Der 7. April war 1919 der Tag der Ausrufung der Münchner Räterepublik, der sich Landauer an exponierter Stelle anschloß. Im Zuge deren Niederschlagung im Mai desselben Jahres wurde Landauer von Soldaten der Reichswehr ermordet. Der folgende Text ist ein stark gekürzter Auszug aus der Autobiographie Hans Blühers, Werke und Tage (1953).
Der junge Blüher, umstrittener Chronist und Deuter des “Wandervogels”, hatte Landauer 1915, während seiner “linken” Phase im Umkreis der Zeitschrift “Der Aufbruch”, kennengelernt. Die knapp dreißig Seiten, die Blüher Landauer widmet, gehören zu den fesselndsten und einprägsamsten Passagen des Buches. Hier trafen harte Gegensätze ebenso wie geistiger und menschlicher Respekt aufeinander: der Anarchist auf den Preußen, der (latente) äußerste Rechte auf den äußersten Linken, der Parteigänger des “Vaterlands” auf den Parteigänger der “Menschheit”, der (spätere) Antisemit auf den Juden. Blühers Erinnerungen an Landauer gerieten trotz der weltanschaulichen Distanz zur einfühlsamen Hommage, aber auch zur scharfen Analyse und Kritik eines Typus der “ewigen Linken”, wie man ihm auch heute noch begegnen mag, freilich in abgeschwächter Form und ohne die geistige Größe und Ausstrahlung eines Gustav Landauer.
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Meine Beziehungen zu Gustav Landauer, die sich unversehens fast zu einer Freundschaft umgewandelt hätten, sind ein guter Beweis dafür, daß das Geistige, wenn es nur rein gepflegt wird, imstande ist, auch die äußersten Gegensätze zu überbrücken. Der Lage gemäß, in der sich mein Vaterland während des ersten Weltkriegs befand, konnte ich Landauer nach allem, was er dachte, sprach und tat, nur als einen Hochverräter ansehen, und es wäre fast meine Pflicht gewesen, ihn anzuzeigen. Doch so etwas tut man eben nicht. Umgekehrt hätte Landauer in den kurzen Tagen, da er an der Münchener Machtergreifung teilhatte, mich erschießen lassen müssen. Doch das hatte er auch nicht getan.
Ich lernte Gustav Landauer in jenem Siedlungsheim kennen, von dem ich schon sprach; dorthin zog es ihn, weil die dort vertretene Auffassung von Sozialismus, die der englischen Fabian Society nahestand, auch die seinige war; er stand im härtesten Gegensatz zum politischen Marxismus, den er leidenschaftlich bekämpfte. Landauers Erscheinung machte auf mich jungen Menschen von siebenundzwanzig Jahren einen erhebenden Eindruck; es ging Integrität von ihm aus. Und es ist einfach falsch, wenn er in seinem am Weihnachtsabend 1915 an Ernst Joel geschriebenen Brief über mich schreibt, er, Landauer, „stoße mich ab“. Das Gegenteil war der Fall. Er ist der einzige Hebräer, dem ich es glaube, wenn er schreibt, er habe nicht die mindeste Anlage, „die Freude an meinem Judentum auch nur einen einzigen Tag zu vergessen“. Diese Freude war in der Tat so ansteckend, daß ich ihm einmal sagte, er wirke auf mich wie ein reiner Arier. Halb scherzend antwortete er: „Aber hören Sie mal…! Das ist ja beinahe eine Beleidigung!“ Damit wollte er nichts gegen die arische Rasse sagen, denn dieser Begriff war damals noch nicht korrumpiert.
Dabei konnte es in der politischen Ebene, die ich immer streng eingehalten habe, keine größeren Gegensätze geben als Landauer und mich. Er nannte mich öffentlich in Reden den „famosen Norddeutschen“ – ich aber nannte mich einen Preußen, woran man allein die große Kluft, die zwischen uns war, erkennen kann. Wenn Landauer Karl Liebknecht den einzigen nannte, der „in den Kriegsjahren dem deutschen Namen Achtung verschaffte“ – was für eine politische Groteske! – so war derselbe Mann für mich nichts weiter als ein Hochverräter, der an den Galgen gehörte. Das lag daran, daß für mich „Staat“ (immer als Preußen gedacht) konstitutives Element meines Charakters ist, und für ihn nicht. Er leugnete den Staat überhaupt und nannte sich einen Anarchisten.
