Er hatte gefragt, ob ich für die Zeitung nicht das Buch Freiwild von Ingeborg Jacobs rezensieren wollte.
Es war so: Für die Sezession hatte ich im Herbst über den Kinofilm Anonyma geschrieben. Das themenähnliche Freiwild-Buch, das in einigen Passagen auch den Bericht der Berliner „Anonyma” aufgreift, war da noch nicht erschienen, ich konnte aber die Druckfahnen lesen. Eigentlich wollte ich die Blätter kurz durchgehen, ein paar Zitate herausgreifen, nach Zahlen, Daten, Orten suchen. Der schnelle Durchgang erwies sich als unmöglich. Ich begann am frühen Abend mit der Lektüre und hatte gegen Mitternacht die – doch zahlreichen – Seiten durch. Stift und Block waren zur Hand damals, doch der Schreibblock bleib leer.
Mir blieb, in meiner Filmkritik auf die ungeheure Wucht hinzuweisen, auf den Schlag, den das Freiwild-Buch dem Leser versetzt. Die Worte fehlten nach dieser Erstlektüre.
Nun also noch einmal. Jacobs, Jahrgang 1957 und eine erfahrene Journalistin, macht sich keinerlei Mühe, das Thema in irgendeiner Weise revisionistisch durchzuackern. „Die Wehrmacht hatte sich in der Sowjetunion nicht ritterlich gezeigt, wie sollten sie (die Rote Armee) da nachsichtig mit der deutschen Zivilbevölkerung umgehen?”, schreibt sie. Geschichtsphilosophie betreibt sie nicht, sie läßt schlicht einige der Frauen – und zwar nicht anonym – zu Wort kommen, die 1945 in Berlin, Schlesien, Ostpreußen und Mecklenburg überlebt haben. Nichts daran ist reißerisch – nicht mal larmoyant. Nicht mal die wenigen Photos im Innenteil sind es. Voher- nachher; fröhlich – gefaßt. Und doch wächst das Grauen, Seite für Seite.
Es dürfte ein Spätwintertag gewesen sein wie heute, vielleicht noch nominelle Faschingszeit, als dieser Mann in die Küche trat, mit einem Schafskopf unterm Arm. Es herrschte Hunger, und der Mann, ein Rotarmist, bot ihn der Tante von Leonie Bauditz an.
“Tante Martha wollte den Soldaten samt ‘Geschenk’ aus der Türe hinauswerfen, doch der nahm sie sich und warf sie aufs Bett. Wir Kinder standen drumherum und mußten uns das Drama angucken, während Winfried (der kleine Bruder) wieder Hilfe holte.” Der Offizier riß den Soldaten, der immer noch auf der Tante lag, herunter. “Die kleinen Kinder wußten gar nicht, was passiert war. Sie dachten, der Mann pinkelte.” Den Schafskopf ließ der Soldat da, aus der leckeren Suppe wurde allerdings nichts: Als das Wasser aufkochte, krochen dicke, graue Würmer aus dem Kopf.
Man hat so etwas gewußt, klar, ungefähr zumindest: Zahlen, Fakten. Aber nicht alles, nicht das Ganze, nicht, daß sich 1945 hunderte Frauen mit um den Leib gebundenen Ziegelsteinen im Glambecker See (Mecklenburg) ertränkten, daß, obwohl 90% der geschwängerten Frauen abgetrieben haben, über 2000 „Russenkinder” allein in Berlin im Folgewinter zur Welt gebracht wurden. Vor allem kennt man nicht die Stimmen derer, die dies überlebt haben, benennt nicht die Schicksale der Frauen, die bis heute traumatisiert sind von dem, was ihnen damals zustieß.
Man schlägt dieses Buch auf, um noch mal reinzuschauen, um schreiben zu können darüber. Und man kann nicht aufhören, man muß weiterlesen. Das ist die rechte Lektüre für einen Aschermittwoch, ja.
Nein, „gern” kann man Freiwild kaum lesen, auch nicht drüber schreiben, weil die Worte einem schal werden. Dieses Buch muß lesen, wer redlich über den Krieg und seine Opfer sprechen will.