur eine theoretische Möglichkeit. Politik aber sei Handeln, und vor jeder Handlung stehe eine Wahl, das heißt: eine Entscheidung. Das vollständige Zitat von Duverge:
Jede Politik bedingt eine Alternative zwischen zwei Lösungen, denn die vermittelnden Lösungen lehnen sich an die eine oder andere an. Das besagt nichts anderes, als dass es in der Politik keine Mitte gibt. Es mag wohl eine Partei der Mitte geben, aber keine Richtung der Mitte. Mitte nennt man den geometrischen Ort, an dem sich die gemäßigten der entgegen gesetzten Richtungen sammeln … Jede Mitte ist in sich selbst gespalten – die linke und die rechte Mitte, denn sie selbst ist nur die künstliche Zusammenfassung des rechten Flügels der Linken und des linken Flügel der Rechten. Es ist die Bestimmung der Mitte, zerteilt, hin und her geworfen, aufgelöst zu werden … Es ist der Traum der Mitte, die Synthese entgegen gesetzter Bestrebungen darzustellen, aber die Synthese ist nur eine theoretische Möglichkeit. Das Handeln ist ein Wählen, und Politik ist Handeln.
Das bedeutet nichts anderes, als daß in der Politik auch “die Mitte” letztlich ein politischer, also polemischer Begriff ist: ein verschleiernder Begriff zwar, aber einer, in dessen Namen nicht weniger gerungen wird als im Namen von rechts oder links.
2. gefährliche Konsens-Sucht
Kurt Lenk überläßt der Politikprofessorin Chantal Mouffe (Westminster-Universität) den ganzen Schlußteil seines Essays. Er zitiert geradezu schmittianische Stellen aus ihrem Buch Das demokratische Paradox (2008), in dem Mouffe durch die Konsens-Sucht die Demokratie gefährdet sieht. Zitat Mouffe:
Die Besonderheit der modernen Demokratie liegt in der Anerkennung und Legitimierung des Konflikts und in der Weigerung, ihn durch Auferlegung einer autoritären Ordnung zu unterdrücken … Daher sollten wir uns vor der heutigen Tendenz hüten, eine Politik des Konsenses zu glorifizieren, die sich rühmt, die angeblich altmodische Politik der Gegnerschaft von rechts und links ersetzt zu haben.
Das ist unmittelbar einleuchtend, und beinahe schon so etwas wie eine Binsenweisheit: Wer zur Mitte drängt und sie als erreichbares Ziel beschreibt, wird jeden, der auf “rechts” und “links” beharrt, mehr und mehr für anstrengend, unvernünftig, gefährlich, uneinsichtig, unzurechnungsfähig halten. Er stellt eine Norm auf und wird über kurz oder lang nicht mehr politisch, sondern moralisch argumentieren. Kurt Lenk:
Verdrängt man das Politische, so sucht es sich einen anderen Schauplatz. Abgedrängt durch einen vermeintlich auf dem Weg des Dialogs hergestellten Konsens sucht sich das unaufgearbeitete Konfliktpotenzial einen Ausweg in mitunter nicht mehr steuerbaren Situationen, eine Dialektik, die eben das befördern hilft, was vermieden werden sollte: Dann erst werden Gegner zu Feinden, deren Konflikte womöglich nur mehr durch Anwendung von Gewalt ausgetragen werden können.
3. Schwächeanfall
Nichts läßt sich durch Verschieben aus der Welt schaffen. Wer auf “Ruhe durch Entschärfung” hofft und durch harmlose Begriffe Konsens- und Anschlußfähigkeit herstellen will, verlagert den politischen Kampf nur und zerstört dabei auch noch seine mögliche Klarheit. Klarheit und Offensichtlichkeit sind jedoch die Grundvoraussetzung für die Hegung eines Konflikts. So gesehen sind der Plan von der Abschaffung der politischen Verortungen “rechts” und “links” und die Hoffnung auf Konfliktlosigkeit ein gefährlicher Schwächeanfall.
Vulture
Fragen eines Nicht-Geisteswissenschaftlers:
I. Wenn "die Mitte" ein politischer, polemischer Begriff ist, gegen wen richtet er sich? Gegen jeden der eine Position "hart" besetzt und hält/verteidigt? Was sagt das über die Seite, die diesen Begriff als politischen Begriff benutzt? Hat sie keine Position? Per se muss sie doch eine Position haben, sonst ist sie nicht politisch, oder? Wo liegt die?
II. -Verlagerung des politischen Kampfes- Wohin? Auf eine Ebene mit schwächeren Gegnern? Kann man mittels der Vermoralisierung und Verschleierung eines Konfliktes langfristig das eigene Lager vergrößern, ein unangreifbares, im Kern hochpolitisches Bündnis schaffen? Es wird versucht, oder? Mir gefällt der Begriff "Verlagerung" nicht so recht. Er ist abstrakt, theoretisch. Das beschäftigt mich jetzt. Ist es nicht auf der einen Seite ein Aufstauen, ein Kurz-halten solange es die Kräfteverhältnisse noch erlauben, technisch ein Vorspannen? Auf der anderen Seite ein temporäres Binden von potentiellen Gegnern als "Pseudo-Verbündete" (Ruhigstellung)? In allem jedenfalls ein abenteuerliches durchlavieren.
III. Ich kann mir nicht vorstellen, dass dieser Begriff "Mitte" aus tatsächlicher Harmlosigkeit der Protagonisten verwendet wird. Er soll diese Harmlosigkeit aber projezieren. Womit ich wieder bei I. bin: Wer und welches Motiv, damit welche Position steckt hinter dieser Projektion "Mitte"?
Guten Abend