„Allerdings halte ich Anarchismus für das gemäßeste Wort für meine Lebensanschauung“, schrieb er an Paul Eltzbacher. „Auch habe ich nicht die anarchistische Zukunftsgesellschaft über Bord geworfen, sondern nur den Glauben, daß sie mit den jetzt lebenden Menschenmassen in irgend absehbarer Zeit erreicht wird. Dagegen glaube ich an ihre Vernünftigkeit und an ihre Realisierbarkeit unter nur einigermaßen einsichtigen und gutwilligen Menschen. Allenfalls glaube ich an kleinere anarchistische Siedlungen, die später vielleicht von den Nicht-Anarchisten in Ruhe gelassen werden.“
In den letzten Worten spricht sich schon theoretisch die ganze Haltlosigkeit des Anarchismus aus, denn gerade das, daß die späteren anarchistischen Siedlungen „vielleicht“ (!) in Ruhe gelassen werden, entbehrt bei der metaphysisch gegebenen Natur des Menschengeschlechts jeder Begründung. Die freie Herrscherleidenschaft des Menschen, die unbezähmbar ist, schiebt hier einen Riegel vor. Dafür wird Landauer selbst das beste Beispiel geben. Denn wenn wir ihn später in seiner Eigenschaft als Minister für Volksaufklärung in der Münchner Räterepublik am Werke sehen, wo er also selbst an der Macht war, da stoßen wir sofort auf dieses Herrscher-Pathos. „Ich würde“, so schreibt er am 15. November 1918 vorausbauend an Martin Buber, „keinerlei Gewalttat scheuen, um die alte Presse zu vernichten“ – „Viel zuviel Herrenwald ist da, er müßte sofort urbar gemacht und aufgeteilt werden“ (an Vogl, 23.11.18). Hier klingt das bei den alten Revolutionären beliebteste Lockmittel für den Janhagel an, das immer zieht – entschädigungslose Enteignung! Und an seinen Schwager Hugo Landauer schreibt er am 27.11.18: „Es ist möglich, daß erst Industrieruinen und Arbeitslosigkeit von Hundertausenden kommen müssen, ehe die Zeit für unsere Ideen reif ist. Das große Hindernis sind die gelernten Arbeiter, die nicht daran denken, ihren Beruf zu wechseln. Da sie nicht hören wollen, werden sie fühlen müssen.“ Eine furchtbare und charakteristische Drohung!
Kein Hindernis sind demzufolge der geistige und proletarische Janhagel, auf den ja auch sein Feind Karl Marx allein seine Hoffnung setzte! „Zur Zeit kann man nur Münchner Blätter lesen, weil wir sie zwingen, Schlechtes zu lassen und Gutes zu drucken.“ „Alle Münchner Zeitungen haben sie (Landauers Gedächtnisrede an Eisners Grab) im Wortlaut bringen müssen“. Und das alles nannte er dann „einen Anfang zur Freiheit der öffentlichen Meinung“ (an seinen stets skeptischen Freund Fritz Mauthner am 5. März 1919).
Aus diesen Stichproben ersieht man deutlich, daß Landauer, wenn seine Machtbefügnisse in der Räterepublik größer gewesen wären, noch ganz andere Töne zur Vergewaltigung seiner Gegner angeschlagen hätte, denn, solange die Welt steht, haben Gewaltherrscher (besonders aber „vom Volk legitimierte“) ihre eigene Sache stets für das „Gute“ erklärt, um dessentwillen – mit mehr oder weniger blutenden Herzen – man jede Grausamkeit begehen dürfe, die allemal als Notwehr hingestellt wird. Auch Robespierre dachte so, und man glaubt diesen zu hören – was allerdings nur feinere Ohren können -, wenn Landauer als Ziel der Revolution „das Stille und Fromme der neuen Menschheit“ nennt.
Es ist also klar, und die Probe aufs Exempel beweist es auch bei diesem mildesten aller Anarchisten, der „niemandem weh tun“ will: Anarchismus heißt immer, gegen die Herrschaft des gerade gegenwärtigen Herrschaftsgefüges zu sein, um eben diese Herrschaft selbst auszuüben. Damit aber ist Sinn und Bedeutung des Wortes ad absurdum geführt und politisch entlarvt. Nach Landauers Theorie besteht Herrschaft und Zwang, also Staat, nur dadurch, daß die Menschen den inneren Drang haben, beherrscht zu werden. Der Franzose Etienne de la Boétie nennt dieses Phänomen la servitude volontaire. Schüttelt man nun durch einen gleichfalls inneren Akt der Befreiung diesen atavistischen Drang ab, so haben Herrschaft und Staat ihren Boden in der Menschenseele verloren, und diese soll dann bereits frei wie die Anarchisten sein. Schön und gut! Aber diesen Akt begeht die Menschheit nicht. Er bleibt damit ein privater Vollzug einzelner und wird niemals zum Politikum. Solch ein einzelner aber steht, wie wir das bei Landauer erfahren werden, nach Ablauf seiner pseudopolitischen Laufbahn als ein Vereinsamter und von der Menschheit Enttäuschter da.
Wie aber war nun Landauers Sozialismus gebaut? Marx hatte den Geist als Produkt der Materie verstanden; wenn er heute noch lebte, würde er sagen: ein überflüssiges Produkt. Aber dieser Gedanke von der „denkenden Materie“ ist natürlich Metaphysik grobschlächtigster Art. Landauer kehrte das Verhältnis um und sagte: erst war der Geist und dann die Materie, wobei die Materie gleich Wirtschaft ist. Nur in dieser Verengung ist der Gedanke ja original. Er ist nicht Metaphysik, denn wenn jemand ein Haus bauen will, so muß er es vorerst im Kopfe haben. Nun aber kommt Landauers ganz spezifische und originelle Auffassung, die man sich merken muß. Das, sagt er, was wir die Genien der Menschheit nennen, wobei Landauer nur Dichter und Denker ins Auge faßte, nicht Staatsmänner, ist „ertötetes Volk“, das sich gewissermaßen, unerlaubterweise, in den großen Individuen angesammelt hat. Die Freigabe, Preisgabe, Hergabe dieser privilegierten Stellung zugunsten der geistig dafür ausgepowerten Menge und die Verwendung dieser frei werdenden Kraft in erster Linie zur Herstellung einer gerechten und gleichmäßig ertragreichen Wirtschaft – wobei dann jede staatliche „Regierung“ überflüssig werde -, diese umbruchweise geschehende Freigabe ist „Die Revolution“.
Als ich Landauer einmal fragte, ob er denn in der Geschichte der Revolutionen Szenen kenne, in denen der Geist sich, wie er es meinte, aus der privilegierten Situation des Genius her auf das Volk, dem er eigentlich gehöre, zurückergossen habe, und zwar so, daß es vorhielt, und auch so, daß dabei kein Blut vergossen wurde – denn das alles gehörte zu seinem Bilde von einer Revolution – da antwortete er mir: ja, in der Geschichte der Französischen Revolution, und zwar in jenem Augenblick, als zum ersten Male die Marsellaise erklang, die sich noch heute hält: hier habe der Dichter „seinen“ Geist -propriété c’est le vol – dem Volke zurückerstattet und es umgewandelt, erneuert. „Gut!“ sagte ich, „das verstehe ich wohl und will es gelten lassen. Aber diese Revolution hat sich, als sie siegte und damit sie siegen konnte, sofort bewaffnet. Und wie, mit welcher Leidenschaft! Den Salpeter haben sie mit ihren Nägeln aus den Kellermauern gekratzt für ihre Angriffskriege! Diese wurden von Robespierre nach innen, von Napoleon nach außen geführt!“ – Ich weiß nicht mehr, was Landauer geantwortet hat. Wenn aber diese Antwort überzeugend gewesen wäre, so wäre ich Sozialist geworden.
Im Februar 1918 traf ihn der furchtbarste Schlag seines Lebens. Über Deutschland war die Grippeepidemie hereingebrochen, der viele Vortreffliche zum Opfer fielen. Auch Hedwig Lachmann wurde von ihr erfaßt und starb. Bei der Innigkeit dieser wahrhaft mustergültigen Ehe, die ihn mit der Dichterin verbannt, lag der Gedanke für ihn nahe, ihr freiwillig in den Tod zu folgen. Doch das wies er ab, nicht nur der Kinder wegen, sondern vor allem um des geschichtlichen Auftrags willen, den er zu haben glaubte. Dieser lautete: nach der Zerstörung des Bismarckischen Reiches mit Hilfe der äußeren Feinde an der Aufrichtung eines „Neuen Deutschland“ auf anarcho-sozialistischer Basis und mit einer durch eine verdiente Niederlage und Reue geläuterten deutschen Menschheit mitzuwirken.
Das Sterbezimmer seiner Frau, um deren Leben und Tod er gemeinsam mit ihr eine Woche gerungen hatte, scheint ihn festgehalten zu haben, denn er verlebte dieses ganze Trauerjahr in Krumbach. Nur in der zweiten Septemberhälfte mußte er fort, um den Umzug zu regeln, denn er wollte “das freche Berlin” für immer verlassen. Er besuchte mich in meiner Charlottenburger Wohnung.
Deutschland stand kurz vor der Kapitulation, und in München hatte es bedenklich zu kriseln begonnen, “hoffnungsvoll” wie Landauer sich ausdrückte. Eigentlich wußten wir beide voneinander nicht, wo wir ganz aktuell, auf heute und morgen gerechnet, politisch standen und wo die Barrikaden lagen, die uns trennten; und wir ließen einander wohl beide in schonungsvollem Dunkel. Daß er sich schließlich in der ausgebrochenen Revolution auf die Seite des Spartakusbundes drängen ließ, habe ich damals nicht vermutet; daß ich auf der Seite der Freikorps stand, das bedurfte für mich keines Nachdenkens. Da hatte schon ein jüdischer Schriftsteller namens Kurt Eisner von sich reden gemacht; er hatte auch an mich geschrieben, in der für ihn selbstverständlichen Annahme, daß ich auf seiner Seite stünde. Merkwürdig doch: die Leute der äußersten Linken nehmen immer an, geistige Menschen meiner Art stünden auf ihrer Seite. Mir ist das öfter so ergangen. Als ich während der Blockade Berlins aufs Rathaus ging, um für mich die Lebensmittelkarte I zu erwirken, brauchte ich nur meinen Namen zu nennen, und sofort fragte der Vorsitzende: “Blüher…? Sind Sie der Verfasser von …?” – und nun kam ein fast lückenloses Verzeichnis meiner Schriften. “Ja”, antwortete ich, und er rief zu dem notierenden Mädchen hinüber: “Selbstverständlich Karte I!” Es war der Kommunist Karl Fischer-Walden, dessen Name hier erwähnt zu werden verdient. Lösen kann ich das Rätsel nicht. Vergleicht man damit die Haltung der äußersten Rechten – zu der ich politisch gehöre -, so kann man nur sagen: non liquet! In dieser Voraussetzung hatte Eisner an mich geschrieben, aber ich lehnte natürlich ab. Nach den Schilderungen Landauers muß er ein Mensch von großer Güte und persönlichem Wohlwollen gewesen sein, aber eben natürlich gänzlich unbrauchbar für den Platz, auf den das Schicksal – oder er selbst – ihn später stellen sollte.
Während des Gesprächs nun vom Schaukelstuhle her entwickelte Landauer den Plan, nach München zu gehen, “Bayer zu werden” und sich, wenn es losginge, der Revolution zur Verfügung zu stellen. “Tun Sie das nicht, Landauer!” sagte ich dringend, “Sie sind ein geistiger Mensch und haben dort nichts zu suchen!” – “Eben gerade deshalb muß ich hin! Hier gibt es für mich kein Zaudern.” – “Sie werden unter die Räder kommen! Die Revolution frißt ihre eigenen Kinder!” – “Lassen Sie sie fressen! Aber ich kann nicht zusehen, wie das Volk von der Reaktion auf der einen und vom Spartakusbunde auf der anderen Seite zerrieben wird. Der Geist muß siegen!” Ich schwieg. Hier war nichts mehr zu raten, und ich lenkte ab, indem ich mich nach dem Ergehen von Martin Buber erkundigte. “Der kommt auch!” – So nahm das Schicksal seinen Lauf.
Der Kaiser dankte ab und beendete damit offiziell die deutsche Geschichte, ein wirres, in Etappen abrutschendes Volk zurücklassend. In München schwang sich Eisner zum Nachfolger des abgedankten Prinzregenten auf, und das Narrenspiel begann. Landauer saß in Krumbach am Grabe seiner Frau. Er hielt den anbrechenden Revolutionskarneval für “Flammenzeichen” und schrieb mir, er sei auf dem Sprunge in jene Stadt, in der möglicherweise die “Erneuerung der Menschheit” zustande kommen würde. Ich schrieb ihm, er solle die Finger davon lassen, er sei ein geistiger Mensch und habe mit politischen Dingen nichts zu schaffen. Ich sei – so endigte ich meine Postkarte – “königstreu und konservativ”. Landauer lehnte ab; er müsse nach München, um dem Volke den Geist zu bringen, “nennen Sie sich im übrigen königstreu und konservativ – ich nenne mich, wie immer, Ihren Gustav Landauer”, – das war das letzte Lebenszeichen, das ich von ihm erhielt.
Der Rest war München. Nun brachte es der Gang der Ereignisse mit sich, daß auch ich nach München fuhr. Gewisse Teile der Jugendbewegung hatten sich dem Kommunismus angeschlossen, und man vermutete wieder merkwürdigerweise, daß ich das auch getan hätte, weil, einer seltsamen Auffassung nach, der Geist links stehe. Andere wieder glaubten von mir das Gegenteil zu wissen. Nun hatten sich in München damals Teile des zurückströmenden Heeres niedergelassen, teils um zu studieren, teils um litterarischen und politischen Unfug zu treiben. Kurzum, man erwartete, daß ich endgültig Stellung bezöge. Denn eine schwankende Haltung, wie sie etwa der gleichfalls in München weilende Thomas Mann einnahm, der überall, an allem etwas Gutes fand und nicht ungerecht sein wollte – eine solche Haltung erwartete man von mir nicht. Ich habe daher die meinige in einem Vortrag “Deutsches Reich, Judentum und Sozialismus” zu erkennen gegeben und damit die Gemüter orientiert und beruhigt. So ganz unpolitisch war ich also nicht; immerhin aber ist es etwas anderes, ob man sein Vaterland verteidigt oder für verschwommene Menschheitserneuerungen eintritt. Damals sammelte sich um mich die ganze gut aussehende Jugend, meist in Uniform, rassisch und persönlich hervorragend betont, während sich auf der Gegenseite das ganze langhaarige, schlechtfrisierte Gesindel aufstaute, Litteratenvolk mit tiefen Menschheitsblicken, der Typus des damals herumlungernden freideutschen Abfallprodukts: solche Leute etwa wie Erich Mühsam, Landauers Duzfreund. Darauf aber stützte sich Landauers Hoffnung auf Erneuerung der Menschheit.
Ich vermied es, ihm zu begegnen, traf ihn nur, wie er zusammen mit Martin Buber in Pelzjoppe und hoher Pelzmütze auf der Strasse spazierenging; er sah aus wie der alte Kropotkin leibhaftig. Landauers Stellung zwischen den Parteien war nun eine wesentlich schwierigere als die meine. Er hatte erstens Feinde und zweitens Gegner. Mit beiden mußte er, koste es, was es wolle, fertig werden. Der Feind war “das freche Berlin”. Dort herrschte die Regierung Ebert-Scheidemann, die den preußischen Geist übernommen hatte und die entschlossen war, jeden Separatismus mit Waffengewalt zu unterdrücken. Man muß diese geschichtliche Entscheidung schon der Sozialdemokratie zugute halten, deren musterhaftes Organisationstalent damals das Reich gerettet hat. Denn die Franzosen drohten mit der Mainlinie. Aus dem Munde der Frau Mühsam aber – ihn habe ich nie kennengelernt – erfuhr ich die Parole: “Lieber die Franzosen als die Preußen!” Landauer jedoch betrieb die Auflösung des Deutschen Reiches in möglichst viele anarcho-sozialistische “Gemeinden”. Indessen der Feind Preußen war – vorläufig – weit vom Schuß. Anders stand es mit den bolschewistischen Emissären, die im Auftrage Moskaus die Räterepublik vorbereiteten und errichten wollten. Es waren die beiden Juden Dr. Levien und Leviné. Mit diesen fühlte er sich innerlich verwandt; hatten sie doch gemeinsam mit ihm das Thema der “Erneuerung der Menschheit”. Nur waren die Mittel verschieden, und in diesem Falle bedeutete das doch Verschiedenheit des Zieles und vor allem des Charakters. Landauer hat das betrübliche Verdienst, in der Beurteilung der Bolschewisten diese als “Kinder” und “betrogene Ehrliche” dargestellt zu haben. Die Leute also, die kurze Zeit darauf den berüchtigten Geiselmord inszenieren sollten!
Irgendwann muß es ihm dann doch wohl angekommen sein, daß meine Warnung richtig war, denn seine Briefe wurden immer verzweifelter. Eisner, mit dem er eng befreundet war, wurde ermordet. Die Hilflosigkeit wird immer größer. “Die Revolution bei uns war für ein paar Stunden und Tage groß und wirklich”, schreibt er an Margarete Sußmann. “Schon bin ich fast so einsam wie vor der Revolution; am Werke sehe ich nur hilflose Verkehrtheit und Gemeinheit” (an G. Springer). Eben! An Nettlau schreibt er von seinem “bittren Gram über den Verlauf dieses Revolutionsversuches und die Erbärmlichkeit der Deutschen.” Den Höhepunkt aber der Münchener Revolution schildert er noch seiner Tochter Gundula: “Geliebtes Kind! … Über Eisners schöne Ansprache hast Du vielleicht einen Bericht gelesen. Er stand da wie eine Gestalt von Barlach: aus ganz Irdischem, wie Gefesseltem rang sich die Begeisterung und der Aufschwung los. Er schloß sehr schön an die Trompetensignale aus der Leonoren-Ouvertüre an, die in das Dunkel der Verzweiflung hinein die Freiheit verkünden. Von dem Volk, das im Dunkeln wandelt und ein großes Licht sieht, sang auch die Arie von Händel. Das Wundervollste war, wie am Schluß das ganze große Haus den Gesang der Völker mitsang. Allmählich standen alle auf, und das Haus bebte, als wollte es sich nach oben öffnen. Die feierliche Melodie des Niederländischen Dankgebetes liegt zugrunde, und was beim Lesen der Worte unrhythmisch klingt, kommt in der Musik ganz natürlich und hoheitsvoll heraus.” Aber dann wars aus. Mit einem Worte: Karneval.
Die wahre Natur seiner bolschewistischen Freunde hat Landauer noch vor dem Zusammenbruch der Harlekinade erkannt. Seine volle Verzweiflung aber über das, was Politik ist und was zu begreifen er so völlig unfähig war, drückt sich in einigen Worten aus, die er an Fritz Mauthner schon am 14. Oktober 1918 gerichtet hatte: “Helfen könnte jetzt nur noch ein über die Welt klingendes, strahlendes Wort der Menschheits-Reue und des Menschheits-Vorsatzes, ein Wort der Religion, das von uns kommen müßte… Denn wahrhafte Politik, die Politik, die auf Laotse und Buddha und Jesus zurückgeht, ist nicht die Kunst des Möglichen, sondern des ‘Unmöglichen’…” Daß er mit dieser Auffassung scheitern mußte, liegt auf der Hand.
Wie man heute weiß, haben nicht die liebevollen Worte Gustav Landauers die Levien oder Leviné samt ihrem Anhang zur Räson gebracht, sondern die in München einrückende Reichswehr unter General von Epp. Levien gelang die Flucht, Leviné wurde verhaftet. Man machte ihm den Prozeß, und er wurde wegen Hochverrates und Mordes standrechtlich erschossen. Ich kann mich auch irren, wem die Flucht gelang und wer erschossen wurde; einer von beiden wird es ja wissen. Beim Abtransport der Gefangenen wurde Landauer, schon Gefangener und unter dem Schutze der Gefangenschaft stehend, von wütend erregten Soldaten ermordet, nachdem ein Freiherr von Gagern ihn mit der umgekehrten Reitpeitsche geschlagen und damit seinen guten Namen für immer geschändet hatte. Ich erhielt die schauerliche Nachricht, an die man in Berlin lange Zeit nicht glauben wollte, weil deutsche Soldaten damals – ich meine damit, vor Hitler und seiner Hakenkreuz-Ethik – im Rufe standen, dergleichen nicht zu tun. Aber ein Telephongespräch mit Frau Auguste Hauschner belehrte mich des Schlimmeren. Meine eigenen Worte klangen mir im Ohr: Landauer, gehen sie nicht nach München; Sie haben dort nichts zu suchen!-